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IV. Souverän und Regierung

Selbst ein republikanischer Kleinstaat ist so komplex, dass nicht alle politischen Funktionen durch die Bürgerschaft selbst ausgeübt werden können. Die Bürger betätigen sich als Gesetzgeber, sie greifen selbst zu den Waffen, wenn das Vaterland bedroht ist; sie legen auch eigenhändig Straßen und Plätze an, errichten möglicherweise sogar die öffentlichen Gebäude in Eigenarbeit, aber alles andere, insbesondere die Kraft raubende und Zeit konsumierende alltägliche Sicherung des reibungslosen Miteinanders, die Aufrechterhaltung der Ordnung und die kompetente Verwirklichung der Gesetze überlassen sie der Regierung und Verwaltung. Die Regierung ist die Exekutive der Republik, eine „Zwischenkörperschaft (corps intermediate)" (III.l; 396; 118), die Souverän und Staat miteinander verknüpft, indem sie dem allgemeinen Bürgerwillen in der Gesellschaft der Bürger selbst Geltung verschafft. Regierung, Verwaltung und Justiz sind die Organe, durch die sich die volonte generale in Raum und Zeit verwirklicht. Sie sind die Verkörperung des Gemeinwillens, der wie jeder Individualwille physischer Unterstützung bedarf, damit seine Absichten und Vorstellungen Tat werden. „Jede freie Tat hat zwei Ursachen, die zu ihrem Zustandekommen Zusammenwirken: eine moralische, nämlich den Willen, der die Tat auslöst, und eine physische, die Kraft, die sie ausführt" (III.l; 395; 117).
Liegt die Regierungsleitung in den Händen eines Einzelnen, dann spricht Rousseau von „Fürst"; liegt die Regierungsverantwortung in den Händen einer Körperschaft, dann gebraucht Rousseau die - sicherlich nicht glückliche - Bezeichnung „Souveränität". Denn Souveränität besitzt natürlich auch der Souverän, aber die Regierung ist ja gerade nicht der Souverän. Sie ist Vollzugsgewalt des Souveräns, der die Grenzen der (Re- gierungs-)Souveränität nach Belieben bestimmen kann. Nach Meinung der pufendorfianischen Naturrechtsjuristen unterwirft sich das Volk dem Fürsten im Rahmen eines pactum subjectionis. Bei Rousseau ist der Fürst nur noch der oberste Angestellte der Bürgervereinigung. Im legitimationstheoretischen Kontext des Contrat social wird er seines Herrschaftsrechts beraubt; er ist nur noch herrschaftsabhängiger Leiter der Regierung. Er genießt nicht mehr das Recht der Gesetzgebung. Dieses ist an die Bürgerversammlung übergegangen; er ist nur noch ausführendes Organ, dessen Tätigkeit auf gesetzesgebundene Einzelakte beschränkt ist.
In der Nachfolge Pufendorfs verknüpft der zweistufige Kontraktualismus des älteren deutschen Naturrechts ein pactum unionis virium mit ei-

