Milieu, soziales
Unter einem sozialen Milieu versteht man eine sozialstrukturelle Gruppe gleichgesinnter Menschen, die ähnliche Werthaltungen, Lebensführungen, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen. Die Mitglieder eines sozialen Milieus haben oft ein gemeinsames (materielles, kulturelles, soziales) Umfeld. Sie sehen, interpretieren und gestalten es in ähnlicher Weise. Kleinere Milieus (z. B. Organi- sations-, Stadtviertel- oder Berufsmilieus) haben durch ein gewisses Wir-Gefühl und verstärkte Binnenkontakte einen engeren Zusammenhalt als größere. Der Milieubegriff ähnelt dem Begriff Lebensstil. Beide betonen die „subjektive" Seite der Gesellschaft, d. h. soziale Strukturierungen und Gruppierungen, für die das Denken und Verhalten der Menschen konstitutiv sind. Der Milieubegriff konzentriert sich auf psychologisch „tief " verankerte und vergleichsweise beständige Werthaltungen und Grundeinstellungen von Menschen. Der Lebensstilbegriff richtet sich dagegen vor allem auf äußerlich beobachtbare Verhaltensroutinen.
Noch in den 1960er und 1970er Jahren gingen Sozialwissenschaftler meist davon aus, dass Selbstdefinition, Denken und Verhalten der Menschen vor allem von ihrer Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit geprägt sind. In den 1980er Jahren kamen, angestoßen von Praktikern aus Schule, Marketing und Politik, immer mehr Zweifel daran auf. Mit der Zunahme von Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherheit schien das alltägliche Handeln der Menschen immer weniger von Ressourcenbesitz als von Ressourcenverwendung geprägt zu sein. Die soziale Stellung schien individuell gestaltbarer zu werden.
Die empirische Forschung zeigte seither, dass diese Annahmen teilweise zutreffen. Die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus ist weder völlig von äußeren Faktoren determiniert noch ganz frei wählbar. Die Milieuzugehörigkeit ist bis zu einem gewissen Grade eine Frage des Alters, des Geburtszeitraums (Kohorte), der Lebensform (Haushaltszusammensetzung, Kinderzahl), der Lebensphase, des Geschlechts und der Bildung. Daneben wirken sich auch ökonomische und berufliche Faktoren auf die Milieuzugehörigkeit aus. Die ersten diachronen empirischen Studien weisen darauf hin, dass es schwieriger ist, im Lebenslauf oder in der Generationenfolge die Milieuzugehörigkeit als den Lebensstil zu wechseln. Denn Werthaltungen sind beständiger als Verhaltensroutinen. Im Falle von Krisen oder neuen Kontakten sind Milieuwechsel aber möglich. Soziale Milieus sind als vieldimensionale, ganzheitliche Phänomene definiert. Empirische Studien beruhen daher auf einer Vielzahl von Indikatoren und sind entsprechend aufwändig. Empirische Untersuchungen kamen weithin übereinstimmend zum Ergebnis, dass in Deutschland ca. 8-10 soziale Milieus zu unterscheiden sind. Sie lassen sich überwiegend bestimmten sozialen Schichten zuordnen. Jede soziale Schicht besteht jedoch aus mehreren sozialen Milieus.
In modernen Gesellschaften gehen soziale Milieus fließend ineinander über. Empirisch ermittelte Milieugrenzen geben daher nicht „natürliche" Gruppengrenzen wieder, sondern stellen von Sozialforschern „künstlich" getroffene Unterscheidungen zwischen merkmalsähnlichen Gruppierungen dar. Viele Menschen gehören so mehreren Milieus an oder stehen zwischen ihnen.
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Soziale Milieus sind historisch gewachsen. Sie sind in vielen kulturellen Produkten verankert und werden als Teilkulturen von Gesellschaften in Sozialisationsprozessen übermittelt. Deshalb sind, historisch gesehen, soziale Milieus recht stabil. Dennoch wandelt sich die Milieustruktur von Gesellschaften langsam, u. a. wegen der Veränderung von Lebensbedingungen und sozialer Lagen. Traditionelle Milieus schrumpfen. Sie weisen Werthaltungen auf, die ein Leben in Gemeinschaft und das Befolgen verpflichtender Normen obenan stellen. Dagegen wachsen „moderne" und „postmoderne" Milieus. Ihre Werte betonen individualisiertes und selbstbezügliches Leben. Langfristig sprechen die verfügbaren Befunde für eine allmähliche Pluralisierung sozialer Milieus.
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Forschungsresultate zu sozialen Milieus haben u. a. im Marketing und in der politischen Beratung große Bedeutung. Denn die Zugehörigkeit zu Milieus besagt viel über das alltagspraktische Verhalten in Konsum, Politik, Bildung etc. Die Milieuzugehörigkeit erklärt Verhaltensweisen durch ähnliche Werte und Nutzenerwartungen der Menschen und nicht wie die Schichtzugehörigkeit durch die Verfügbarkeit von Geld oder Informationen. Milieuzugehörigkeit erklärt in begrenztem Ausmaß auch Vergemeinschaftungen, (z. B. in „neuen sozialen Bewegungen") und soziale Konflikte, so auch die latenten symbolischen Kämpfe um Aneignungsprozesse im öffentlichen Raum (z. B. „Gentrification").
Die Erkenntnisse über das Milieugefüge helfen, die Sozialstruktur moderner Gesellschaften insgesamt zu verstehen und zu erklären. Milieutypologien gelten in diesem Zusammenhang als wichtige Ergänzungen zu Schicht- bzw. Klassenmodellen
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