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Mechanismen, soziale

Soziale Mechanismen sind ein Erklärungskonzept in den Sozialwissenschaften und bezeichnen prinzipiell regelhafte und damit kausal wirksame Prozesse, aus denen soziale Phänomene hervorgehen. Mechanismenbasierte Erklärungen verweisen typischerweise auf Verkettungen sozialer Handlungen von einzelnen Individuen oder sozialen Gruppen, durch welche das zu erklärende soziale Phänomen „produ- ziert" wird. Wesentliches Ziel mechanismenbasierter Erklärungen ist die möglichst feinkörnige, d. h. analytisch-präzise Erklärung sozialer Phänomene. Damit ist gemeint, die einzelnen Zwischenschritte aufzudecken, warum und auf welche Weise aus bestimmten sozialen Anfangsbedingungen bestimmte soziale Ereignisse folgen.

Ein bereits von Robert Merton (1910-2003) eingeführtes Beispiel ist die selbsterfüllende Prophezeiung (Merton, 1948): Ein Gerücht über die Zahlungsunfähigkeit einer Bank kann dazu führen, dass zunächst einzelne, schließlich immer mehr Kunden ihre Konten auflösen, was den tatsächlichen Zusammenbruch der Bank bewirken kann. Entscheidend ist, dass nicht die anfängliche (In)Solvenz der Bank zum Bankrott geführt hat, sondern die Überzeugungen (beliefs) der Akteure. Neben Überzeugungen können soziale Mechanismen auch auf Wünschen (desires) basieren: Bei der dissonanzgesteuerten Präferenzformation gleichen Individuen ihre jeweiligen Wünsche an die Wünsche eines oder mehrerer Gegenüber an (z. B. nicht nachhaltige Markenbekleidung statt Fair-Trade-Bekleidung unbekannter Hersteller), weil es sonst zu psychologisch kostspieliger kognitiver Dissonanz kommen würde. Und auch die Opportunitätsstruktur kann bspw. durch Preisänderungen bei sonst gleichen Akteurswünschen und -überzeugungen für verändertes soziales Handeln verantwortlich sein (Hedström, 2005, Kap. 3). Eine Möglichkeit der feinkörnigen Erklärung sozialer Phänomene ist, Wünsche, Überzeugungen oder Opportunitäten von Akteuren als kausal wirksame analytische Einheiten herauszuarbeiten, die entweder jeweils einzeln oder auch gemeinsam (zur Verkettung sozialer Mechanismen siehe Gambetta, 1998) das soziale Phänomen produzieren.

Mechanismenbasierte Erklärungen wurden Mitte der 1990er-Jahre als Reaktion auf zwei methodologische Probleme entwickelt (vgl. Hedström, 2005): Zum einen dominierte in der erklärenden Soziologie das von Hempel und Oppenheim entwickelte deduktiv-nomologische Erklärungsmodell (DN-Modell), welches das zu erklärende soziale Phänomen aus allgemeinen Gesetzen abzuleiten versucht. Diese dürfen in den Sozialwissenschaften zwar grundsätzlich statistisch oder probabilistisch sein (z. B. „Je höher das elterliche Bildungsniveau, desto wahrscheinlicher der Gymnasialübergang nach der Grundschule" statt „Immer dann, wenn..."). Dennoch schützt das DN-Modell zunächst nicht vor Fehlschlüssen wie „Alle Menschen, die die Antibaby-Pille nehmen, werden nicht schwanger. Paul nimmt die Antibaby-Pille. Ergo: Paul wird nicht schwanger". Da das DN-Modell ohne Kenntnis der zu Grunde liegenden kausalen Mechanismen nicht immun gegen irrelevante Gesetze ist (wie im Fall der Antibaby-Pille für Männer), stellt es wohl kein hinreichendes Erklärungsmodell dar. Zum anderen wurde speziell an Studien auf Basis quantitativer Analysen kritisiert, dass sie dazu neigen, statistisch signifikante Ergebnisse (z. B. Regressionskoeffizienten) vorschnell als kausale Effekte zu deuten, ohne die sozialen Prozesse, welche die signifikanten Effekte hervorgebracht haben, erklären zu können. So sagt uns beispielsweise eine statistisch signifikante (negative) Beziehung zwischen sozialem Hintergrund einerseits und Gesundheit andererseits zwar, dass sozial Schwächere tendenziell eine schlechtere Gesundheit aufweisen, nicht aber, warum dies der Fall ist und auf welche Weise der Effekt zu Stande kommt. Die Antwort auf derartige Warum- und Wie-Fragen kann auch nicht in den allgemeinen Gesetzen des DN-Modells gefunden werden, da sie das den Gesetzen zu Grunde liegende Kausalverhältnis ja stets schon voraussetzen.

