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Mobilität, soziale

Soziale Mobilität bedeutet die Bewegung von Personen oder Personengruppen zwischen verschiedenen sozialen Positionen. Das Ausmaß der sozialen Mobilität wird häufig als Indikator für die Chancengleichheit in einer Gesellschaft interpretiert. Entsprechend zentral ist die Analyse sozialer Mobilität für die Beschreibung von Gesellschaften sowie für die Rechtfertigung bestehender Verteilungsungleichheiten.

Die (soziale) Mobilitätsforschung betrachtet vornehmlich Individuen und ihren Wechsel zwischen sozialen Positionen. Daneben gibt es auch zahlreiche Studien, welche die sozialen Bewegungen von Personengruppen analysieren, insbesondere ganzer Haushalte oder Familien. Bei der Analyse des Mobilitätsverhaltens größerer Gruppen (z. B. Arbeiter) spricht man von kollektiver sozialer Mobilität.

Für die Untersuchung von sozialer Mobilität muss festgelegt werden, welche sozialen Positionen in einer betreffenden Gesellschaft unterschieden werden sollen. In soziologischen Mobilitätsstudien werden meist arbeitsmarktbezogene soziale Positionen zugrunde gelegt. Häufig erfolgt die Einteilung in soziale Klassen (z. B. Arbeiterklasse, Selbstständige, Professionen), gelegentlich auch in Statusgruppen, Prestigegruppen oder in soziale Schichten. In der Ökonomie hingegen werden insbesondere Einkommenspositionen betrachtet (z. B. das reichste oder ärmste Fünftel in der Einkommensverteilung).

Neben der Messung der sozialen Position muss bestimmt werden, was die Bezugsgröße für den Vergleich der jeweiligen sozialen Position ist. Betrachtet man den Wechsel sozialer Positionen von ein und derselben Person (oder Personengruppe) über eine gewisse Zeit hinweg, so spricht man von intragenerationaler sozialer Mobilität oder Karrieremobilität. Vergleicht man die soziale Position einer Person mit der Position ihrer Eltern, so spricht man von intergenerationaler sozialer Mobilität. Letztere Sichtweise ist in der soziologischen Forschung die häufigere Betrachtung.

Ausgehend von den verschiedenen sozialen Positionen kann zwischen vertikaler und horizontaler sozialer Mobilität unterschieden werden. Vertikale soziale Mobilität bedeutet, dass der Wechsel zwischen sozialen Positionen einen sozialen Auf- oder Abstieg mit sich bringt (Arbeiterkinder werden zu leitenden Angestellten; Personen rutschen vom reichsten Fünftel ins ärmste Fünftel der Einkommensverteilung). Horizontale soziale Mobilität bedeutet, dass es zwar einen Wechsel der sozialen Positionen gegeben hat, diese sozialen Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie aber mehr oder weniger auf der gleichen Stufe anzusiedeln sind (z. B. Facharbeiter und qualifizierte Fachangestellte).

Das Ausmaß sozialer Mobilität wird durch absolute und durch relative Mobilitätsraten beschrieben. Bei absoluten Raten werden alle Individuen oder Personengruppen gezählt, deren soziale Positionen sich verändert haben, und dann als Anteil der Mobilen an der Gesamtheit berechnet. In Deutschland sind intergenerational beispielsweise gut 70 Prozent der Menschen mobil, d. h. sie haben eine andere Klassenposition als die Vätergeneration. Ein Gutteil dieser Mobilität ist strukturell bedingt: Es gibt für die heutige Generation beispielsweise weniger Positionen in der Landwirtschaft oder in der Industrie im Vergleich zur Elterngeneration, dafür aber deutlich mehr Positionen im Dienstleistungsbereich. Relative Mobilitätsraten geben die Chancen an, über die strukturellen Veränderungen hinaus sozial mobil zu sein; sie sind von dem rein strukturell bedingten Anteil der sozialen Mobilität bereinigt. Dies wird anschaulich, wenn man sich die Gesellschaft als Leiter vorstellt, deren Sprossen die Hierarchie der Gesellschaft wiedergeben. Es ist denkbar, dass die gesamte Leiter nach oben geschoben wird. Dabei erlebt jeder einen sozialen Aufstieg, aber die Reihenfolge der Personen auf den Sprossen bleibt gleich. Man hätte absolute Mobilitätsraten von

100 Prozent, aber die relativen Raten wären „null ", da es innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie keine Veränderung gibt. Relative Mobilitätsraten werden meist in Chancenverhältnissen (bei zugrunde liegenden Klassenschemata) oder in Korrelationen und Elastizitäten (bei zugrunde liegenden linearen Einkommensmessungen) ausgedrückt. Eine früher übliche Unterscheidung zwischen struktureller Mobilität und Zirkulationsmobilität wird heute nicht mehr verwendet.

