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Teil I: Einführung

1. Ziel und Inhalt der Studie Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung Anfang Juni 1999 in Köln beschlossen, ein Gremium aus Beauftragten der Staats- und Regierungschefs und des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente einzusetzen, das den Entwurf einer Grundrechtscharta für die Europäische Union erstellen soll. Sobald der Rat, die Kommission und das Parlament die Charta feierlich proklamiert haben, soll entschieden werden, ob sie in den EU-Vertrag aufgenommen wird. Damit steht Europa möglicherweise am Vorabend einer neuen Ära, die mit einem eigenen Grundrechtskatalog beginnt und vielleicht zur Schaffung einer Europäischen Verfassung führt1. Dieses Arbeitsdokument soll als Beitrag zu der Diskussion über die Schaffung eines Grundrechtskataloges und dessen Inhalt dienen. Es beschäftigt sich mit den sozialen Grundrechten, wie sie sich bisher auf europäischer Ebene, vor allem aber in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union darstellen. Ferner werden die Verfassungen einiger Beitrittskandidaten untersucht. Die bisherige Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften im wirtschaftlichen Bereich und die fortschreitende Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Rahmen der EU auf dem Gebiet der Innen- und Rechtspolitik haben dazu geführt, daß die Unionsbürger in beinahe allen Lebensbereichen von Rechtsakten der EU berührt werden. Daher erscheint es notwendig, daß der Einzelne seine Grundrechte, an denen diese Rechtsakte gemessen werden, nicht nur in den Verfassungen seines Heimatlandes, sondern auch unmittelbar in einem Katalog im Primärrecht der EU findet2. Das bisherige System der Entwicklung von Allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und der Verweisungen auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)3, sowie die Europäische Sozialcharta (ESC) des Europarats von 1961 und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 19894 gewährleistet keine ausreichende Transparenz5 und ist daher ungeeignet, das Vertrauen des Bürgers in die EU zu stärken. Die niedrige Beteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 1999 ist ein deutliches Indiz für die mangelnde Identifizierung der Unionsbürger mit Europa. Ferner ist auch im Hinblick auf die Osterweiterung, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Entwicklungszusammenarbeit ein eigener Grundrechtskatalog von Bedeutung. Die EU kann von anderen Staaten glaubwürdiger die Einhaltung der Menschenrechte und den Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaats verlangen, wenn sie selbst klar und deutlich ihrer Tätigkeit diese Prinzipien zugrunde legt. Inwieweit soziale Rechte Bestandteil eines Grundrechtskataloges der EU sein werden, ist offen, da im Gegensatz zu den klassischen liberalen Freiheitsrechten, die in allen Verfassungen anerkannt sind, soziale Rechte nicht in allen Mitgliedsstaaten als Grundrechte angesehen werden.
1 Siehe dazu Pernice, „Vertragsrevision oder europäische Verfassungsgebung?“, FAZ v. 7.7.1999, S.7; Rengeling, „Eine Charta der Grundrechte“, FAZ v. 21.7.1999, S.13.2 Bericht der Expertengruppe „Grundrechte“, „Die Grundrechte in der Europäischen Union verbürgen – es ist Zeit zu handeln“, Europäische Kommission, S.13.3 Diese findet sich in Art. 6 Abs.2 des EU-Vertrages, nicht jedoch im EG-Vertrag.4 Art. 136 EGV und Präambel des EUV, vierter Erwägungsgrund.5 Bericht der Expertengruppe „Grundrechte“, a.a.O., S.10
2. Begriff und Abgrenzung der „sozialen Grundrechte“
Unter sozialen Grundrechten werden hier die Rechte verstanden, die dem einzelnen Bürger zukommen, und die er nur in seiner Verbindung zu anderen Menschen als Mitglied einer Gruppe wahrnehmen kann und die nur verwirklicht werden können, wenn die staatliche Gemeinschaft Leistungen zur Sicherung der Lebensgestaltung des einzelnen Bürgers erbringt6. Soziale Rechte sind eine notwendige Ergänzung der Freiheitsrechte, da diese ohne ein Minimum an sozialer Sicherheit nicht ausgeübt werden können. Im Gegensatz zu den Freiheitsrechten wird dadurch nicht die Freiheit von dem Staat verwirklicht, sondern Freiheit mit Hilfe des Staates. Es handelt sich also um Grundrechte als Leistungs- oder Teilhaberechte. Obwohl sie sich damit auf den ersten Blick von den klassischen Freiheitsrechten, sowie dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz abgrenzen lassen, gibt es viele Überschneidungen. In dieser Studie wird nur auf die Grundrechte eingegangen, die nicht zu den „klassischen Grundrechten“ gezählt werden. Sie enthält daher keine Ausführungen über das Recht auf Berufsfreiheit im Sinne von Berufswahlfreiheit und dem Verbot von Zwangsarbeit, sowie über das Recht auf Bildung von Vereinigungen, Kollektivverhandlungen und das Streikrecht. Ebenso soll nicht näher auf die Grundrechte eingegangen werden, die in erster Linie Gleichheitsgrundrechte darstellen und allgemein anerkannt werden, wie das Recht auf gleiches Entgelt für Männer und Frauen7. Von der Frage der sozialen Grundrechte in Europa grundsätzlich zu unterscheiden ist auch die europäische Sozialpolitik, die in diesem Rahmen nicht mit behandelt werden kann. Durch sie werden soziale Rechte begründet, die jedoch keine Grundrechte im verfassungsrechtlichen Sinne darstellen
