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Zusammenfassung

„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten Wie ist es zu diesem Wandel gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihn rechtmäßig machen? Ich glaube, dass ich dieses Problem lösen kann" (LI; 351; 61). Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist - wie Hobbes' Leviathan, wie Lockes Abhandlungen über die Regierung - der Behandlung des zentralen Problems der neuzeitlichen politischen Philosophie gewidmet, der Begründung politischer Herrschaft, der Rechtfertigung des Staates. Und wie bereits der Titel kenntlich macht, teilt er auch die rechtfertigungstheoretische Grundüberzeugung der Moderne, dass weder Natur noch Geschichte, noch Gott Herrschaft zu begründen vermögen, sondern nur menschliche Einwilligung Herrschaftsberechtigung verleihen kann. Nur dann gibt es einen legitimen Staat, wenn dieser sich auf einen Gesellschaftsvertrag gründet. Der Kern dieses voluntaristischen Legitimationskonzepts ist die Idee der Autorisierung und Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung aus eigenem Interesse unter der Rationalitätsbedingung strikter Wechselseitigkeit.
Aber nicht jede Vereinbarung begründet eine legitime Ordnung. Auch in der Tradition der Vertragstheorie gibt es unzureichende Lösungen. Zwar gebührt der kontraktualistischen Rechtfertigungsmethode ein struktureller legitimationstheoretischer Vorzug gegenüber der kurzschlüssigen Machttheorie, jedoch droht dieser verspielt zu werden, wenn die vertraglichen Vereinbarungen ihrerseits rechtlich und sittlich unannehmbar sind. Es kommt also alles darauf an, in den Gedankenexperimenten des Kontrak- tualismus rechtlich zulässige Vereinbarungen von rechtlich unzulässigen Vereinbarungen zu unterscheiden. Die von seinen kontraktualistischen Vorgängern vorgeschlagenen Vertragsmodelle lehnt Rousseau allesamt als legitimationstheoretisch unzureichend ab. Seine Kritik gilt insbesondere dem kontraktualistischen Absolutismus, wie er in der Doppelvertragslehre von Grotius und Pufendorf und in der Staatsphilosophie von Thomas . Hobbes entwickelt wird.
j Im Zentrum seiner Kritik steht ein Freiheitsverständnis, das die Freiheit j zur Wesensbestimmung des Menschen erklärt und damit in den Rang eines | absoluten rechtfertigungstheoretischen Kriteriums erhebt. Nur das kann I als gerechtfertigt gelten, was sich aus dem Begriff der Freiheit rechtfertigen lässt. Freiheit wird zur Quelle, zum Maß und zum Zweck des Rechts und der politischen Ordnung, und Verträge, die nicht Freiheit zum Inhalt ha-

ben, die nicht Freiheitssicherungsverträge sind, sind illegitim. Freilich umfasst das Freiheitsrecht der Menschen in den Augen Rousseaus nicht nur die Freiheit von der nötigenden Willkür anderer, nicht nur allgemeine Handlungsfreiheit, es umfasst auch einen unveräußerlichen und undeligier- baren Anspruch auf materiale Selbstbestimmung, auf Selbstherrschaft. Und diese Autonomie-ethische Bedeutungsdimension des Freiheitsrechts bereitet der Legitimationstheorie besondere Schwierigkeiten, fordert sie doch die Gründung einer politischen, gesetzgebenden und gewalthabenden Einheit, deren Mitglieder nach wie vor frei sind und ihre eigenen Herren bleiben, sodass sich ihr rechtlicher Status durch den Übergang vom status naturalis in den status civilis nicht im mindesten ändert. Es ist ersichtlich, dass in einer Herrschaftsordnung jedes Mitglied nur dann nach wie vor sich nur selbst gehorcht, wenn es auch nach wie vor über sich selbst herrscht, wenn die Gesetze, die Gehorsam verlangen, selbstgegebene Gesetze sind. Aber kann es unter der Voraussetzung eines derart radikalen, Autonomie-ethischen Freiheitskonzepts überhaupt legitime Herrschaft geben? Muss nicht jeder Versuch, dieses Legitimationsproblem aufzulösen, in eine ordnungspolitische Paradoxie münden? Wie ist eine gesellschaftsvertragliche Herrschaftserrichtung denkbar, die die materiale Selbstbestimmung der Individuen nicht schmälert?

