Morphologie, soziale
Die auf Emile Durkheim (1858-1917) zurückgehende Bezeichnung soziale Morphologie steht für die Untersuchung der materiellen Formen des Sozialen. Gemeinsam mit ihrem Gegenstück, der „sozialen Physiologie", bildet die soziale Morphologie für Durkheim den Gegenstandsbereich der Soziologie, der zwar streng arbeitsteilig organisiert ist, stets aber auf die Einheit und gegenseitige Durchdringung beider Bereiche abzielt: Während die Physiologie den sozialen Funktionszusammenhang der Gesellschaft untersucht, widmet sich die Morphologie dem materiellen Substrat (Durkheim) der Gesellschaft. Darunter fallen all diejenigen Phänomene, bei denen das Soziale eine sichtbare und greifbare Gestalt annimmt. Dazu zählen die Ausdehnung einer Gesellschaft, die Anzahl ihrer internen Gliederungen, die Größe, Dichte und Verteilung der Bevölkerung auf einem Territorium sowie die Dinge und Sachverhältnisse (vgl. Linde, 1972), die das kollektive Leben prägen.
Entgegen des in der Soziologie vorherrschenden Trends zur Sachabstinenz rechnet Durkheim ausdrücklich Dinge und Sachverhältnisse zur Sozialwelt hinzu. Artefakte wie Wohnstätten, Werkzeuge, Verkehrswege, Verkehrsmittel und Kleidung sind demnach ebenso soziale Tatbestände wie immaterielle „Dinge" (z. B. das gesatzte Recht, die geltende Moral). Beiden Dingwelten gemeinsam ist, dass sie eine vom Willen des Einzelnen unabhängige Einzelexistenz führen. Sie drängen sich dem Einzelnen von außen auf und üben einen verhaltensdeterminierenden Zwang auf das Individuum aus. Eben das macht sie in Durkheims Perspektive zu sozialen Tatbeständen.
Das Interesse an den materiellen Erscheinungsformen der Gesellschaft und an ihrer physischen Natur führt Durkheim zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Nachbardisziplinen der Soziologie. In der von ihm begründeten Zeitschrift L'Annee Sociologique, in der sich auch ein programmatischer Beitrag zur sozialen Morphologie aus seiner Feder befindet, werden wie selbstverständlich auch Forschungsarbeiten aus Ökonomie, Ethnologie, Anthropologie, Demographie, Sozial- und Anthropogeographie rezipiert. Während Durkheim in seinen eigenen Arbeiten die Physiologie in den Mittelpunkt stellt, widmen sich seine Schüler Marcel Mauss (1872-1950) und Maurice Halbwachs (1877-1945) ausführlich dem bei Durkheim letztlich nur angedeuteten Programm einer sozialen Morphologie. Mauss zeigt z. B. anhand einer Untersuchung von Eskimogesellschaften exemplarisch den Zusammenhang zwischen materiellen Formen einer Gesellschaft und ihren kollektiven Tätigkeiten auf. Die Eskimovölker leben zu verschiedenen Zeiten des Jahres nicht nur in unterschiedlichen sozialen Formationen, sondern üben auch je nach Jahreszeit verschiedene Tätigkeiten aus. Während im Sommer jede Familie für sich allein in einem kleinen Rundzelt lebt und sich den Dingen des täglichen Lebens widmet, schließen sie sich im Winter zu Großfamilien in großen Langhäusern zusammen und gehen insbesondere religiösen Tätigkeiten nach. Mauss legt Wert auf die Feststellung, dass der von ihm aufgezeigte Zusammenhang von wechselnder Morphologie und wechselnden Tätigkeiten an diesem Beispiel besonders gut sichtbar wird, in anderen Gesellschaften aber ebenso nachgewiesen werden könnte.
Insbesondere bei Halbwachs macht die Beschäftigung mit der sozialen Morphologie einen der Hauptschwerpunkte seiner Arbeit aus. In immer neuen Anläufen hat er sich diesem Feld zugewandt und dabei am Ende ein sehr viel umfangreicheres und präziseres Verständnis von den Aufgaben einer sozialen Morphologie vorgelegt als sein Lehrmeister. Seine grundsätzliche Annahme lautet dabei nicht nur, dass Gesellschaften sich in materiellen Manifestationen ausdrücken, sondern, dass sie auch selbst als lebende und stoffliche Mengen anzusehen sind. Der kollektive Körper nimmt wie ein individueller Körper einen bestimmten Raum ein, weist eine bestimmte Gestalt auf, bewegt sich, kann wachsen oder schrumpfen und unterliegt daher permanenten Veränderungen. Vergesellschaftung ist nach Halbwachs damit niemals als ein statischer, sondern immer als ein dynamischer Prozess anzusehen.
Religion, Politik, Ökonomie und weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bleiben für Halbwachs so lange unverstanden, wie man sie als bloße Ideen und abstrakte Konstrukte behandelt. Entscheidend für ein vollständiges Bild ihrer Bedeutung erlangt man dagegen erst durch eine genaue Analyse ihrer räumlichen Manifestationen. So wie es insgesamt für die Entwicklung einer Gesellschaft durchaus von Belang ist, ob sie sich auf einer Insel befindet und damit über einen Zugang zum Meer verfügt, oder ob ihre Bevölkerung zumeist in von hohen Bergen umgebenden Tälern wohnt, so übt auch die Anzahl, Anlage und Aufteilung der bedeutenden Stätten, Klöster und Heiligtümer etwa der christlichen Religion einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Intensität der Glaubensvorstellungen ihrer Anhänger aus. In noch stärkerem Ausmaß sind politische Gemeinwesen von räumlichen Gegebenheiten abhängig: So ist es für Halbwachs kein Zufall, dass die ersten Demokratien am Meer entstanden sind. In Anlehnung an Platon (427-347 v. Chr.) und Jean- Jacques Rousseau (1712-1778) ist er davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Größe eines Staates und seiner Regierungsform gibt. Und hinsichtlich der ökonomischen Morphologie beschreibt Halbwachs ausführlich, dass die verschiedenen ökonomischen Klassen dazu neigen, sich auf verschiedene Quartiere der Stadt aufzuteilen. In diesem Punkt gibt es auffallende Berührungspunkte mit der Chicagoer Schule der Sozialökologie.
Trotz der Betonung der Bedeutung des Raums für eine umfassende Gesellschaftsanalyse sind es jedoch nicht die räumlichen Artefakte selbst, die das Interesse der sozialen Morphologie auf den Plan rufen. Die Aufmerksamkeit der Soziologie verdienen sie nach Halbwachx' Verständnis nur deshalb, weil das Materielle und Stoffliche Einblicke in die Neigungen, Vorstellungen und Bedürfnisse der Menschen und ihrer „Lebensweise" verschafft. Die räumlichen Artefakte fungieren gleichsam als Botschafter, die von längst vergangenen gesellschaftlichen Zuständen und den Vorstellungen ihrer Bewohner berichten können. Im Einklang mit Auguste Comte (1798-1857) und Durkheim ist Halbwachs der Auffassung, dass die materiellen Formen des gesellschaftlichen Lebens, dass also die Orte, Gebäude, Plätze, Häuser und Straßen dem kollektiven Leben der sozialen Gruppen, ein Gefühl der Regelmäßigkeit und Stabilität inmitten einer sich permanent im Umbruch befindlichen Gesellschaft vermitteln.
Bei der sozialen Morphologie handelt es sich um einen soziologischen Ansatz, dem im Kontext der Wiederentdeckung der Kategorie des Raums und eines neuen Interesses an der Materialität eine unverhoffte Renaissance beschieden sein dürfte.
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