Minderheiten
Die Unterscheidung zwischen einer Mehrheitsbevölkerung und unterschiedlichen Minderheiten (religiöse, politische, sexuelle, ethnische u. a.) ist gesellschaftlich gängig und einflussreich. Soziologisches Grundmerkmal von Minderheiten ist jedoch nicht nur das Zahlenverhältnis zwischen Mehrheit und Minderheiten, sondern erstens die Annahme, dass eine Minderheit Merkmale aufweist, die sie von dem unterscheidet, was als typische Normen, Werte, Muster der Lebensführung usw. der Mehrheit gilt. Zweitens ist das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit soziologisch als ein Machtverhältnis zu betrachten. Deshalb ist zwischen privilegierten und benachteiligten Minderheiten zu unterscheiden. Minderheitenangehörige sind dann gezwungen, sich mit der mehrheitsgesellschaftlichen Zuweisung einer „auferlegten Identität" (Alfred Schütz) sowie der Behauptung auseinander zu setzen, dass sie anders seien als die „normalen" Gesellschaftsmitglieder.
Minderheiten sind vielfach Feindbildern, Vorurteilen und Praktiken der Diskriminierungen seitens der Mehrheit ausgesetzt. Dies verbindet sich wiederkehrend mit Formen der sozialen Benachteiligung in bzw. Ausgrenzung durch Organisationen sowie mit sozialräumlicher Abgrenzung. Angehörige von Minderheiten reagieren auf die Erfahrung der Benachteiligung, Ausgrenzung und Diskriminierung regelmäßig entweder mit einem Rückzug auf die Lebenszusammenhänge und Identifikationsangebote der jeweiligen Minderheit, oder aber durch verstärkte Bemühungen der Anpassung an die Mehrheit (Assimilation). Welche Merkmale einer Minderheit zugeschrieben werden und als bedeutsam gelten, hängt von den Strukturen, Werten und Normen der jeweiligen Gesellschaft sowie der Art und Weise ihrer Durchsetzung ab. Bereits Max Weber (1864-1920) wies in seiner Kritik des zeitgenössischen Rassismus darauf hin, dass objektiv geringe Unterschiede zwischen Mehrheit und Minderheit weitreichende Folgen haben können, während in anderen Fällen bedeutsame Unterschiede folgenlos bleiben. Damit erweist es sich als obsolet, die Ursachen von Vorurteilen und Diskriminierungen in den Eigenschaften von Minderheiten selbst zu suchen.
Georg Simmel (1858-1928) argumentiert in seinem „Exkurs über den Fremden", dass Minderheiten soziologisch immer nur in Relation zur Mehrheit zu verstehen sind. Gegenstand der Soziologie sind demnach Mehrheit-Minderheiten-Be- ziehungen. Er formuliert: „Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfaltigen ,inneren Feinde'„. So betrachtet sind Minderheiten also Gruppen in Bezug auf eine Mehrheit, die ihnen diese Position zuweist und sich dadurch selbst als dominante Gruppe bestimmt. Da sich der Minderheitenbegriff nach dieser weiten Definition kaum von den Begriffen wie Randgruppen und Außenseiter abgrenzen lässt, wird er häufig eingegrenzt und nur auf solche Gruppen bezogen, die nach nationaler Herkunft sowie religiösen und kulturellen Merkmalen von der Bevölkerungsmehrheit in einem Nationalstaat unterschieden werden oder für sich selbst eine solche Unterscheidung beanspruchen. D. h.: Zwischen Prozessen der Fremdzuschreibung von kollektiven Merkmalen und Identitäten einerseits und der Beanspruchung von ethnischen, religiösen usw. Be- sonderheiten durch Minderheiten andererseits ist zu unterscheiden, auch wenn beide Seiten gewöhnlich aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig beeinflussen.
Gegenstand empirischer Untersuchungen wurde die Situation von Minderheiten zuerst in der amerikanischen Soziologie der sog. Chicago School der 1920er und 1930er Jahre (Ernest Burgess, Robert E. Park, Thomas Znaniecki). Dort wurde das Problem eingewanderter Minderheiten und ihrer ethnischen und rassistischen Diskriminierung als eines der vorrangigen sozialen Probleme der Einwanderungsgesellschaft der USA begriffen. Zentrales Thema war dabei weniger die Situation und das Verhalten der Minderheiten als vielmehr die Beziehung zwischen Majorität und Minderheit. Robert Ezra Park (1864-1944) formulierte das Konzept des Einwanderers als „Marginal Man", der sich im Grenzbereich unterschiedlicher Zugehörigkeiten und Kulturen befindet. Grundlegend für die Chicago-Schule ist eine stadtsoziologische Perspektive in Verbindung mit Methoden der qualitativen Sozialforschung. Die von Norbert Elias (1897-1990) in Zusammenarbeit mit John L. Scotson vorgelegte Studie ,Etablierte und Außenseiter' nimmt ebenfalls eine stadt- und gemeindesoziologische Perspektive ein. Dort wird das Verhältnis von ansässiger Mehrheit und zugewanderter Minderheit in paradigmatischer Weise als eine durch Machtverhältnisse und Konflikte um anstrebenswerte Positionen gekennzeichnete Figuration bestimmt.
Seit diesen klassischen Arbeiten hat sich eine umfangreiche soziologische Forschung zur Situation migrantischer Minderheiten entwickelt. Ausgangspunkt hierfür ist in Deutschland die Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren, die vor allem als Anwerbung gering qualifizierter Arbeitskräfte erfolgt ist, denen der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit politische und rechtliche Gleichstellung zunächst verweigert wurde. Erst zum Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine politische Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft erfolgt. Soziologische Forschung untersucht die Ursachen und Folgen der gleichwohl anhaltenden gesellschaftlichen Benachteiligung bestimmter Teilgruppen der eingewanderten Minderheiten. Von zentraler Bedeutung hierfür sind Theorien und Forschungskonzepte, die Formen der strukturellen, institutionell und direkten Diskriminierung in den Blick nehmen. Ein zentrales Ergebnis der einschlägigen Forschung besteht in der Widerlegung der verbreiteten Annahme, dass soziale Benachteiligungen von Minderheiten eine Folge kultureller Unterschiede seien.
Nicht nur Migranten finden sich vielfach in der Position einer benachteiligten Minderheit vor, sondern auch andere gesellschaftliche Teilgruppen, wie die seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Sinti. Der Begriff der Randgruppen ist gegenwärtig kaum mehr gebräuchlich. Er wurde als Bezeichnung für sehr heterogene Bevölkerungsgruppen verwendet, die sozialen Vorurteilen und Stigmatisierungen ausgesetzt sind und aus den sozialen Verkehrskreisen der Mehrheit ausgegrenzt
werden. Auf bestimmte Minderheiten, die als Randgruppen bezeichnet wurden - z. B. psychisch Kranke, Körperbehinderte, Prostituierte, Drogenabhängige, Sektenangehörige, Vorbestrafte, Obdachlose und Nichtsesshafte - richten sich Strategien der sozialen Kontrolle. Die historischen und gegenwärtigen Strategien reichen dabei von Überwachung und Kontrolle und ggf. die Kriminalisierung durch staatliche Institutionen wie die Polizei, über die für Sozialstaat und Soziale Arbeit typischen Mischformen von Hilfe und Disziplinierung bis hin zur Isolierung in Ghettos, Asylen und totalen Institutionen. Damit sind Sachverhalte angesprochen, die in unterschiedlichen Teildisziplinen der Soziologie, insbesondere in der Soziologie sozialer Probleme untersucht werden.
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