Die Antwort auf diese Frage gibt der Rousseau'sche Gesellschaftsvertrag. Der Inhalt dieses Vertrages ist die „vollständige Entäußerung eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft". Es mag angesichts der heftigen Polemik Rousseaus gegen den kontraktualistischen Absolutismus überraschen, aber die Vertragslehre des Contrat social vertritt einen ungeschmälerten souveränitätstheoretischen Hobbesianismus. Die Syntax des Rousseau'schen Gesellschaftsvertrags unterscheidet sich nicht von der Syntax des Hobbes'schen Staatsvertrags. In beiden Fällen haben wir es mit einem Entäußerungsvertrag zu tun, in dem die Naturzustandsbewohner einander versprechen, auf alle Freiheit, alles Recht und alle Macht zu verzichten und sich rückhaltlos einer absoluten Gewalt zu unterwerfen. Das Recht, das die Individuen durch dieses vertragliche Versprechen erhalten, ist das Recht auf den absoluten politischen Gehorsam aller anderen. Der Entäußerungsakt ist sowohl bei Hobbes als auch bei Rousseau der Konstitutionsakt der politischen Herrschaft, die Geburtsstunde des Souveräns.

DieBesonderheitdesRousseau'schen^esejJ^ciufUyciUjägsJbe.SldltÄun « darir^das&^Ucin dTc^TjemFriTS^n'äTÜHer Vcrtragsschlicßcndcn selbst die Position des Souveräns j^chtmäßjg^^ bei Hobbes

durch'den Staatsvertrag zwar eine absolute herrschaftsrechtliche Machtposition geschaffen, aber noch kein materialer Souverän eingesetzt wird, da für Hobbes keinerlei notwendige Beziehung zwischen den absoluten


herrschaftsrechtlichen Befugnissen und der materialen Besetzung der Souveränitätsposition besteht, fallen im Gesellschaftsvertrag Rousseaus die Erzeugung der absoluten Herrschaftsposition und deren materiale Besetzung durch die Gemeinschaft der Vertragschließenden selbst notwendig zusammen

Im Rahmen der staatsrechtlichen Chemie des Contrat social kommt dem Entäußerungsakt der Charakter einer Transformation der aggregativen, distributiv-allgemeinen Gemeinschaft der Vertragschließenden in eine kol- I lektiv-allgemeine Willenseinheit zu. Aus dem Individuenaggregat der vie- 5 len einzelnen partikularen Willen wird eine politische Einheit mit einem ' einheitlichen allgemeinen Willen. Populus est rex: Der.RüUSSßäU'SGhß, Ge> sellschaftsvertrag ist das Symbol der politischen Selbstermächtigung des 1 Volkes. Indem er jedem die doppelte Rolle eines gleichberechtigten Herr- / Schaftsteilhabers und eines gleich verpflichteten Herrschaftsunterworfenen Y Vzuteilt, bildet er die rechtliche Form einer herrschaftsrechtlicl^en Selbstor- X!v^z/ganisation der Gesellschaft. i * • .

Die durch den Rousseau'schen Vertrag der alienation totale konstituierte Souveränität hat fünf charakteristische Eigenschaften: sie ist unveräußerlich; sie ist unvertretbar; sie ist unteilbar; sie ist unfehlbar; sie ist absolut. All diese Eigenschaften sind unmittelbare Konsequenzen des Vertrages und daher tautologische Bestimmungen, die nur den begrifflich festgelegten Bedeutungsgehalt der Volkssouveränität entfalten. Der Gesellschaftsvertrag muss selbst zur Verfassung und zur Verlaufsform gesellschaftlichen Lebens werden. Rousseaus Vertrag erlaubt nicht, als gründungsmythologische Figur in eine organisationspolitische Utopie vor der realen geschichtlichen Zeit abgeschoben zu werden, er verlangt gesellschaftsweite Realität und andauernde Präsenz. Er ist selbst das Muster der politischen Organisation der Gesellschaft; keine andere als die volkssouveränitäre Herrschaft kann legitim sein. Die Unveräußerlichkeit des Freiheitsrechts, die paradoxerweise die vollständige Entäußerung der Freiheit an die Gemeinschaft verlangt; um ~zu einer angemessenen politischen Organisationsform zu gelangen, bleibt bestehen und macht sich als Unveräußerlichkeit der Souveränität, als Unreprä^uüerbaikejl des aTIgernemen Willens und als UnVertretbarkeit der HerrschaftsteilhabejbemerlcKar7Genauso wenig wie^as natürliche Individuum, genauso wenig wie "der Mensch seine Selbstbestimmung aufgeben oder sie sich gegen das Linsengericht der Sicherheit oder Bequemlichkeit abhandeln lassen darf, genauso wenig darf der politisierte Mensch, der bürgerliche Herrschaftsteilhaber sich seine politische Freiheit, seine politische Selbstbestimmung abhandeln lassen. Er darf sich weder vertreten noch enteignen lassen. Eine repräsentative Demokratie verletzt die Bedingung politischer Autonomie ebenso sehr wie eine autokratische oder oligarchische Herrschaftsordnung.