Das Konzept der sozialen Mobilität und deren Folgen werden bereits bei den soziologischen Klassikern (u. a. Marx, Weber, Durkheim) diskutiert. Die meisten Vorhersagen zu sozialer Mobilität sind makrotheoretische Ansätze: Pitirim Sorokin (1889-1968) beschreibt bereits 1927 die gesellschaftlichen Auf- und Abstiege in der Geschichte als „trendless fluctuation", ein Begriff, der auch in der zeitgenössischen Diskussion wiederholt gebraucht wird. Die liberale Theorie des Industrialismus (Kerr et al., 1960, Blau & Duncan, 1967; Treiman, 1970), die auf strukturfunktionalistische Ideen von Talcott Parsons (1902-1979) zurückgeht, besagt, dass es in Industriegesellschaften eine hohe soziale Mobilität gibt, die weiterhin zunimmt. Aufwärtsmobilität, so die Vorhersage, findet dabei häufiger statt als Abwärtsmobilität, und es kommt zu einer Angleichung der Mobilitätschancen aller. Neo-marxistische Ansätze (Braverman, 1974, Wright & Singelmann, 1982) sagen aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eine verstärkte Abwärtsmobilität und damit einhergehend eine zunehmende Proletarisierung der gesellschaftlichen Mitte voraus.

Die bekannteste und empirisch am ehesten zutreffende Hypothese in der Mobilitätsforschung stammt von Featherman, Jones und Hauser (1975). Sie besagt, dass in Industriegesellschaften mit Marktwirtschaft und Kernfamilien die intergene- rationalen relativen Mobilitätsraten weitgehend gleich sind - was in der Literatur dahingehend interpretiert wird, dass die Raten zeitlich ebenfalls konstant sind.

Robert Erikson und John Goldthorpe haben in ihrer klassischen Studie „The Constant Flux" (1992) ein Modell zur Überprüfung dieser „FJH-Hypothese" entwickelt (CORE-Modell) und mit Daten mehrerer industrialisierter Länder überprüft. Sie kommen zu dem Schluss, dass ihr Modell und damit die Hypothese bis auf wenige Ausnahmen zutreffen. Diese Befunde haben Richard Breen und seine Co-Autoren in ihrer Studie „Social Mobility in Europe" (2004) mit umfassenderen Daten und mehr Ländern nur zum Teil bestätigen können. Zwar passt das CORE-Modell von Erikson und Goldthorpe nach wie vor recht gut, aber in den meisten untersuchten Ländern gibt es einen Trend zu mehr sozialer Mobilität über die Zeit, d. h. die Chancengleichheit in industrialisierten Gesellschaften nimmt zu. Dabei wird für einzelne Länder anhand des sogenannten Mobilitätsdreiecks bereits gezeigt, wie bedeutend der vermittelnde Einfluss der Bildung für das Ausmaß intergeneratio- naler sozialer Mobilität ist. Das Mobilitätsdreieck modelliert die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, eigener Bildung und eigener sozialer Position.

Für Deutschland nahm die intergenerationale soziale Mobilität im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu (Pollak, 2013). Besonders die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Menschen erfuhren häufig soziale Aufstiege. Diese kommen heute in Deutschland bei Männern in Westdeutschland noch doppelt so häufig vor wie soziale Abstiege. Bei Frauen und bei ostdeutschen Männern halten sich Auf- und Abstiege die Waage. Die relativen Mobilitätsraten gleichen sich zunehmend zwischen Ost und West an. Während in Westdeutschland die soziale Mobilität zunimmt, geht das ehemals höhere Mobilitätsniveau in Ostdeutschland über die Zeit hinweg zurück.

Neuere Mobilitätsstudien zeigen, dass die Vererbung von Klassenpositionen (z. B. Arbeiterklasse) über Generationen hinweg im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass Söhne und Töchter die gleichen Berufe wie ihre Eltern wählen (Jonsson et al., 2009). Weitere Ansätze zur Untersuchung von sozialer Mobilität bilden Ge- schwisterstudien, auch wenn sich das Herstellen kausaler Zusammenhänge schwierig gestaltet: Ob die Ähnlichkeiten zwischen den sozialen Positionen erwachsener Geschwister von der Familie, der Nachbarschaft, der Schulbildung oder anderen gemeinsamen Faktoren ausgehen, lässt sich nur schwer beantworten. Studien, die die Einkommensposition eines Haushalts betrachten, umgehen das Problem, dass Nichterwerbstätige und Langzeitarbeitslose in Klassenschemata schlecht abgebildet werden können. Intragenerational gibt es hierzu solide Befunde, intergenerational ist die Datenlage hierzu jedoch eher dünn (siehe aber Schnitzlein, 2009).