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Teil III: Soziale Grundrechte in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten

1. Vorbemerkung
Jeder Vergleich von Grundrechtsregelungen ist problematisch, weil anscheinend gleiche Begriffe zum Teil unterschiedlich definiert werden und für einen genauen Vergleich immer der Kontext der gesamten Verfassung, die Dogmatik der Verfassungsrechtslehre, sowie die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, sofern ein solches existiert, beleuchtet werden muß. Es kann daher in diesem Rahmen nur ein Überblick über die verschiedenen Ansätze der Verfassungen der Mitgliedsstaaten gegeben werden.
2. Die Verfassungen der Mitgliedsstaaten
2.1. Belgien
Die belgische Verfassung von 1994 führt im Vergleich zu anderen jüngeren Verfassungen nur wenige soziale Grundrechte auf22. Trotz dieser Zurückhaltung gibt es eine umfangreiche Sozialgesetzgebung, so daß ein wirklicher Sozialstaat existiert, wenn dieser auch nicht detailliert in der Verfassung niedergelegt wurde23. Die wichtigsten sozialen Rechte beruhen auf den Artikeln 23 und 24. Art. 23 gewährt jedem das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Dieses Recht wird in den Nummern 1-5 präzisiert und umfaßt neben dem Recht auf Arbeit auch das Recht auf gerechte Entlohnung, auf soziale Sicherheit, auf Gesundheitsschutz, auf sozialen, medizinischen und rechtlichen Beistand, auf eine angemessene Wohnung, sowie eine gesunde Umwelt und kulturelle und soziale Entfaltung. Aus Absatz 1 ergibt sich, daß der Staat für die Umsetzung dieser wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verantwortlich ist, indem er sich verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die dem einzelnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Obwohl es kein Instrument für die Durchsetzung sozialer Rechte auf verfassungsrechtlicher Ebene gibt24, würde der Gesetzgeber somit gegen die Verfassung verstoßen, wenn er keine entsprechenden Ausgestaltungen vornimmt oder die Grundrechte entgegen der Verfassung einschränkt.
In Art. 24 der belgischen Verfassung wird der Anspruch auf freie und neutrale Ausbildung gewährt. Desweiteren ist dort das Recht auf die unentgeltliche Schulausbildung sowie auf moralische oder religiöse Erziehung verankert.
Auffällig ist, daß diese Rechte nicht nur Belgiern vorbehalten sind, sondern von jedermann wahrgenommen werden können25. Bestätigt wird dies durch Art. 191 der belgischen Verfassung, wonach jeder Ausländer grundsätzlich für seine Person und seine Güter den gleichen Schutz genießt wie ein belgischer Staatsangehöriger.
2Isabel Álvarez Vélez, Fuencisla Alcón Yustas, Las Constituciones de los 15 estados de la Unión Europea, S.145.23Ebenda a.a.O., S.145.24 Aristovoulos Manessis in: Julia Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Grundrechtsschutz im europäischen Raum- Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S.33.25 Manessis, a.a.O., S.33.
2.2. Dänemark
In der dänischen Verfassung vom 5.Juni 1953 existieren zwei Bestimmungen, die soziale Grundrechte im Sinne dieser Studie darstellen, nämlich § 75 und § 76.
§ 75 Abs. 1 enthält ein Recht auf Arbeit in der Weise, daß er vorsieht, daß „zwecks Förderung des Gemeinwohls … anzustreben (ist), daß jeder arbeitsfähige Bürger die Möglichkeit hat, unter Bedingungen zu arbeiten, die sein Dasein sichern“. Schon die Formulierung macht deutlich, daß es sich nicht um ein subjektives Recht handelt, sondern einen Programmsatz
§ 75 Abs.2 ist dagegen wie ein subjektives Recht formuliert: „Wer sich oder die seinen nicht selbst ernähren kann und dessen Versorgung auch keinem anderen obliegt, hat Anspruch auf öffentliche Unterstützung, jedoch nur wenn er sich den Verpflichtungen unterwirft, die das Gesetz vorsieht“. Es ist jedoch in der Rechtslehre umstritten, ob es sich dabei um ein subjektives Recht handelt oder einen Programmsatz26.
Gemäß § 76 haben alle Kinder im schulpflichtigen Alter einen Anspruch auf unentgeltlichen Unterricht in der Volksschule. Hierbei dürfte es sich um ein subjektives Recht handeln, da es so formuliert ist und eine Umsetzung dem Staat auch ohne größere Schwierigkeiten möglich ist
Soziale Grundrechte sind damit in der Verfassung nur schwach ausgeprägt. Einer der Gründe hierfür ist, daß die Verfassung ursprünglich aus dem Jahr 1849 stammt und ihren liberalen Charakter weitgehend beibehalten hat. Ferner gilt in den skandinavischen Ländern die Rechtstradition der richterlichen Zurückhaltung (judicial restraint), wonach die Gerichte vorsichtig damit sind, Akte der Legislative für verfassungswidrig zu erklären, um den Willen des demokratisch legitimierten Parlamentes zu respektieren27. Der Hauptgrund, daß die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten ohne eine ausführliche Aufzählung in der Verfassung auskommen, ist schließlich, daß soziale Rechte häufig durch Einigungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern und Konsens innerhalb von Politik und Gesellschaft zustandekommen.