Rousseaus politische Philosophie erschöpft sich jedoch nicht in dieser staatsrechtlichen Eindimensionalität. Sie bürdet dem Vertrag zusätzliche Bedeutung auf, die mit den anthropologischen und rationalitätstheoretischen Voraussetzungen und Implikationen der modernen Vertragstheorie nicht vereinbar sind. In Rousseaus mehrdeutigem Kontraktualismus wird das Gesellschaftsvertragskonzept zum Sinnbild einer ethischen Metamorphose, einer Verwandlung der natürlichen Menschen in Gemeinschaftswesen. Und da erst mit dem Erreichen dieser Bestimmung der Mensch bei sich angekommen ist, wird der Vertrag geradezu zu einem Akt der Menschwerdung. Rousseau lässt keinen Zweifel daran, dass mit dem alten Menschen des Naturzustandes keine Gesellschaft und kein Staat zu machen ist. Und da er richtig beobachtet hat, dass in dem Menschenbild des Kontraktualismus das zeitgenössische moderne Individuum porträtiert wird, war ihm ebenfalls klar, dass auch mit seinen Zeitgenossen die von ihm entworfene Vertragsgemeinschaft nicht verwirklicht werden kann. Der Mensch müsrsich ändern, seine Natur muss sich ändern. Das natürlich-instinktive Verhaltensprogramm muss durch eine vernünftige Lebensführung, durch ein verhaltensbestimmendes Gemeinschaftsethos ersetzt werden. Die Alie- nationsklausel des Rousseau'schen Gesellschaftsvertrages hat neben den rechtlich-politischen Konnotationen auch die fremde, das Vertragsparadigma sprengende Bedeutung einer Ethisierung, durch die der natürliche Triebegoismus der Menschen ethisch überformt wird. Und diese Überformung ist tief greifend, kommt einer Verwandlung gleich, in der alle Spuren der ersten Natur ausgelöscht werden. Es ist eine Merkwürdigkeit des Rous- seau'schen Kontraktualismus, dass er den staatsrechtlichen Diskurs der politischen Philosophie der Neuzeit mit dem ethischen Diskurs der republikanischen Tradition vermischt, damit Motivations-, Erziehungs- und Integrationsfragen in die Argumentation einführt, die der auf Extemalisierung aller Koordinationsprobleme ausgerichtete neuzeitliche Kontraktualismus glaubt aus dem Diskurs der politischen Philosophie ausklammern zu können.