nem pactum unionis voluntatum. Der erste Vertrag ist gleichsam der Körpervertrag. Er konstituiert den politischen Körper als eine machtvolle Konzentration aller Kräfte. Aber mit der Zusammenlegung aller Kräfte ist wenig gewonnen, wenn da nicht auch ein einheitlicher und durchsetzungsstarker Wille wirksam ist, der diese Kräfte auf ein Ziel hin ausrichtet, und wenn da nicht auch ein Kopf ist, der die Ziele des Handelns des Gesellschaftskörpers bedenkt und formuliert. Die durch vertragliche Einigung entstandene Gesellschaft ist zwar bereit, die Kräfte aller Mitglieder zum allseitigen Nutzen einzusetzen, aber sie kann sich selbst nicht auf Ziele und Zwecke einigen. Ihr gebricht es an Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit; sie wird durch die vielen einander widersprechenden Köpfe und die vielen divergierenden Willen politisch gelähmt. Der zweite Vertrag reagiert auf diese politische Immobilität der Gesellschaft; er ist der Kopf und Willensvertrag, der der Willen- und Kopflosigkeit der Gesellschaft ein Ende macht und sie zu rationalem Entscheiden und wirksamem Handeln befähigt. „Das Pactum unionis virium war unzulänglich, solange nicht unio voluntatum hinzukam. Letztere ward nicht anders möglich, als auf die beschriebene Art, durch das pactum subjectionis"105 In der politischen Philosophie Rousseaus wird dieses Verhältnis von Körper und Wille umgekehrt. Im Contrat social sucht sich kein Körper einen Willen, sondern ein Wille einen Körper. Beide Vervollständigungen erfolgen freilich aus demselben Grund: um Handlungsfähigkeit zu gewinnen.
Rousseau hat ausdrücklich die Vorstellung verworfen, dass der Einsetzungsakt der Regierung auf einem Vertrag basiert. Eine vertragliche Freiheitseinschränkung der absoluten Souveränität ist unzulässig. Das Staatsrecht kennt nur einen einzigen Vertrag: den Vergesellschaftungsvertrag. Wenn sich der durch ihn konstituierte vereinigte Bürgerwille seinerseits vertraglich binden würde, würde der Gesellschaftsvertrag verletzt werden. Die Verfassung, der Inbegriff der politischen Gesetze, die die Kompetenzen der Regierungsorgane regeln, ist kein Bestandteil des Gesellschaftsvertrags. Die Regierung selbst wird durch einen Erlass, also einen Einzelakt, eingesetzt. Da sich der Souverän aber nur in Gestalt von Gesetzen äußern darf, entsteht für Rousseau ein Problem. Die Gewaltenteilung zwischen Legislation und Exekutive bedeutet nach Rousseau ja, dass jeder Funktionsbereich seine eigentümliche Äußerungsform hat: die allgemeinheitskompetente Legislation erlässt Gesetze; die besonderheitskompetente Regierung vollzieht Einzelakte. Der Souverän setzt die Regierung ein, darf aber keine Einzelakte vollziehen. Für Einzelakte zuständig ist die Regierung, aber diese existiert noch nicht. Um dieser Schwierigkeit Herr zu werden, verwandelt sich die Bürgerversammlung selbst in einen Ausschuss, durch den die Bürger als Magistratsbeamte den Beschluss vollziehen, den sie als Gesetzgeber erlassen haben.
Näherhin durchläuft der Prozess der Regierungseinsetzung bei Rousseau die folgenden Stadien: (1) gesellschaftsvertragliche Konstitution des Souveräns; (2) Festlegung der Regierungsform durch ein Gesetz; (3) „plötzliche Verwandlung (conversion subite) der Souveränität in Demokratie" (III.17; 433; 163), d. h. in eine provisorische Regierung; durch diese Verwandlung wird jeder Bürger gleichsam Regierungsmitglied; damit ist die Ebene der Einzelakte und Vollzugshandlungen erreicht; (4) Vollzug der Regierungseinsetzung durch die demokratische Versammlung nach Vorschrift des Gesetzes; (5) wenn der Souverän sich für eine demokratische Regierungsform entschieden hat, bleibt die provisorische Regierung im Amt; wenn die Regierung eine aristokratische oder monarchische Struktur haben soll, wird die provisorische Regierung, die demokratische Versammlung, im Namen des Souveräns eine aristokratische oder monarchische Regierung einsetzen.
Rousseaus Vorstellungen von der Institution einer Regierung ähneln Hobbes'schen Überlegungen zum „government by institution". Der Rechtsverzichts-, Begünstigungs- und Autorisationsvertrag des Leviathan definiert und konstituiert Souveränität; die Souveränitätsposition selbst ist aber noch eine vakante Stelle, die besetzt werden muss. Der Begünstigte, der als Monopolist des ius in omnia seinen Willen ungehindert an die Stelle aller anderen Willen setzen kann, der Autorisierte, der die ihm übertragenen Rechte auf Selbstregierung wahrnimmt, muss erst noch bestimmt werden. Der ursprüngliche Vertrag selbst ist nur eine Art Souveränitätsschema, das das rationale Programm der Naturzustandsüberwindung in nuce enthält und die Grundstruktur von Staatlichkeit überhaupt festlegt.
„Ein Staat wird eingesetzt genannt, wenn bei einer Menge von Menschen jeder mit jedem übereinstimmt und vertraglich übereinkommt, dass jedermann, sowohl wer dafür als auch wer dagegen stimmte, alle Handlungen und Urteile jedes Menschen oder jeder Versammlung von Menschen, denen durch die Mehrheit das Recht gegeben wird, die Person aller zu vertreten, das heißt ihre Vertretung zu sein, in derselben Weise autorisieren soll, als wären sie seine eigenen, und dies zum Zweck eines friedlichen Zusammenlebens und zum Schutz vor anderen Menschen."106
Da grundsätzlich nicht damit zu rechnen ist, dass sich die mit der Menge der vertragsschließenden Naturzustandsbewohner identische demokratische Institutionsversammlung, gleichsam die Hobbes'sche Constituante, auf eine Herrschaftsform oder auf das Herrschaftspersonal einigen wird, muss als pragmatisches Scharnier zwischen Begriff und Realität eine einmütige Einigung auf das Mehrheitsprinzip als gültige Entscheidungsregel für die Einsetzung des Souveräns erfolgen. Die so durch das Zusammenspiel von Vertragseinmütigkeit (zur Konstitution der Rechtsperson Staat) und Majoritätsprinzip (zur Bestimmung des Herrschaftspersonals) institu- ierten Souveräne können monarchischen, aristokratischen und auch demo- kratischen Zuschnitts sein. Die Herrschaftsorganisationen sind unterschiedliche institutionelle Kleider der Souveränität und unterscheiden sich folglich nicht hinsichtlich der Legitimität, sondern allein hinsichtlich der „Angemessenheit oder Eignung für den Frieden und die Sicherheit des Volkes"107.
Locke über die Regierung
Freilich besteht ein großer Unterschied zwischen Hobbes und Rousseau. Bei Hobbes verhalten sich Vertrag und Institution wie Stellenbeschreibung und Stellenbesetzung. Die Paziszenten einigen sich einmütig auf eine Beschreibung der Souveränitätsposition und bestimmen dann mehrheitlich, mit wem sie besetzt werden soll, welche interne Verfassung die Souveränität erhalten soll. Bei Rousseau hingegen steht die Besetzung der Position des Souveräns nicht mehr zur Disposition. Das Volk herrscht, und das Volk wählt sich - wie bei Locke - eine Regierung, die seinem Willen Geltung verschafft. Während Kompetenz und Macht der Hobbes'schen Regierung durch den Vertrag festgelegt sind, die Regierung als physische Verkörperung der durch die Autorisierung konstituierten moralischen Staatsperson angesehen werden kann, ist die Regierung bei Locke und Rousseau eine vertragsexterne Instanz. Das rechtliche Verhältnis zwischen ihr und der Vertragsgemeinschaft bzw. dem Souverän ähnelt den Bestimmungen eines Werkvertrags.
„Politische Gewalt ist jene Gewalt, die jeder Mensch im Naturzustand hatte und die er in die Hände der Gesellschaft gegeben und innerhalb der Gesellschaft an die Regierenden, die die Gesellschaft über sich eingesetzt hat, und zwar mit jenem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrauen, dass sie zu seinem Wohl und zur Erhaltung seines Eigentums gebraucht werde. Diese Gewalt nun, die jeder Mensch im Naturzustand hat und auf die er zugunsten der Gesellschaft in all den Fällen verzichtet, wo diese ihn schützen kann, besteht darin, zur Erhaltung seines Eigentums solche Mittel zu gebrauchen, wie er sie für gut hält und sie ihm die Natur erlaubt. Ferner soll er den Bruch des natürlichen Gesetzes bei anderen so bestrafen, wie es (nach bestem Wissen und Gewissen) am ehesten zur Erhaltung seiner selbst und der übrigen Menschheit dienen kann. Da der Zweck und das Maß dieser Gewalt, wenn sie im Naturzustand in den Händen eines jeden liegt, die Erhaltung aller in seiner Gesellschaft ist, d. h. der ganzen Menschheit im Allgemeinen, so kann sie auch, wenn sie in den Händen der Obrigkeit liegt, keinen anderen Zweck und kein anderes Maß haben, als das Leben, die Freiheit und den Besitz der Glieder jener Gesellschaft zu erhalten [...]. Und diese Gewalt hat ihren Ursprung allein in Vertrag und Übereinkunft und in der gegenseitigen Zustimmung derjenigen, die die Gemeinschaft bilden."108
Der Locke'sche Vertrag konstituiert eine politische Gesellschaft, indem jeder sich gegenüber jedem vertraglich verpflichtet, sein Recht auf eigenhändige Rechtsdurchsetzung, auf naturrechtliche Vollstreckungsbefugnis auf die Gemeinschaft zu übertragen. Diese Rechte zweiter Ordnung, die nichts anderes zum Inhalt haben als die Befugnis, zum Schutz der unveräußerlichen Individualrechte und zur Durchsetzung der Naturrechtsprinzipien Gewalt anzuwenden, sind die Wurzeln der politischen Gewalt der Gemeinschaft; durch ihre vertragliche Bündelung konstituiert sich das Herrschaftsrecht der Gemeinschaft. Die politische Gewalt gibt diese Rechte nicht ab, sie überträgt sie nicht etwa im Rahmen eines zweiten Vertrages an die herrschaftsausübenden Instanzen, an Regierung, Justiz und Exekutive. Sie überträgt nur die Wahrnehmung dieser Rechte aus pragmatischen Gründen an geeignete, von ihr zu diesem Zweck eingerichtete Institutionen der Legislative und der Justiz und der Polizei. Haben wir bei Hobbes einen über die Gesellschaft der Vertragspartner herrschenden Souverän, so haben wir bei Locke einen nicht-herrschenden Souverän und eine nicht-souveräne Regierung. Da der Souverän nicht direkt herrscht, gehört zu den Aufgaben der nicht-souveränen Regierung bei Locke auch die Gesetzgebung. Bei Rousseau nun ändert sich das Verhältnis von Souverän und Regierung erneut. In der Republik wird das politische Geschäft der Selbstregierung durch einen herrschenden Souverän und eine nicht-souveräne, seinem Willen unterworfene, auf Exekutivfunktionen beschränkte Regierung betrieben.
Die Regierung ist bei Locke weder vertraglich autorisierter Souverän wie bei Hobbes noch Vertragspartner wie in den Doppelvertragslehren des deutschen Naturrechts: Sie ist nicht in ein wechselseitiges Recht-PflichtVerhältnis eingebunden, und schon gar nicht ist sie im Besitz aller rechtlichen Macht und aller Pflichten ledig. Zwischen Volk und Regierung besteht nach Locke eine Art Treuhänderschaft: Der Gesetzgeber ist Treuhänder des ihm anvertrauten Herrschaftsrechts des Volks, er verwaltet die politische Gewalt der Gemeinschaft kommissarisch im Rahmen der Verfassung und besitzt keinerlei eigenständiges staatsrechtliches Profil. Die Verfassung bestimmt die Form, in der die politische Gesellschaft ihr Herrschaftsrecht und die von ihr konzentrierten Gewalten der Rechtssicherung und Naturrechtsvollstreckung ausübt. Die politische Gemeinschaft begibt sich zu keinem Zeitpunkt eines Rechts und einer Gewalt, die auf sie durch den Prozess der vertraglichen Vereinigung übertragen wurde: Sie arrangiert nur ihre effektive Ausübung, indem sie handlungsfähige und funktionsgerechte Institutionen kreiert und bestimmte Positionen mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben betraut. Und wenn diese Aufgaben nicht zweckgerecht erfüllt werden, wenn Legislative, Jurisdiktion und Exekutive sich nicht als Rechtsschutzinstitutionen und Bastionen des individuellen Eigentumsrechts bewähren, sondern ihre Funktionsmacht missbrauchen, den naturrechtlichen Zweck der Sicherung und Steigerung des öffentlichen Wohls verhöhnen, die

