Migration
Migration oder Wanderung im weitesten Sinne ist eine Positionsveränderung einer oder mehrerer Personen im Raum und damit ein Unterfall der horizontalen bzw. räumlichen Mobilität. In Abgrenzung zu anderen, temporären Formen der räumlichen Mobilität (z. B. Urlaubs- und Geschäftsreisen, Besuche und Ausflüge, Pendelverkehr) wird von einer Migration bzw. einer Wanderung allerdings nur dann gesprochen, wenn die Positionsveränderung nicht nur vorübergehend ist und wenn mit ihr ein bestimmter qualitativer Aspekt (,Lebensmittelpunkt') verbunden ist. In der empirischen Forschung gestaltet sich die Präzisierung dieser beiden Kriterien oftmals schwierig und konkrete Operationalisierungen weichen mitunter erheblich voneinander ab. In der amtlichen Statistik wird i.d.R. der Hauptwohnsitz zugrunde gelegt, was allerdings interessante Phänomene ausschließt, die ebenfalls unter den Begriff fallen (z. B. undokumentierte Wanderungen). Die Vereinten Nationen empfehlen, zwischen einer langfristigen (mindestens zwölf Monate) und einer kurzfristigen (mindestens drei Monate) Migration zu unterscheiden (United Nations, 1998).
Je nachdem, welche räumlichen Grenzen durch die Wanderung überschritten werden, lassen sich verschiedene Typen unterscheiden: Internationale Wanderungen betreffen einen Wechsel zwischen Staaten bzw. Nationen. Im engeren Sinne ist die Verwendung des Begriffs der Migration oftmals für den Typus der internationalen Wanderung reserviert. Erfolgt die Wanderung innerhalb eines Staates, wird auch von Binnenmigration (oder: interregionaler Wanderung) gesprochen, wobei diese sich weiter danach differenzieren lässt, welche Regionengrenzen (Bundesländer, Regierungsbezirke, Kreise, Gemeinden) überschritten werden. Wanderungen innerhalb einer Gemeinde werden auch als innerstädtische Wanderungen bzw. Umzüge innerhalb einer Gemeinde bezeichnet.
In Bezug auf eine Migration kann zwischen dem Herkunftsgebiet und dem Zielgebiet unterschieden werden. In Bezug auf ein bestimmtes Gebiet lässt sich zwischen Ein- wanderung (Immigration) und Auswanderung (Emigration) differenzieren. Beide Prozesse gehen neben der natürlichen Bevölkerungsbewegung (Fertilität und Mortalität) in die demographische Grundgleichung ein. Die Differenz zwischen Einwanderungen und Auswanderungen wird als Nettomigration bezeichnet. Bezieht man die absoluten Wanderungen in einem bestimmten Zeitraum auf den (anfänglichen bzw. mittleren) Populationsbestand eines Gebietes, ergeben sich entsprechend Einwanderungsrate, Auswanderungsrate und Nettomigrationsrate.
Weitere Differenzierungen des Migrationsbegriffes werden häufig anhand der hauptsächlichen Motive vorgenommen, die mit der Migration verbunden sind. Eine klassische Typologie bildet dabei die von William Petersen (1958), der zwischen einer ursprünglichen Wanderung (als direkte Reaktion auf die natürliche Umwelt), einer gewaltsamen und zwangsweisen Wanderung (veranlasst durch den Staat bzw. staatsäquivalente Institutionen), freiwilligen Wanderungen (infolge persönlicher Entscheidungen) und Massenwanderungen (motiviert durch die Wanderungen anderer) unterscheidet. Letzteres wird auch als Kettenmigration bezeichnet. Für das jüngere Migrationsgeschehen sind insbesondere die Unterscheidungen zwischen einer Wanderung aus unmittelbar erwerbsbezogenen Gründen (Arbeitsmigration), dem Nachzug von Familienmitgliedern (Familienzusammenführung), der Einwanderung von Flüchtlingen bzw. Asylbewerbern (Asylmigration) und der Einwanderung oftmals rechtlich privilegierter Gruppen, die in anderen Staatsgebieten als ethnische Minderheiten leben, relevant (Han, 2010). Nicht immer lassen sich jedoch eindeutige Motivlagen ausmachen, was solchen Typologisierungsversuchen Grenzen setzt.
Migration gibt und gab es in fast allen der skizzierten Typen und Formen, in allen Gesellschaften und zu allen historischen Zeiten. In der jüngeren Geschichte lassen sich grob vier typische Perioden jeweils dominanter internationaler Migrationsbewegungen ausmachen (Massey et al., 2005): eine merkantile Periode (ca. 1500-1800) im Zuge der Kolonialisierung der vier übrigen Kontinente durch die Europäer; eine industrielle Periode (ca. 1800-1925), die weitgehend geprägt ist durch die Verbreitung der Industrialisierung und die einhergehende Auswanderung von Europäern v. a. nach Nordamerika (USA und Kanada); eine Periode nur begrenzter Migration v. a. nach 1929 während der Weltwirtschaftskrise und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg; und schließlich die jüngste Phase nach-industrieller Migration, spätestens seit 1960, in der zunächst die ehemaligen Auswanderungsländer Nord- und Westeuropas, dann viele industrialisierte Staaten Asiens und Südeuropas - mittlerweile zunehmend auch Osteuropas - zu Ländern mit beachtlicher Einwanderung geworden sind.