Insbesondere von Diskursethikern wird der demokratische Absolutismus Rousseaus gern als Geburtsurkunde des kognitiven Prozeduralismus r angesehen. Doch betont Rousseau immer wieder, dass nicht das Verfahren I die Qualität der Gesetzgebung bestimmt, sondern dass die Tugend der | Teilnehmer über die Qualität der Verfahrensergebnisse bestimmt. Die sich l f im demokratischen Verfahren der Selbstgesetzgebung ausdrückende poli' tische Autonomie wird von Rousseau belehrt, dass Freiheit ihrerseits eine Voraussetzung machen muss, um die ihr angemessene Herrschaftsform verwirklichen zu können, um sich gegen ihre privatistisch-liberale Degeneration zu schützen. Und diese Voraussetzung ist die Tugend. Rousseau wendet sich entschieden gegen die These von der Priorität des Rechts. Der Gerechtigkeit geht das Gute voran, denn Recht ist nur dann richtiges Recht, wenn sich in ihm das kollektive Gute, das Gemeinwohl ausdrückt. Rechtg&cTiutzte Freiheit reicht weder aus, um ein Gemeinwesen zusammenzuhalten, noch ist sie hinreichend, um die Gerechtigkeitsqualität der Gesetze zu sichern. Rousseaus Republikanismus muss sich auf rechtsexterne Faktoren stützen, auf Gemeinsinn, große sozio-ökonomische Homogenität, auf die sozialintegrative Wirkung vormoderner Lebensformen. Eine eingelebte Gemeinwohlorientierung und eine annähernd egalitäre Verteilung gesellschaftlicher Güter sind die Hebamme der volonte generale', sie sollen die modernitätstypischen Individualisierungs- und Pluralisierungs- tendenzen verhindern und die für die Rousseau'sche Republik letalen Dissensrisiken abbauen.

Da mit den Menschen, wie sie sind, die Vertragsrepublik nicht realisierbar ist, versucht Rousseau im zweiten Teil des Contrat social die Bedingungen zu benennen, deren Erfüllung dafür sorgen könnte, dass die Menschen zu dem werden, was sie sein sollten und sein müssten, damit die sich selbst regierende Bürgergemeinschaft gelingt. Der Reigen dieser Verwirklichungsbedingungen der Republik reicht von dem erratischen Gesetzgeber über egalisierende, homogenitätssichernde sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen bis zur Zivilreligion. Die Figur des Gesetzgebers entstammt der republikanischen Tradition. Republikaner sind anthropologische Pessimisten, nichts könnte ihnen ferner liegen, als das Volk zu vergöttlichen. Aus der Menge wird nur dann ein Volk, wenn die Menschen durch einen demiurgischen Menschenbildner, durch einen großen, charismatischen Einzelnen mit einer erhabenen Seele zu Bürgern erzogen werden. Damit dieses Erziehungswerk gelingt, muss der große Erzieher selbst frei von allen menschlichen Schwächen sein. Letztlich ist er eine mythische Figur, die eher das Problem der Nichtrealisierbarkeit einer republikanischen Lebensgemeinschaft unter den Bedingungen der individualistischen und pluralistischen Moderne illustriert als eine praktikable Lösung offeriert. Auch die äußeren Lebensumstände müssen dem Ziel der Verbürgerlichung der Menschen angepasst werden. Da Direktherrschaft nur in überschaubaren geographischen Räumen möglich ist, plädiert Rousseau für Kleinstaatlichkeit, ebenfalls für eine Ökonomie, die keinerlei Luxusproduktion erlaubt und jedes Auseinanderdriften der Gesellschaft verhindert. Zuletzt führt Rousseau noch die Zivilreligion zur Sicherung der sozialen Kohärenz und zur Beförderung des Gemeinsinns ein. Auch damit knüpft er an die republikanische Tradition an, die nie davor zurückgescheut war, die religiöse Empfänglichkeit des Volkes für politische Zwecke zu nutzen.

Im Contrat social begegnet uns eine Theorie, die versucht, mit den begrifflichen Mitteln moderner politischer Selbstverständigung eine politische Lebensform der Vormoderne zu modellieren und dem zeitgenössi- sehen Liberalismus kritisch entgegenzuhalten. Es ist jedoch falsch, Rousseau den Vorwurf der Naivität zu machen. Nicht Konstruktion ist das Ziel der Rousseau'schen politischen Philosophie, sondern Kritik. Rousseau ist der Erfinder der absoluten Kritik, die ihre Vergeblichkeit zum Bürgen ihrer Wahrheit macht. Rousseau wusste durchaus, dass der Republikanis- mus in der Moderne keine Zukunft hat. Er war sich über die Unzeitgemäßheit seiner politischen Philosophie immer im Klaren. Er wusste, dass die Entwicklungsdynamik der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Moderne ihre Verwirklichung nicht zulässt. Ihm blieb nur die Hoffnung, diese Entwicklungsdynamik allenfalls ein wenig abbremsen zu können, die liberale Änderungsgeschwindigkeit durch republikanischen Traditionsschutz verlangsamen zu können.