Regierung in Rousseaus „Abhandlung über die Politische Ökonomie" 145 natürlichen Rechte der Bürger missachten, in die privaten Freiheitsräume der Individuen eindringen und sich an ihrem Eigentum vergreifen, dann ist die politische Gesellschaft berechtigt, der Regierung Widerstand zu leisten, sie zu entmachten und aus dem Amt zu jagen.
Die Konzeption der Regierung in Rousseaus
„Abhandlung über die Politische Ökonomie"
Die ausführlichsten Äußerungen Rousseaus zur Regierung finden sich in seinem Enzyklopädie-Artikel von 1755. Denn politische Ökonomie ist für ihn nichts anderes als der Tätigkeitsbereich der Regierung und der Verwaltung. Regierung und Verwaltung agieren nicht selbstständig; sie sind weisungsgebunden; ihre Funktion ist Rechtsverwirklichung durch Gesetzesdurchsetzung. Sie hat die allgemeinen Gesetze des Souveräns situationsangemessen zu konkretisieren und zu partikularisieren, das Allgemeine in die je besondere Problemgrammatik der vorliegenden kontingenten Situation einzulassen. Denn nur dann kann die Gemeinwohlabsicht des Gesetzgebers Wirklichkeit werden, wenn eine sich der Allgemeinheit verpflichtende, den Gesetzen dienende Exekutive die allgemeinen Entscheidungen des Souveräns dem Wandel der Verhältnisse anpasst. Dazu benötigen Regierung und Verwaltung eine spezifische Kompetenz, denn in einer sich ändernden Welt wird sich das Allgemeine nicht durch subsumtionslogische Schematik verwirklichen lassen. Die Regierung verwaltet die Republik, ist für die situationsgerechten Ausführungsbestimmungen des Allgemeinen zuständig. Sie besitzt keinerlei legislatorische Befugnis, aber sie muss über hermeneutische Fertigkeiten verfügen, denn ohne Berücksichtigung der eigentümlichen Textur des Besonderen wird sich die allgemeine Regel nicht verwirklichen lassen. Ihre Qualität zeigt sich daran, dass sie in veränderten Situationen Entscheidungen trifft, die dem Geist des Gesetzes treu bleiben. Würde sie am Buchstaben des Gesetzes kleben, würde sie ihrer Vermittlungsaufgabe nicht gerecht werden und Unvernünftiges tun.
Gesetzesanwendung
Mit der Bestimmung der gesetzeshütenden, den Geist der Gesetze bei sich ändernder Wirklichkeit beachtenden Regierung hat Rousseau ein Problem angesprochen, das die politische Philosophie von Beginn an beschäftigt hat: das Problem der Regelanwendung. Schon Platon hat in den Nomoi darauf hingewiesen, dass der regelgeleiteten Gerechtigkeit eine immanente Dialektik zukommt, die sie unter bestimmten Umständen in ihr Gegenteil umschlagen lässt. Der vollendet Gerechte muss daher auch ein Gespür für die der Gesetzesgerechtigkeit innewohnende Tendenz zur Un-

gerechtigkeit haben und den Willen zeigen, dann, wenn sich diese Tendenz zum Ausdruck bringt, korrigierend einzugreifen. Daher vervollständigt Aristoteles etwa seine Ausführungen zur Gerechtigkeit durch eine Betrachtung von der Notwendigkeit der epieikeia, der Billigkeit. Der wahrhaft Gerechte weiß, dass die Gesetzesgerechtigkeit eine innere Grenze besitzt, dass sie strukturell insuffizient ist. Grund dieser gerechtigkeitstheoretischen Mangelhaftigkeit der Gesetzesgerechtigkeit ist der notwendige Allgemeinheits- und Abstraktionscharakter der Gesetzesregel. Das Recht benötigt allgemeine Normen, nicht nur aus Gründen regulatorischer Effizienz, sondern auch aus Gründen der Gerechtigkeit: Denn die von der Gerechtigkeit verlangte Gleichbehandlung stützt sich auf eine Gleichheit des Absehens von allen Besonderheiten, kennt nur entindividualisierende Tatbestandsmerkmale und allgemein gehaltene Zuschreibungen. Das Handlungsleben aber ist konkret; die Menschen sind sehr verschieden; und keine Situation gleicht der anderen. Und manchmal kann der Unterschied zwischen den Menschen und den Situationen so groß sein, daß sie sich dagegen sperren, unter ein und dasselbe Gesetz subsumiert zu werden.
Kein Gesetzgeber kann alle Fälle durch seine Gesetzesformulierungen abdecken. Gesetze sind für Normalsituationen zuständig, weil sie selbst Normalsituationen definieren. Aber es gibt Randfälle, Ausnahmesituationen, in denen für den Billigdenkenden die Unzuständigkeit der Gesetzesregel offensichtlich ist, in der rücksichtslose Gesetzesanwendung zu ethisch kontraproduktiven Ergebnissen führen würde. Hier verlangt die Gerechtigkeit dann, um der Gerechtigkeit willen nicht auf konsequenter Regelanwendung zu beharren, sondern die Rechtsnorm zu vernachlässigen. Der vollendet Gerechte ist kein Prinzipienreiter und Regelfetischist; er kennt auch das, so Cicero, „schon abgegriffene Sprichwort": summum ius summa imuria^. Er verabsolutiert nicht die Gesetze, sondern er kontextualisiert sie. Klug und situationskompetent betrachtet er sie vor dem Hintergrund der je vorliegenden Anwendungssituation und befindet dann darüber, ob die Gerechtigkeit hier Gesetzesvollzug verlangt oder vielmehr fordert, vom Gesetzesvollzug abzusehen. Und dass er sich dabei ausschließlich auf seine Klugheit, auf Situationswahrnehmung und gerechtigkeitsethisches Fingerspitzengefühl verlassen darf, versteht sich von selbst: Es kann keine Regel geben, die die Unzuständigkeit von Regeln regelt.
Der Enzyklopädie-Artikel setzt einen funktionsgerechten, mit Legislative und Exekutive ausgestatteten Staat voraus. Die Konstitution des Staates, die Entstehung des Souveräns wird in ihm nicht behandelt. Erst der Gesellschaftsvertrag widmet sich der staatsrechtlichen Aufklärung der Konstitution von Herrschaft; er bringt das Vertragsmodell ins Spiel und gibt damit der volonte generale staatsrechtliches Profil. In der Abhandlung über die Politische Ökonomie fungiert der Gemeinwille dagegen noch als ein