3. Allgemeines zum Grundrechtsschutz auf verfassungsrechtlicher Ebene
Die folgenden Anmerkungen geben einen Überblick über die Theorien, die in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten hinsichtlich des Grundrechtsschutzes vertreten werden
3.1. Funktionen von Grundrechten
Grundrechte können als justiziable oder „subjektive“ Rechte ausgestaltet sein, d.h., daß der einzelne sich vor den Gerichten unmittelbar auf das Recht berufen kann. Dies kann grundsätzlich sowohl für Abwehrrechte gelten, d.h. für Rechte, die die Freiheit von dem Staat betreffen, beispielsweise die Unverletzlichkeit der Wohnung oder die Meinungsfreiheit, als auch für Gleichheitsrechte, sowie für Teilhabe- oder Leistungsrechte, die einen Anspruch auf ein Tätigwerden des Staates begründen Weiterhin können Grundrechte Einrichtungsgarantien darstellen, die den Staat verpflichten, für den Bestand eines bestimmten Rechtsinstituts zu sorgen (z.B. Privateigentum, Universitäten). Ferner können sie in Staatszielbestimmungen enthalten sein, die alle Gewalten des Staates bei jeglichem Handeln verpflichten, sie zu beachten und so eine Wirkung auf Gesetzgebung und Verwaltungshandeln entfalten. Schließlich können Grundrechte auch Programmsätze in dem Sinne sein, daß sie einen Auftrag an den Gesetzgeber enthalten, für die Verwirklichung eines Rechts durch einfache Gesetze zu sorgen. Die Ansprüche, die sich aus diesem einfachen Recht – also nicht aus dem Verfassungsrecht – ergeben, können dann durchgesetzt werden, indem der Einzelne sich an die ordentlichen Gerichte oder speziellen Verwaltungs- oder Sozialgerichte wendet, sofern das Recht als subjektives Recht ausgestaltet ist. Zu unterscheiden ist ferner danach, ob das einzelne Grundrecht nur gegenüber dem Staat wirkt oder auch gegenüber Dritten (sog. „Drittwirkung“), d.h., ob sich der Bürger nur in einem Rechtsstreit mit dem Staat auf sein Grundrecht berufen kann oder ob es auch auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten Einfluß nehmen kann, etwa im Arbeitsrecht. Im Falle der Drittwirkung muß wiederum zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung unterschieden werden, d.h. ob das Grundrecht direkt Rechtswirkung entfaltet oder nur indirekt, etwa in Form einer grundrechtskonformen Auslegung bürgerlichen Rechts oder auch eines Arbeitsvertrages
6. H.-J.Wipfelder, „Die verfassungsrechtliche Kodifizierung sozialer Grundrechte“, ZRP, 1986, S.140.7 Dieses Recht ist auch als Allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt, vgl. EuGH, RS 149/77 – Defrenne – , Slg. 1978, S.1379
3.2. Soziale Rechte als Grundrechte?
Alle Mitgliedsstaaten kennen soziale Rechte auf der Ebene des einfachen Rechts. Diese finden sich insbesondere im Arbeitsrecht im Verhältnis von Arbeitnehmer zu Arbeitgeber etwa mit Regelungen über Kündigungsschutz, Mindestlohn, Urlaub, sichere Arbeitsbedingungen etc. Ferner werden die Systeme der sozialen Sicherheit durch einfache Gesetze geregelt, die verschiedene Sozialleistungen für Notlagen oder bestimmte Lebenssituationen gewährleisten. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit soziale Rechte auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden sollen. Befürworter einer ausdrücklichen Festschreibung möglichst vieler Grundrechte in der Verfassung führen an, daß nur dadurch gewährleistet werden kann, daß diese Rechte nicht durch einfache Gesetzgebung oder Rechtsprechung ausgehöhlt werden können, da Verfassungen in der Regel nicht so leicht geändert werden können wie einfaches Recht und in der Regel auch nach einem Regierungswechsel im wesentlichen unverändert bleiben. Kritiker führen dagegen an, daß mit der Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung ein bestimmter Lebensstandard festgeschrieben wird, der sich aufgrund wandelnder wirtschaftlicher und finanzieller Verhältnisse möglicherweise nicht halten läßt, und Vorschriften aufgenommen werden, die für die Zukunft ungeeignet sind, da sie von gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgehen8.