Wie, in Abgrenzung zum DN-Modell, mechanismenbasierte Erklärungen konzipiert sind, illustriert am anschaulichsten Jon Elster (1989) mit folgender Metapher: „A mechanism explains by opening up the black box and showing the cogs and wheels of the internal machinery". Für die quantitative Sozialforschung heißt das, dass signifikante Korrelations- oder Regressionskoeffizienten zunächst eine unverständliche black box darstellen. Diese kann geöffnet werden, indem die Annahmen über das zu Grunde liegende Handeln von Akteuren als Kausalketten rekonstruiert werden. Für den o. g. Herkunftseffekt auf die individuelle Gesundheit müsste z. B. untersucht werden, ob dieser eher auf schlechtere Ernährungs- und Lebensgewohnheiten oder eher auf schlechtere medizinische Versorgung (etwa von Kassen- im Vergleich zu Privatpatienten) von sozial Benachteiligten zurückzuführen ist. Bei schlechteren Ernährungsgewohnheiten könnte wiederum gefragt werden, ob es Wissensunterschiede zwischen sozialen Schichten hinsichtlich gesunder Ernährung gibt (beliefs), ob bei gleichem Informationsstand Sozialisationseffekte verantwortlich für verschiedene Ernährungspräferenzen sind (desires), oder ob Fast Food einfach billiger als Obst und Gemüse ist (Restriktion durch Opportunitätsstruktur).

Ferner sollen mechanismenbasierte Erklärungen in Abgrenzung zum Gesetzesbegriff des DN-Modells eher Theorien mittlerer Reichweite darstellen. Diese unterscheiden sich sowohl von Großtheorien auf Makroebene wie Strukturfunktionalismus oder Marxismus als auch von sparsam-abstrakten Mikrotheorien wie dem neoklassischen homo oeconomicus, welche mit wenigen Annahmen versuchen, möglichst viele soziale Phänomene vorherzusagen. Stattdessen sollen realistische Erklärungen aufgestellt werden, die sich nur auf bestimmte soziale Phänomene (z. B. Bildungsübergänge; Gesundheit im Lebensverlauf; Wahlverhalten; ...) oder raum-zeitliche Kontexte (z. B. Westdeutschland nach 1990) beschränken, diese aber möglichst analytisch-präzise und eben nicht sparsam erklären.

Während sich auf Elsters black box-Metapher wohl alle Vertreter mechanismenbasierter Erklärungen einigen können, unterscheiden sich die konkreten Definitionen sozialer Mechanismen erheblich voneinander (vgl. die Übersicht bei Hedström & Ylikoski, 2010). Dennoch bewegen sich die meisten mechanismenbasierten Erklärungen in der Tradition des methodologischen und strukturellen Individualismus, die soziale Phänomene als aggregiertes Ergebnis individueller Handlungen und Interaktionen erklären (z. B. Armutsquoten in Stadtvierteln, Lernklima in Schulen etc.). Darüber hinaus wurde vorgeschlagen, zwischen situational, action formation und transformational mechanisms zu unterscheiden (vgl. ebenfalls Hedström & Ylikoski, 2010), wonach der Mechanismenbegriff grundsätzlich anschlussfähig an das von James Coleman (1926-1995) und Hartmut Esser geläufige „Grundmodell" sozialwissenschaftlicher Erklärungen ist. Entlang von Situations-, Selektions- und Aggregationslogik können dann dem «Grundmodell» entsprechende soziale Mechanismen rekonstruiert werden. Hinsichtlich der Selektionslogik (action formation mechanism) werden zwar oftmals rationale Handlungstheorien verwendet, jedoch wären symbolisch-interaktionistische Ansätze gleichermaßen möglich. Hinsichtlich der Aggregationslogik hat sich mit der Analytischen Soziologie in den letzten Jahren ein Forschungsprogramm entwickelt, dass sich mittels agentenbasierter Simulationsmodelle den lange vernachlässigten transformational mechanisms (Diffusionsprozesse; Schwellenwertmodelle; etc.) widmet.

Die größte gegenwärtige Herausforderung des Mechanismenansatzes ist, das Konzept für die Erklärung konkreter sozialwissenschaftlicher Fragestellungen stärker nutzbar zu machen. So wurde kritisiert, dass die Diskussion über soziale Mechanismen oftmals entweder methodologisch-abstrakt bleibt (Greshoff, 2015) oder über „Pseudo-Mechanismen" (nicht weiter spezifizierten Labels wie z. B. ,Machtmechanismus') bzw. „Ad-hoc Mechanismen" (Beschreibungen, Interpretationen, Storytelling, z. B. „Identitätsverschiebung") nicht hinauskommt (Kalter & Kroneberg, 2014). Mittelfristiges Ziel des Forschungsprogramms mechanismenbasierter Erklärungen sollte somit sein, ein Inventar sozialer Mechanismen zu erarbeiten, das jeweils um Zusatzannahmen ergänzt ein breiteres Set sozialer Phänomene erklären kann. So kann der Mechanismus der relativen Risikoaversion gleichermaßen erklären, warum Menschen Versicherungen abschließen und warum Bildungsentscheidungen vom sozialen Hintergrund abhängen (die meisten Individuen bevorzugen kleinere sichere Erträge gegenüber größeren unsicheren Erträgen). Oder der Mechanismus der Reduktion bzw. Vermeidung kognitiver Dissonanz kann sowohl erklären, warum Individuen oftmals ihre Wünsche an die Wünsche ihrer Bezugsgruppe angleichen, als auch, warum sie seltener Medien nutzen, die ihren Einstellungen widersprechen (kognitive Dissonanz ist „psychisch kostspielig"). Wünschenswert wäre also eine Art „Bestandskatalog" der elementarsten sozialen Mechanismen und ihrer Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen wie Bildungssoziologie, Demographie, politischer Kommunikationsforschung etc.