Regierung in Rousseaus „Abhandlung über die Politische Ökonomie" 147 freistehendes normatives Prinzip, das zur unmittelbaren Normierung der Regierungstätigkeit von Rousseau herangezogen wird. Der Gemeinwille ist als „oberstes Prinzip der Volkswirtschaft und als Grundregel des Regierens" zu betrachten.110 Zwar rüttelt Rousseau keinesfalls an der Gesetzesbindung der Regierung, aber er macht deutlich, dass nicht allein die Gesetze den normativen Maßstab der Regierungstätigkeit bilden können. Die Regierung darf sich durchaus einen selbstständigen, vom rechtssetzenden Willen des Souveräns unabhängigen Zugang zum Allgemeinwillen verschaffen. Anders könnte sie ihrer Arbeit nicht gerecht werden. Denn der gesetzgebende Souverän ist nur dann präsent, wenn Regulationsbedarf entsteht, die Republik einer neuen gemeinwohlorientierten Normierung bedarf, wenn die Verhältnisse nach einer Aufnahme der Tätigkeit der Rechtsbestimmung rufen. Die Regierung hingegen ist immer gegenwärtig. Auch dann, wenn der Souverän, der „Herr der Gesetze", nicht tagt, muss die Regierung, die „Hüterin der Gesetze", wachsam sein.111
Die Gesetze zu hüten besagt aber, in einer sich unaufhörlich ändernden Wirklichkeit den Gesetzen Wirksamkeit zu verschaffen. Gesetze sind aber allgemeine Regeln, die nicht jeden Fall vorwegnehmen können. Sie sind daher auslegungsbedürftig, von der Situationskompetenz kluger Anwender abhängig. Eine Regierung muss daher mehr besitzen als die Kenntnis der Gesetze. Sie muss wissen, wie sie die Gesetze anzuwenden hat. Dabei kann sie sich auf „zwei unfehlbare Regeln" stützen: „Die eine ist der Geist des Gesetzes, der zur Entscheidung in den Fällen, die es nicht vorgesehen hat, dienen muss. Die andere ist der Gemeinwille, die Quelle und Ergänzung aller Gesetze, die man, wenn das Gesetz ausfällt, immer befragen muss."112 Die Norm des Gemeinwillens definiert also nicht nur die Gesetzesgerechtigkeit, sie ist auch in der Lage, die mangelnde Einzelfallkompetenz der Gesetzesregel zu kompensieren und dem Gesetzesanwender zu einer einzelfallbezogenen Gerechtigkeitskenntnis zu verhelfen. Wie aber vermag sich der Regierungs- und Verwaltungsapparat diese Erkenntnis zu verschaffen? Rousseaus Antwort lautet: durch ethische Exzellenz. Die Mitglieder der Regierung müssen nicht minder als die Mitglieder der Gesetzgebung zuverlässige Diener des Gemeinwohls sein, dürfen sich in ihrer Tätigkeit ebenso wenig wie die gesetzgebenden Bürger von Privatinteressen und Gruppeninteressen leiten lassen.
Bürgererziehung
In allem ist der Gemeinwille zu befolgen, so lautet die erste Grundregel der Regierung oder der Volkswirtschaft. Und wie sie verwirklicht werden kann, sagt die zweite Grundregel: „Faites regner la vertu!"/„Macht, dass die Tugend regiert!"113 Die Regierung darf also keinesfalls mit der vorfind- lichen Beschaffenheit der Bürger zufrieden sein. Sie muss - wie später