8 Z.B. von Vollzeitbeschäftigung bei einem einzigen Arbeitgeber, die in der Zukunft nicht mehr unbedingt die Regel darstellen wird; vgl. dazu Bognetti, „Social Rights, a Necessary Component of the Constitution ? The Lesson of the Italian Case“, in: Bieber/Widmer (Hrsg), L’espace constitutionnel européen, Der europäische Verfassungsraum, The European Constitutional Area, Zürich 1995, S.85 ff
Ferner darf nach Auffassung der Gegner einer Aufnahme keine Gleichstellung der fundamentalen und unveräußerlichen Menschenrechte (wie dem Recht auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit) mit sozialen Grundrechten erfolgen, weil die meisten sozialen Grundrechte nicht garantiert werden können und auch nicht die gleiche Wertigkeit besitzen. So kann der Staat in einer marktwirtschaftlichen Ordnung viele Leistungsrechte, wie ein Recht auf Arbeit, de facto nicht garantieren, weil er nicht über Arbeitsplätze verfügt. Dagegen kann er die Freiheits- und Abwehrrechte, sowie die Gleichheitsrechte garantieren, weil er sich dafür in der Regel nur mit seiner Tätigkeit zurückhalten muß bzw. über Gesetzgebung Gleichheit herstellen muß. Für die spezielle Situation der EU muß in der Diskussion auch in Betracht gezogen werden, daß sie kein Staat ist und nur über die Kompetenzen verfügt, die ihr von den Mitgliedsstaaten übertragen werden. Sie kann daher nach dem bisherigen Stand die Grundrechte ihrer Bürger ohnehin nur insoweit schützen, als EU-Recht zur Anwendung kommt, d.h. wenn die EU oder eine der Gemeinschaften handelt oder wenn nationale Organe im Anwendungsbereich der Verträge tätig werden. Im übrigen verbleibt es bei dem Schutz der Grundrechte durch die Mitgliedsstaaten, es sei denn, dieser würde durch die Mitgliedstaaten vollständig in die Hände Europas gelegt und einem europäischen Gericht überantwortet. Dies ist aber angesichts der teilweise stark unterschiedlichen Auffassungen nicht zu erwarten und bei der gegenwärtigen Struktur der Union bzw. der Gemeinschaften auch kaum möglich9. Außerdem gibt es bisher auch gar keine echte Ebene des Verfassungsrechts, an der das Handeln der EU gemessen werden muß. Der Errichtung eines gemeinsamen Grundrechtskatalogs müßte konsequenterweise die Schaffung einer eigenen Verfassung und eines Verfassungsgerichts nachfolgen. Der Verfassungsrechtler und gerade zum Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht ernannte Udo Di Fabio hat im Rahmen der Debatte über die Grundrechtscharta vorgeschlagen, die Grundrechtskontrolle nicht dem ohnehin schon überlasteten EuGH anzuvertrauen. Stattdessen sollte nach dem Vorbild des nicht zur Europäischen Union gehörigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg ein eigenes Unionsgericht für Grundrechtsfragen geschaffen werden. Ein solches Gericht hätte keine andere Aufgabe, als auf Anruf der Unionsbürger die Gemeinschaftsgewalt am Maßstab europäischer Grundrechte zu kontrollieren10. Schließlich ist es wichtig zu sehen, daß ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Demokratieprinzip und Gewaltenteilungsprinzip einerseits und Grundrechtsschutz andererseits besteht. Werden der Legislative zu viele Vorgaben von der Verfassung und insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit gemacht, werden Entscheidungen letztlich nicht mehr von dem demokratisch legitimierten Parlament getroffen, sondern von den nicht vom Volk gewählten Richtern11. Auch die Exekutive braucht einen gewissen Handlungsspielraum, um effektiv agieren zu können und darf nicht vollkommen durch Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit eingeschränkt werden
9 Dies lehnt auch das Kommittee der Weisen (Cassese/Lalumiere/Leuprecht/Robinson) in der Agenda „Leading by example: A human rights agenda for the European Union for the year 2000“, ab (S.9). 10 Udo Di Fabio, „Für eine Grundrechtsdebatte ist es Zeit“, FAZ v. 17.11.1999, S.11.11 Im Vereinigten Königreich ist daher gar keine echte Ebene des Verfassungsrechts anerkannt, an der Parlamentsgesetze sich messen lassen müssen, vgl. dazu unten Teil 3, 2.15