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Teil VI: Zusammenfassung

Anfang Juni 1999 hat der Europäische Rat in Köln beschlossen, ein Gremium einzusetzen, das den Entwurf einer Grundrechtscharta für die Europäische Union erarbeiten soll. Da Entscheidungen der EU mittlerweile auf fast alle Lebensbereiche der Unionsbürger einwirken, ist es an der Zeit, einen Grundrechtskatalog zu entwickeln, an dem die Handlungen der Organe gemessen werden können. Erst dadurch kann gewährleistet werden, daß der Bürger seine Grundrechte kennt, denn das bisherige System der Verweisungen auf die EMRK, die ESC und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer bietet keine ausreichende Transparenz.
Soziale Grundrechte sind dabei die Rechte, die dem einzelnen als Mitglied einer Gruppe zukommen und die nur verwirklicht werden können, wenn die staatliche Gemeinschaft Leistungen zur Sicherung der Lebensgestaltung des Bürgers erbringt. Sie verwirklichen nicht die Freiheit vom Staat, sondern Freiheit mit Hilfe des Staates. Zu nennen sind hier insbesondere das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung und Ausbildung, das Recht auf Wohnung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Kultur und das Recht auf eine gesunde Umwelt
Sie sind in verschiedenen Ausprägungen in Verfassungen zu finden. Zum einen können sie als subjektive Rechte ausgestaltet sein. Das bedeutet, daß der einzelne sich unmittelbar vor Gericht auf das Recht berufen kann. Daneben beinhalten viele Verfassungen soziale Grundrechte in Form von Programmsätzen und Staatszielbestimmungen. Dadurch werden der Gesetzgeber bzw. alle staatlichen Gewalten zur Realisierung der betreffenden Rechte verpflichtet
Die Festschreibung sozialer Rechte auf verfassungsrechtlicher Ebene ist umstritten. Einerseits gewährleistet sie, daß diese Rechte nicht durch Gesetzgebung und Rechtsprechung ausgehöhlt werden können. Andererseits wird damit ein bestimmter Lebensstandard verfassungsrechtlich verankert, der sich möglicherweise in der Zukunft aufgrund wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen nicht mehr halten läßt.
Bei der Schaffung eines Grundrechtskataloges der EU ist darüber hinaus problematisch, daß die EU kein Staat ist, sondern ihre Kompetenz von den Mitgliedsstaaten ableitet. Sie kann daher die Grundrechte auch nur insoweit schützen, als EU-Recht zur Anwendung kommt.
Auf europäischer Ebene existieren zwei Charten, die soziale Grundrechte festschreiben. Die Gemeinschaft selbst ist jedoch nicht Vertragspartei der Europäischen Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer stellt nur eine feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten dar. Vor allem durch die Rechtsprechung des EuGH üben die beiden Charten allerdings Einfluß auf das Gemeinschaftsrecht aus
In den Verfassungen der Mitgliedsstaaten wurden unterschiedliche Wege eingeschlagen, um soziale Grundrechte zu verankern. So gibt es aufgrund der liberalen Grundhaltung in Österreich und im Vereinigten Königreich keine sozialen Rechte auf verfassungsrechtlicher Ebene. Das deutsche Grundgesetz kennt außer dem Recht der Mütter auf besonderen Schutz keine weiteren sozialen Grundrechte. Dennoch begreift sich Deutschland als Sozialstaat und verpflichtet durch eine Staatszielbestimmung die öffentliche Gewalt, das Sozialstaatsprinzip sämtlichem Handeln zugrunde zu legen. Die Benelux-Länder, Frankreich und die nordischen Staaten kennen soziale Grundrechte in Form von subjektiven Rechten, Programmsätzen oder Staatszielbestimmungen, halten sich aber mit detaillierten Ausführungen eher zurück und überlassen die nähere Ausgestaltung der einfachen Gesetzgebung.
Die südeuropäischen Staaten haben alle ausführliche Grundrechtskataloge, die auch detailliert auf soziale Grundrechte eingehen und diese überwiegend als subjektive Rechte formulieren. Trotz der Formulierung handelt es sich aber meistens nicht um einklagbare Rechte, sondern um Aufträge an den Gesetzgeber, diese Rechte zu realisieren.
Die Kandidatenländer Estland, Ungarn und Slowenien folgen bei der Formulierung der sozialen Grundrechte eher dem gemäßigten Ansatz, während die tschechische Republik und Polen sich an dem südeuropäischen Modell orientieren.
Es ist allerdings nicht möglich, eine Beziehung zwischen dem Vorhandensein sozialer Grundrechte in der Verfassung und der sozialen Wirklichkeit in den Staaten herzustellen.
Das Europäische Parlament hat sich stets für die Schaffung eines eigenen Grundrechtskataloges der Gemeinschaften ausgesprochen. Wichtigstes Dokument ist die Erklärung über Grundrechte und Grundfreiheiten von 1989, in der ebenfalls eine Reihe sozialer Grundrechte enthalten sind. Der besondere Wert dieser Erklärung liegt in ihrer demokratischen Legitimation
Das Europäische Parlament hat in einer Entschließung zur Ausarbeitung der Charta der Grundrechte „betont, daß diese Charta eines offenen und innovativen Ansatzes bedarf, sowohl hinsichtlich ihrer Merkmale und der Art der darin aufzuführenden Rechte als auch hinsichtlich ihrer Funktion und ihrer Stellung bei der konstitutionellen Weiterentwicklung der Union“112.
112 Entschließung B5-0110/99 vom 16.9.1999, noch nicht im Amtsblatt erschienen