dann im Contrat social der Legislateur - an der ethischen Besserung der Bevölkerung arbeiten. „Wenn es gut ist, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, dann ist es viel besser, wenn man sie so macht, wie man sie braucht/4114 Die Tätigkeit der Regierung erschöpft sich also keineswegs in der situationskompetenten Regelanwendung. Sie hat sich um die Erziehung der Bürger zu kümmern. Gerade auf dem Feld der Tugendpädagogik, des Bürgermachens, zeigt sich, ob sie „Talent" besitzt. Und daher ist es kein Wunder, dass die Erziehungsthematik in Rousseaus Abhandlung über die Politische Ökonomie den größten Raum einnimmt. Über weite Strecken ist er nichts anderes als ein Traktat über Bürgererziehung, der lediglich die einander spiegelnden Gemeinplätze republikanischer Tugendethik und Korruptionstheorie aneinander reiht.
Zu den vordringlichen Aufgaben einer guten und weisen Regierung gehört es also keinesfalls, ein wirksames Zwangssystem zu etablieren, sondern die Bürger so zu formen, dass sich Zwangsandrohung und Zwangsanwendung erübrigen, dass äußere Handlungsbeaufsichtigung durch innere Selbstkontrolle ersetzt werden kann. „Die unwiderstehlichste Autorität ist diejenige, die die Menschen völlig durchdringt und bis in ihr Inneres reicht und ihren Willen nicht weniger als ihre Handlungen prägt (L'auto- rite la plus absolue est celle qui penetre jusqu'ä l'interieur de l'homme, et ne s'exerce pas moins sur la volonte que sur les actions)."115 Eine talentierte „Hüterin der Gesetze" verfügt „über tausend Mittel", um „Liebe für sie einzuflößen". Ist der Bürger gesetzestreu, nützt sein Verhalten dem Gemeinwohl, kann sich die Regierung unsichtbar machen und ihre Macht verhüllen; dann scheint es so, als ob das Gemeinwesen sich durchgängig selbst bestimmt und keiner Führung und Überwachung mehr bedürftig ist. Eine gute Regierung ist eine Regierung, die entschieden an ihrer eigenen Überflüssigkeit arbeitet, der bürgerlichen Selbstbestimmung verpflichtet ist und durch geschickte Erziehungsarbeit die Bürger selbstbestimmungstauglich macht, die zurücktritt und das Feld dem Regiment der Tugend überlässt. Wenn die Tugend verschwindet, greift Korruption um sich, beginnt der sittlich-politische Verfall. Tugenderziehung ist daher Zerfallsprävention, Korruptionsprophylaxe. Indem sich eine weise Regierung um die Sittlichkeit der Bürger kümmert, trifft sie „Vorsichtsmaßnahmen". Sie lässt die Zentrifugalkräfte der Gesellschaft nicht zur Entfaltung kommen, beugt der Desintegration, der Machtergreifung des Privaten und Besonderen vor. Sie pflegt die „guten Sitten", um „die Achtung für die Gesetze, die Liebe für das Vaterland und die Geltung des Gemeinwillens aufrechtzuerhalten"116.
Bürger fallen nicht vom Himmel; sie zu bilden ist „nicht die Angelegenheit eines Tages". Bürgerbildung ist mühsam und muss in der Kindheit beginnen. „Will man sie als Erwachsene haben, muss man sie als Kinder belehren."117 Der Lehrplan ist eindeutig; die Republik des Allgemeinwillens benötigt gemeinsinndurchdrungene Bürger. Eine Erziehung ist vonnöten, die das Besondere, Sperrige unterdrückt. Wo Eigensinnigkeit aufblüht, kann sich kein Gemeinsinn breit machen. Schon Platon hat für den Allgemeinheitsstand eine Erziehung gefordert, die das Individuum lehrt, sich allein aus der Perspektive des Allgemeinen wahrzunehmen und zu bewerten. Diesem Entindividualisierungsprogramm folgt auch der Rous- seau'sche Republikanismus: „Wenn man sie zum Beispiel früh schon lehrt, niemals ihre Person anders zu sehen als in ihren Beziehungen mit dem Staatskörper, und ihre eigene Existenz sozusagen nur als einen Teil des Staates anzusehen, dann könnten sie dahin gelangen, sich in gewissem Maße mit dem Ganzen zu identifizieren, sich als Glieder des Staates zu fühlen."118 Diese bedeutsame Aufgabe der politischen Entschärfung gefährlicher Eigensinnigkeit kann nun nicht den Eltern überlassen bleiben. Bürgererziehung ist politisch lebenswichtig und in die Hände des Allgemeinen zu legen. Bürgererziehung muss in der Rousseau'schen Republik daher notwendig zu einer öffentlichen Angelegenheit werden.
„Die öffentliche Erziehung unter den von der Regierung vorgeschriebenen Regeln und unter den vom Herrscher eingesetzten Beamten ist also eine der Grundmaximen der legitimen Regierung oder auch Volksregierung. Wenn die Kinder gemeinsam im Schoß der Gleichheit erzogen werden, wenn sie von den Gesetzen des Staates und den Maximen des Gemeinwillens durchdrungen sind, wenn sie gelernt haben, sie über allem anderen zu beachten, [...] dann sollten wir nicht zweifeln, dass sie auf diese Art lernen, sich gegenseitig als Brüder zu lieben, immer nur zu wollen, was die Gesellschaft will."119
Möglicherweise kann man mit einem Volk rationaler Teufel einen Staat machen, sicherlich jedoch keine Republik. Es ist eine alle Republikaner von Aristoteles bis zu den heutigen Kommunitaristen einende Überzeugung, dass ein gedeihliches politisches Zusammenleben mit den Rationa- litätshomunculi der liberalen Standardtheorie nicht denkbar ist, dass ein politisches Gemeinwesen sich aus ethischen Quellen speist, die tiefer liegen als der oberflächliche Nutzenmaximierungskalkül des aufgeklärten Egoisten. Eine Republik benötigt Bürger; nur sie bringen das Allgemeine zum Leben. Die Institutionen und Gesetze der Republik müssen in den Tugenden der Bürger Unterstützung finden. Nicht an der Effizienz des Zwangssystems entscheidet sich das Schicksal der Republik, sondern an der ethischen Verfassung ihrer Bürger: „In den Herzen der Bürger findet die öffentliche Autorität ihren größten Halt (le plus grand ressort de l'au- torite publique est dans le coeur des citoyens)."120 Müssen die Gesetze und Einrichtungen dieser Tugendunterstützung entbehren, wird auch das ausgeklügeltste Rechtssystem das Gemeinwesen nicht vor dem Untergang be- wahren. Für den Republikaner ist es eine ausgemachte Sache, dass die liberale Leidenschaft für Recht und Gesetz nicht ausreicht, um ein Gemeinwesen vor ethischer Auszehrung und politischem Niedergang zu bewahren. Ohne Bürgerloyalität, ohne Gemeinsinn und Tugend werden die Gesetze nicht die ihnen abverlangten Koordinations- und Integrationsleistungen erbringen können. Sie werden von dem immer dreister agierenden Einzelwillen missbraucht und verhöhnt. Und die Antwort des allein auf die Gesetze setzenden Herrschers lautet dann in der Regel: noch mehr Gesetze. In dem Maße, in dem die Verbindlichkeit des Rechts erodiert, nimmt dann die Regulationsdichte zu. Aber damit tritt keine Heilung ein, sondern die Krankheit gewinnt nur deutlicheren Ausdruck: „Je mehr man die Gesetze vervielfältigt, umso verachtenswerter werden sie."121
Diese Geringschätzung des formalen Rechts ist ein Leitmotiv republikanischen Denkens. Es ist zuerst von Platon angestimmt worden und ist seitdem fester Bestandteil der republikanischen Theorie politischer Korruption. Wenn sich das Gemeinwesen zur Sicherung seines Bestands auf äußere Regel, auf Zwang und dann schließlich auf das Handwerkszeug der Staatsräson verlassen muss, wenn sich die Herrschenden genötigt sehen, die Gesetze zu verschärfen und zu vermehren und auf „all die kleinen und schäbigen Listen zurückzugreifen, die sie Staatsmaximen und Kabinettsgeheimnisse" nennen, dann werden die Bürger dem Gemeinwesen entfremdet, dann wird das Gemeinwesen zu einer Privatangelegenheit von Regierung und Verwaltung, dann zerfällt der politische Körper, stirbt das Politische. Während sich der Liberalismus vorwiegend mit Fragen der institutionellen Ordnung und des konstitutionellen Profils des Staates beschäftigt, interessiert den Republikanismus vor allem die ethisch-politische Beschaffenheit des Gemeinwesens. Seit je hat er sich darum der Erforschung der Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen des politischen Zusammenlebens gewidmet. Republikanische Politiktheorie ist darum immer zugleich Bürgerethik und Korruptionstheorie. Auch Rousseau stimmt in das Hohe Lied der Bürgertugend und Vaterlandsliebe ein; auch er greift die altbekannten korruptionstheoretischen Gemeinplätze des Republikanismus auf und gibt eine weitere Darstellung der Leidens- und Zerfallsgeschichte des Politischen.
Güterverwaltung
Neben der Gesetzesverwirklichung und der Bürgererziehung ist die Sorge um den Unterhalt der Bürger die „dritte wesentliche Pflicht der Regierung"122. Näherhin ist damit eine Wirtschafts- und Sozialpolitik gemeint, die zum einen durch angemessene Besteuerung für das erforderliche staatliche Einkommen sorgt, das benötigt wird, um die Aufgaben der Regierung und Verwaltung in hinreichender Weise zu erfüllen, die zum anderen aber auch darauf achtet, dass die Besitzverhältnisse niemanden von der Notwendigkeit der Arbeit entbinden. „Arbeiten ist eine unerlässliche Pflicht des Menschen innerhalb der Gesellschaft Jeder müßige Bürger ist ein Schmarotzer."123 Während Rousseaus Modifikation des Diderot'schen Gemeinwillens, seine Gesetzesskepsis und seine Ausführungen über öffentliche Bürgererziehung und das Regiment der Tugend den EnzyklopädieArtikel zu einem Dokument republikanischen Denkens machen und als Vorentwurf der politikphilosophischen Konzeption des Contrat social erscheinen lassen, weisen Rousseaus Ausführungen zur „Verwaltung der Güter" seitens einer legitimen Regierung in eine Richtung, von der sich der Gesellschaftsvertrag dann mit Entschiedenheit abwendet. Denn Rousseau vertritt in dem Artikel über die politische Ökonomie einen orthodoxen Lockeanismus. Galt ihm im zweiten Discours die Locke'sche politische Philosophie als Ideologie der Reichen und Legitimation einer Despotie des Eigentums, so wendet er im Artikel über die politische Ökonomie die politische Philosophie Lockes ins Positive. Nicht nur betrachtet er das Eigentumsrecht als das „heiligste aller Bürgerrechte", das „in gewisser Hinsicht wichtiger selbst als die Freiheit" ist, er erblickt in ihm sogar den Grund und die Ursache der Gesellschaft. Das Eigentum, so heißt es ohne jeden kritischen Unterton und frei von jeder geschichtsphilosophischen Konnotation, ist „die wahre Begründung der menschlichen Gesellschaft und der wahre Garant der Verpflichtung der Bürger"124. Und weiter unten heißt es: „Hier muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass die Grundlage des Gesellschaftsvertrags das Eigentum ist, und seine erste Bedingung, dass jeder im Genuss dessen gesichert ist, was ihm gehört."125 Daher ist es nur konsequent, dass die Regierung keine Steuern ohne die mehrheitliche Zustimmung der Bürger erheben kann.
Der Lockeanismus zwingt Rousseau im wirtschaftspolitischen Teil seines Artikels zu einer liberalen Empfindlichkeit, die mit dem Republikanismus seiner Konzeption öffentlicher Tugenderziehung schwerlich zusammenpasst. War gerade noch von der Sorge der Regierung um Sittlichkeit und Vaterlandsliebe die Rede, tritt jetzt das Eigentum in den Vordergrund der politischen Philosophie. Der gemeinwohlorientierte Patriot verwandelt sich in den Steuer- und Abgabenbürger, dessen legitimes Interesse an der Erhaltung seines Vermögens Regierung und Verwaltung unter Rechtfertigungsdruck stellt. War im Erziehungskapitel die Allgemeinheit Gegenstand der Sorge, deren Erhaltungserfordernisse nach einer effektiven Bürgererziehung riefen, so ist im wirtschaftspolitischen Kapitel das Besitzinteresse der Vermögenden die Instanz, vor der sich die um die Finanzierung ihrer Aufgaben sich kümmernde Regierung rechtfertigen muss. Und wo bleibt das Volk?, möchte der Rousseau-Leser hier fragen. Wo bleibt der Souverän? Das Volk tritt im Enzyfc/opädze-Artikel nur im Rahmen der Steuergesetzgebung politisch in Erscheinung. Aber selbst hier vermag es noch nicht die Aktivität zu entfalten, die für die Volkskonzeption des Contrat social charakteristisch ist. Denn es darf sich bei dieser Gesetzgebungstätigkeit durchaus durch Repräsentanten vertreten lassen. Das Volk besitzt also in der Abhandlung über die Politische Ökonomie noch keinesfalls die eigentümliche staatsrechtliche Signatur, die aus dem Gesellschaftsvertrag bekannt ist. Der Artikel kennt auch noch nicht den rigorosen Entäußerungsvertrag des Contrat social', daher kommt dem Volk auch noch nicht die staatsrechtliche Autorität des Souveräns zu. Politisch und staatsrechtlich ist es noch nicht ins Leben getreten. Von der Mitwirkung bei der Steuergesetzgebung abgesehen ist das Volk des Enzyklopädie-Artikels vor allem passiv, Erziehungs- und Betreuungsobjekt einer wohlmeinenden und sittlich kompetenten Regierung.
Der EnzyÄ/opäd/e-Artikel nimmt innerhalb des Rousseau'schen Denkens eine merkwürdige Stellung ein, denn er ist weder mit der gesellschaftskritischen Position der Diskurse noch mit der Konzeption des Contrat social vereinbar. Während sich die gesellschaftskritischen Diskurse in einen schroffen Gegensatz zur zeitgenössischen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit setzen, akkomodiert sich der Enzyklopädie- Artikel den vorfindlichen Verhältnissen. Die ideologiekritische Entlarvung von Vertrags- und Rechtsform weicht ihrer affirmativen Verwendung. Andererseits liefert aber der Enzy^/opäJ/e-Artikel auch kein programmatisches Präludium des Contrat social. Im Gegenteil: Staatsrecht und politische Philosophie des Werkes von 1762 widersprechen den Positionen des Artikels entschieden. Aber nicht nur innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Rousseau'schen Denkens erscheint der EnzyklopädieArtikel als konzeptionelle Sackgasse, er ist auch intern widersprüchlich und zutiefst inkohärent. Sein sich besonders in der Erziehungspassage ausdrückender Republikanismus ist nicht vereinbar mit dem Lockeanismus der Eigentümergesellschaft, den die wirtschaftspolitische Passage ihren Ausführungen über Regierungsaufgaben und Staatseinkommen zugrunde legt. Eine Gesellschaft, deren Zweck die Sicherung des Eigentums ist, kann nie die Statur einer politischen Gemeinschaft gewinnen, von der der Republikanismus träumt.
Andererseits darf man die Bedeutung des Lockeanismus für Rousseaus politische Philosophie in den fünfziger Jahren nicht überschätzen. So richtig es ist, dass dem Eigentumsrecht in der Abhandlung über die Politische Ökonomie erhebliche Bedeutung für die Begründung und Zweckbestimmung des Staates eingeräumt wird, so richtig es auch ist, dass der orthodoxe Republikanismus des Erziehungskapitels sich schwerlich mit dem Geist des Besitzindividualismus verträgt, der in der Locke'schen Theorie Gestalt angenommen hat, so wenig kann aber auch übersehen werden, dass