In der deutschen Geschichte seit 1945 lassen sich vereinfacht ebenfalls vier größere Abschnitte der Zuwanderung unterscheiden (Münz, Seifert & Ulrich, 1999). In den Nach- kriegsjahren kamen zunächst v. a. Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in großer Zahl in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Mit dem sogenannten Wirtschaftswunder setzte dann spätestens Anfang der 1960er Jahre die massive Arbeitsmigration, v. a. aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei ein. Diese zweite Phase endete 1973 mit dem Anwerbestopp, wurde aber durch eine umfangreiche Migration im Zeichen des Familiennachzuges abgelöst. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre setzte dann eine vierte Phase ein, in der v. a. Asylbewerber und Spätaussiedler, aber auch eine neu einsetzende Arbeitsmigration aus Ostmittelund Osteuropa, das Migrationsgeschehen bestimmten.
Die Gegenstände der Migrationsforschung sind vielfältig. Eine wichtige Aufgabe der empirischen Arbeit bildet die Dokumentation von Wanderungsbewegungen (woher? wohin?) und entsprechender zeitlicher Trends (wann?). Dies ist aufgrund der eingangs angedeuteten konzeptuellen Schwierigkeiten und der generellen Datenlage keineswegs ein leichtes Unterfangen. Über den reinen Umfang hinaus interessiert dabei auch, welche speziellen Teilgruppen (wer?) wandern, was auch als selektive Migration bzw. Migrationsdifferentiale bezeichnet wird. Gegenstand der Migrationstheorie sind allgemeine Erklärungen (warum?) dieser Phänomene und die Integration entsprechender Ansätze. Deren Überprüfung ist dann ein weiteres umfangreiches Feld der empirischen Forschung. Nicht zuletzt aufgrund der enormen gesellschaftlichen Konsequenzen, die mit Ein- und Auswanderungen verbunden sind, liegt ein wesentliches Ziel schließlich darin, zukünftige Wanderungsbewegungen angemessen prognostizieren zu können. Im weiteren Sinne des Begriffes wird unter Migrationsforschung auch die Beschäftigung mit den Folgen der Wanderung geführt, worunter z. B. Prozesse der Integration von Zuwanderern bzw. ethnischen Minderheiten fallen. Diese werden hier unter Zugrundelegung eines engeren Begriffes aber ausgeklammert. Mit seinen ,Gesetzen der Wanderung' gilt Ernest G. Ravenstein (Ravenstein, 1885) als Urvater der Migrationstheorie. In deren Folge herrschen dann zunächst makrotheoretische Ansätze vor, wie die an die Physik angelehnten Gravitationsmodelle der Wanderung, die Makroökonomie und das damit eng verbundene generelle ,Push-Pull-Paradigma'. Letzteres beinhaltet die prinzipielle Vorstellung, dass Migrationen durch ,abstoßende' Faktoren im Herkunftsgebiet einerseits und ,anziehende' Faktoren im Zielgebiet andererseits hervorgerufen werden. Neben klassischen Faktoren wie regionalen Lohnniveaus oder Arbeitslosenquoten rücken dabei zunehmend auch nicht-ökonomische Faktoren mit in den Blickpunkt. Empirische Unzulänglichkeiten bzw. offensichtliche Anomalien der Makroansätze sowie die grundsätzliche Notwendigkeit, auch selektives Migrationsverhalten zu erklären, führen zu einer ,mikrotheoretischen Wende' in der Migrationsforschung. Einen Meilenstein bilden hier die Modelle aus der Humankapitaltheorie. Deren oftmals zu rigide Annahmen werden dann mehr und mehr durch realistischere ersetzt, wobei insbesondere auch auf sozialpsychologische Ansätze zurückgegriffen wird. Die Werterwartungstheorie bildet in gewisser Weise die Symbiose dieser beiden Theoriestränge (Kalter, 2000).
In der aktuellen Migrationsforschung wird u. a. diskutiert, inwieweit all diese klassischen Erklärungsansätze auch noch zur Erklärung aktueller Migrationsphänomene angemessen sind. Unter Stichworten wie ,Globalisierung' und ,Transnationalismus' wird u. a. argumentiert, dass sich nicht nur Richtungen und Gewichte internationaler Migrationsbewegungen verschieben, sondern dass auch grundsätzliche Veränderungen im Typus der Migration zu verzeichnen sind. Migration sei nicht mehr vorwiegend ein unidirektionaler und einmaliger Akt der Verlagerung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Staatsgebiet bzw. eine andere Kultur, vielmehr pendelten Akteure verstärkt zwischen solchen Kulturen und organisierten ihr Leben zunehmend in bi- bzw. multilokalen Kontexten (Faist, 2000).
Da die dominanten Theorieansätze darüber hinaus noch einige Anomalien aufweisen, wird aus all diesen Beobachtungen nicht selten die Notwendigkeit einer erneuten theoretischen Umorientierung abgeleitet, nun wieder hin zu makroperspektivischen Ansätzen, wie etwa der World-Systems-Theorie. Auf der
anderen Seite wird hingegen versucht, die mikroperspektivische Sicht aufgrund ihrer methodologischen Vorzüge im Kern beizubehalten. Allerdings werden zentrale Modifikationen an den grundlegenden verhaltenstheoretischen Annahmen vorgenommen. So betont die Neue Migrationsökonomie etwa das Konzept der Risikoaversion und berücksichtigt den gesamten Haushaltskontext als Rahmen der Migrationsentscheidung. Desweiteren wird verstärkt die Bedeutung von Netzwerkstrukturen bzw. sozialer Kapitalien als zentrales Glied auf der Meso-Ebene hervorgehoben. Mit einer systematischen Rückbindung dieser Konzepte auf die zugrunde liegenden Entscheidungsmodelle und deren entsprechender Dynamisierung erscheinen insbesondere auch Phänomene der Kettenmigration bzw. der sogenannten kumulativen Verursachung von Migrationen behandelbar (Massey et al., 1993).
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