Regierung in Rousseaus „Abhandlung über die Politische Ökonomie" 153 jenseits der Bekundungen eben dieser Bedeutung für Begründung und Zweckbestimmung des Staates der liberale Gedanke im Enzyklopädie-Artikel nicht zur kleinsten Entfaltung kommt. Das Kapitel über das Staatseinkommen und die Mitwirkung der Bürger bei der Steuergesetzgebung entwickelt keinesfalls die Grundzüge einer liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Tenor aller Rousseau'schen Äußerungen in diesem Artikel über Besteuerungshöhe und Steuergerechtigkeit, über die richtige Behandlung des sozio-ökonomischen Gegensatzes zwischen Arm und Reich ist eindeutig republikanisch. Auch hier begegnen wir der typisch Rousseau'schen Konstellation eines republikanisch integrierten, modifizierten und denaturierten Residualliberalismus. Auch hier wird der liberale Rechtsdiskurs durch einen republikanischen Tugenddiskurs überlagert und erstickt. Ohne ihre liberale Offensichtlichkeit der einschlägigen Bekundungen leugnen zu wollen - „das Eigentumsrecht ist das heiligste der Rechte", „der Staat ist um des Eigentums willen ins Leben getreten" etc. sie sollten nicht überbewertet werden. Das hermeneutische Prinzip der Kontextberücksichtigung mahnt zur Vorsicht. Letztlich wird ihnen keine Entfaltung gegönnt; sie prägen nicht das politische Leben, das Rousseau im Artikel zeichnet. Der Residualliberalismus bleibt im Begründungstheoretischen stecken und zeitigt keine politischen Folgen.
In welchem Maße der Republikanismus den Besitzindividualismus übermannt, zeigen Rousseaus Vorstellungen von einer gerechten Besteuerung. Zum einen verlangt er, dass sich die Höhe des Vermögens in der Höhe der Steuer spiegelt. Aber mit einer progressiven Einkommensteuer ist es beileibe nicht getan. Denn es ist auch das „Verhältnis der Verwendungsweisen (der Güter)" (le rapport des usages)126 zu beachten; Rousseau meint damit den Unterschied zwischen dem, was für die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse unerlässlich ist, und dem, was überflüssiger Luxus ist. „Wer nur das einfach Notwendige hat, braucht überhaupt nichts zu bezahlen. Die Besteuerung desjenigen aber, der Überfluss hat, kann notfalls bis zur gesamten Habe gehen, die das Notwendige übersteigt. Er wird einwenden, dass das, was für einen untergeordneten Menschen Überfluss wäre, für ihn, seinem Rang nach, das Notwendige ist. Aber das ist eine Lüge. Denn auch ein Großer hat nur zwei Beine wie ein Kuhhirt, und hat, wie er, auch nur einen Magen." Diese Ausführungen münden in eine Kritik des sozio-ökonomischen Inegalitarismus, die direkt an die furiose Gesellschaftskritik des zweiten Diskurses anschließt und in einer satirisch zugespitzten Wiederholung des Betrugs Vertrags der Reichen gipfelt. Auch hier erinnert Rousseau daran, dass die Vorteile der sozialen Vereinigung höchst ungleich sind: Während der Reiche mit jedem Tag, an dem er reicher wird, mehr davon profitiert, sucht der Arme vergeblich nach den Vorzügen des gefestigten sozialen Zusammenlebens.

Diese Spannung zwischen Grundlagenliberalismus und politisch-ethischem Republikanismus, die den in dem zweiten Discours angegriffenen Lockeanismus zugleich zur Basistheorie erhebt und in Gestalt einer ungleichheitsmehrenden Eigentums- und Eigentümerherrschaft kritisiert, wird wohl daher rühren, dass Rousseau dem modernitätsaffirmativen Programm der Enzyklopädisten entgegenkommen musste. Er ist den Planem der Enyzklopädie in den Grundlagen entgegenkommen; er hat ihnen einen basalen Lockeanismus präsentiert, der modernen Eigentümergesellschaft opportunistischen Tribut gezollt, um jedoch sofort alle Zugeständnisse unter eine dichte republikanische Decke zu stecken, so dass ihnen jeder politischer Entfaltungsraum genommen wird. So erklärt sich die Passage von der Verpflichtung der Regierung zur Tugenderziehung, so erklärt sich das Besteuerungskapitel, das mit Locke'schem Zungenschlag anhebt und in einer Klage über die unfairen Auswirkungen des formal-egalitären Vertrags und die Kritik einer ungleichheitsmehrenden Eigentumsgesellschaft endet. Auch hier wird schnell der Rechtsdiskurs verabschiedet und durch den Tugenddiskurs ersetzt. Nicht das Recht der Bürger und Eigentümer ist der normative Bezugspunkt der Wirtschaftspolitik der Regierung, sondern die Tugendsicherung. Auf einer lockeanischen Grundlage wird so eine republikanische Wirtschaftspolitik skizziert, die nicht nur die erforderlichen Staatseinnahmen sichert, sondern vor allem auch Bereicherungsbekämpfung ist. So wird einmal der von den Aufgaben der Regierung abgelesene Finanzbedarf zur Grundlage des Steuerwesens; zum anderen aber soll die Steuer auch dafür sorgen, dass die Gewinnmargen nicht allzu hoch ausfallen. „Wichtig ist, zwischen dem Preis der Waren und den Steuern, mit denen man sie belegt, eine Beziehung herzustellen, so dass die Habgier der Privatleute nicht durch die Größe des Gewinns angestachelt wird."127 Steuerpolitik hat einen ethischen Auftrag; die Steuer ist ein Instrument, um Ungleichheit zu minimieren und die schädlichen Auswirkungen des Reichtums einzudämmen.

Diese republikanische Umstellung der Steuererhebung ist gegen puritanische Auswüchse nicht gefeit. Das wird bei der Luxussteuer deutlich. Luxusgüter zu besteuern ist nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit, es ist vor allem von großem volkspädagogischem Nutzen und zur Sittenstärkung geboten. Nicht die Mehrung der Staatseinnahmen ist das Ziel, sondern die Minderung des Luxus. Mit geradezu Savonarola-haftem Eifer trägt Rousseau einen Scheiterhaufen steuerpflichtiger Überflüssigkeiten und Eitelkeiten zusammen.

„Man sollte Gebühren erheben auf Dienerkleidung, auf Kutschen, auf Spiegel, Lüster und Möbel, auf Stoffe und Vergoldungen, auf die Höfe und Gärten von Herrenhäusern, auf Schauspiele aller Art, auf Müßiggängerberufe wie Possenreißer, Sänger, Schauspieler. Mit einem Wort, auf diese Menge von Gegenständen des Luxus, der Vergnügungen und des Müßigganges, die in die Augen stechen und die umso weniger zu verbergen sind, weil ihr einziger Zweck ist, sich zu zeigen, und die unnütz wären, wenn man sie nicht sehen könnte."128

Es ist evident, dass sich hier ein antizivilisatorischer Affekt bemerkbar macht, der bereits im ersten Discours sichtbar ist, der aber wenig mit der politisch sinnvollen Fragestellung zu tun hat, wie die sozio-ökonomischen Verhältnisse gestaltet werden müssen, damit das Gemeinwesen seinem vertraglichen Zweck entsprechen kann und jedem Bürger Sicherheit, Freiheit und ein hinreichend zufrieden stellendes Auskommen garantieren kann. Hier schlägt der Republikanismus in Higendterror um.

Es ist Aufgabe der Regierung, alle ungleichheitsmehrenden Entwicklungen zu bekämpfen und für ein sozio-ökonomisches Gleichmaß zu sorgen. Ihr Leitstern ist die „mediocrite"129, die Mittelstellung zwischen Arm und Reich. Sobald die sozio-ökonomische Homogenität aufgelockert wird, tritt die Bürgerexistenz hinter die aufdringlichen sozio-ökonomischen Charaktere des Reichtums und der Armut zurück. Annähernde Besitzgleichheit ist eine Vorbedingung republikanischen Gelingens. Annähernde Besitzgleichheit ist aber auch die Voraussetzung effektiver Rechtsanwendung. An den beiden Rändern der Gesellschaft verliert das Recht an Einfluss; sowohl die Bezirke der Reichen als auch die Bezirke der Armen sind rechtsfreie Räume. Und da die Individuen um der Sicherheit ihrer Rechte - im Kontext des Artikels über Politische Ökonomie: ihrer Locke'schen Grundrechte - willen sich vertraglich vereinigt und eine Regierung eingesetzt haben, ist die für Rechtssicherheit aufkommende Regierung gehalten, auch deren sozio-ökonomischen Voraussetzungen zu garantieren. „Allein in der gesellschaftlichen Mitte vermögen die Gesetze ihre Wirksamkeit zu entfalten. Sie sind gleichermaßen ohnmächtig gegenüber den Schätzen der Reichen und der Not der Armen."130

3. Politische Arithmetik und Regierungsform

Die Stabilität eines republikanischen Gemeinwesens ist davon abhängig, dass Volk, Souverän und Regierung in einem genau ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen. Nicht nur kommt es darauf an, dass jedes dieser drei Elemente sich auf seine ihm staatsrechtlich zugewiesene Funktion beschränkt, der Souverän ausschließlich Gesetze erlässt, die Regierung sich mit dem Regieren begnügt und das Volk am Gehorsam festhält, wichtig ist auch ihr Größenverhältnis. Die soziale Kontrolle nimmt mit zunehmender Bevölkerungsgröße ab; in der Anonymität der Masse wird das Motiv, sich durch sittlichen Konformismus die Achtung der sozialen Partner zu verschaffen, unwirksam. Somit fällt die Unterstützung der Gesetze durch Sitte und Gewohnheit fort. Die Regierung muss ihren Zwangsapparat ausbauen, um die sich immer weiter vergrößernde Schere zwischen Gesetz und sittlicher Befolgungsbereitschaft zu überbrücken. Je größer die Bevölkerung des Staates, desto stärker muss die Regierung auftreten. Desto stärker muss aber auch der Souverän sein, damit er die Regierung in Schach halten kann. Da sicherlich die von einer steigenden Bevölkerungszahl verlangte Stärkung der Regierung auch und vor allem eine Vermehrung des Regierungspersonals impliziert, entsteht ein Problem, denn mit den Beamten ist es nach Rousseau wie mit den Gesetzen: je weniger, desto besser. Ein Gemeinwesen, das viele Gesetze benötigt, ist im Niedergang begriffen. Eine Regierung, die zahlreiche Beamte benötigt, ist schwach, da sie einen Großteil ihrer Energie für die interne Kontrolle und die Sicherung des reibungslosen Ablaufs der Behördengeschäfte abzweigen muss, der, so Rousseaus Vorstellung von der Regierungsmacht als Nullsummenspiel, der Erfüllung ihrer eigentlichen Pflichten nicht mehr zur Verfügung steht.

So unerlässlich die Regierung ist, so darf nicht übersehen werden, dass sie eine beträchtliche politische Gefahrenquelle darstellt. Denn um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, um wirksamen Dienst am Allgemeinen leisten zu können, muss sie als einheitliche Körperschaft agieren; sie muss die identitätsbildende Strategie der politischen Gesellschaft übernehmen, selbst ein allgemeines Regierungs-Ich ausbilden, sich eine corporate identity zulegen, Korpsgeist und Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Sie benötigt einen Gruppenwillen, der den Einzelwillen ihrer Mitglieder aufsagt und so die effizienzsichernde Gemeinschaftlichkeit garantiert. Die Regierung ist also der einzige Bereich in der Republik, wo um der Allgemeinheit willen die Ausbildung eines durchsetzungsfähigen Sonderwillens erwünscht ist. Nur muss gleichzeitig sichergestellt werden, dass dieser Sonderwillen seine segensreiche Tätigkeit ausschließlich der Allgemeinheit widmet, dass die Gruppenintegration nur dafür sorgt, dass das Widerstandspotenzial der individuellen Eigensinnigkeit in den Mitgliedern des Regierungsapparats entschärft wird. Wenn sich hingegen der Sonderwille als Sonderwille nach außen richtet und dem Allgemeinwillen Konkurrenz macht, nach Eigenmacht verlangt und die Bürgerversammlung übergeht, dann wird die Regierung zur Totengräberin der Republik.

Wird die Regierung einem übertragen, der sich dann seine Minister sucht, dann haben wir eine monarchische Regierungsform. Wird die Regierung von einer Gruppe geleitet, dann ist die Regierungsform aristokratisch. Macht sich die legislatorische Versammlung selbst vollständig oder mehrheitlich zum Gouverneur, dann liegt eine demokratische Regierungsform vor. Welche dieser Regierungsformen ist nun die beste? Das hängt davon ab, ob man nach einer normativ besten oder nach einer politischtechnisch besten Regierungsform fragt. Da die Regierung nach Rousseau sich auf den Tätigkeitsbereich der Exekutive beschränkt, dürfen wir Rousseaus Trias der Regierungsformen nicht mit der traditionellen Verfassungslehre vermischen. Es gibt kein Kriterium, mit dessen Hilfe die normative Vorzugswürdigkeit einer Regierungsform festgestellt werden könnte. Natürlich kann eine Regierung korrupt sein, machtgierig und sich als Feind der Republik entpuppen, nur hängt das nicht von der Personalstruktur ihrer Leitung ab. Das einzige Kriterium, mit deren Hilfe sich die drei Regierungsformen gewichten lassen, ist politisch-technischer Natur; es ist das Kriterium der Effizienz. Die beste Regierungsform ist diejenige, die unter den je gegebenen Bedingungen der fest umrissenen Funktion der Regierung am besten entsprechen kann. Und da die Gegebenheiten unterschiedlich sind, wird mal eine demokratische, mal eine aristokratische und mal eine monarchische Regierungsform besser sein als die anderen. Als Faustregel gibt Rousseau an, dass die Zahl der obersten Magistrate, also der Regierungschefs, im umgekehrten Verhältnis zur Bevölkerungszahl bzw. zur Größe der Bürgerversammlung stehen muss. Daraus folgt, dass die demokratische Regierungsform sich für kleine Staaten empfiehlt, die aristokratische Regierungsform für Staaten von mittlerer Größ^ynddie Monarchie für ^roßeStäatcn:13r

Demokratie bedeutet nach Rousseau, dass ein und dieselbe Körperschaft Gesetze gibt und Gesetze vollzieht. Diese Machtkonzentration ist in seinen Augen bedenklich. Sie kann nur zum Nachteil der Qualität beider Funktionen geraten. Die legislatorische Qualität ist wesentlich daran geknüpft, dass die Beschlüsse der Versammlung durch einen doppelten Allgemeinheitsfilter laufen. Wenn nun die Bürger zugleich Gouverneure sind, dann wird ihre legislatorische Allgemeinheitsperspektive durch Einzelfallaufmerksamkeit korrumpiert. Über die gleichzeitige Regierungsverantwortung wird die Bürgerversammlung für die Ansprüche von Einzelinteressen und Sonderinteressen durchlässig. Die volonte generale verbirgt sich.

Die Demokratie ist überdies aus pragmatischen Gründen noch unwahrscheinlicher als die Republik. Denn die Republik hat eine Bürgerversammlung, zu der die Bürger gelegentlich zusammenkommen, und eine Schar von bezahlten Regierungsbeamten. Wenn der Souverän jedoch selbst die Regierung übernimmt, wird das Land verkommen müssen. Wer sollte denn die Güter produzieren, die die Bevölkerung zum Überleben braucht, wenn alle Bürger zugleich Berufsbeamte wären? „Man kann sich nicht vorstellen, dass das Volk ständig zusammenbleibt, um über die Staatsangelegenheiten zu beraten" (III.4; 404; 128). Weiterhin verdient die Demokratie größtes Misstrauen, weil sie die unbeständigste Regierungsform ist, überaus bürgerkriegsanfällig und fortwährend inneren Aufständen ausgesetzt. Um diesen Verbund als Volksherrschaft und Volksregierung politisch zu stabilisieren, bedürfte es eines „Volks von Göttern", denn normale Menschen würden das Maß an Tugendhaftigkeit, das sie die Verführungen dieser ungeteilten Gewalt erfolgreich bestehen ließe, nicht aufbringen können (III.4; 406; 130).