In Dänemark werden daher die sozialen Rechte der Bürger hauptsächlich durch einfache Gesetze effektiv geschützt, und gegen Entscheidungen der Verwaltung steht grundsätzlich auch der Weg zu den ordentlichen Gerichten offen28
2.3. Deutschland
Das deutsche Grundgesetz (GG) von 1949 kennt, anders als die Weimarer Reichsverfassung von 1919, soziale Grundrechte grundsätzlich nicht. Einzig aus Art. 6 IV GG geht ein subjektives Recht hervor, daß den Müttern einen Anspruch auf Schutz und Fürsorge einräumt. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt vor allem darin, daß die Begründer der Verfassung vermeiden wollten, sie
26 Vgl. Rosas, „The Implementation of Economic and Social Rights: Nordic Legal Systems“, in: Matscher (Hrsg.): Die Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte – eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme, S.231 mit weiteren Nachweisen.27 Katrougalos, „The Implementation of Social Rights in Europe“, Columbia Journal of European Law, 1996, S.277; derselbe a.a.O., S.295.28 Rosas, a.a.O., S.233.
ständig den sich ändernden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen angleichen zu müssen29
Art. 20 I, 28 GG bezeichnen die Bundesrepublik als demokratischen und sozialen Bundesstaat. An dem Sozialstaatsprinzip müssen sich alle Akte der öffentlichen Gewalt messen lassen. Wenn auch in der deutschen Verfassung im Gegensatz zu den klassischen Grundrechten soziale Grundrechte nicht konkret im Grundgesetz aufgeführt sind, so werden sie dennoch vom Sozialstaatsprinzip umfaßt30. Das Sozialstaatsprinzip ist somit Überbegriff für die einzelnen sozialen Rechte, das zwar den Nachteil aufweist, daß die Rechte nicht konkret benannt werden, dafür hat die Verlagerung auf die einfachen Gesetze den Vorteil, daß diese schneller den Bedürfnissen angeglichen werden können
Teilweise sind in den Verfassungen der Länder soziale Grundrechte niedergelegt worden. Diese sind allerdings praktisch nicht durchsetzbar, da der Bund die Zuständigkeit für die sozialen Sachbereiche nahezu vollständig an sich gezogen hat
1994 wurde zum Schutze der Umwelt Art. 20a in die Verfassung eingefügt. Er ist als Staatszielbestimmung formuliert und überträgt daher allen drei Gewalten die Verantwortung hinsichtlich der natürlichen Lebensgrundlagen zugunsten künftiger Generationen. Die Notwendigkeit dieser Einführung ergab sich weniger aus mangelndem Schutz als vielmehr aus einem Klarstellungsbedürfnis, denn bereits vor der Einfügung des Art. 20a GG ließ sich ein diesbezüglicher Schutz aus den Grundrechten herleiten. Ebenso wie sich aus Art. 2 II S.1 in Verbindung mit Art. 1 I GG der Anspruch auf ein soziales Existenzminimum ergibt, so läßt sich analog dazu auch der Anspruch auf ein „ökologisches Existenzminimum“ ableiten31. Schließlich kann ein menschenwürdiges Dasein nur in einer menschenwürdigen Umgebung geführt werden. Auf ein Umweltgrundrecht wurde dennoch verzichtet, da es sich zum einen als äußerst schwierig erweist, ein entsprechendes Schutzgut zu konkretisieren und es zum anderen unmöglich wäre, ein solches Recht justiziabel zu gestalten32. Demnach läßt sich daraus auch kein einklagbarer Grundrechtsanspruch des einzelnen folgern; es handelt sich vielmehr um eine objektive Wertentscheidung der Verfassung, die die öffentliche Gewalt verpflichtet33.
2.4. Griechenland
Der Grundrechtsteil der griechischen Verfassung vom 9. Juni 1975 in ihrer Fassung vom 12.März 1986 (2. Teil, Art. 4 bis 25) ist insgesamt sehr lang und legt die individuellen und sozialen Grundrechte detailliert fest
So finden sich in den neun Absätzen des Art. 16 die Verpflichtung des Staates zur Entwicklung und Förderung von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre (Abs. 1), die Bestimmung, daß Bildung eine Grundaufgabe des Staates ist (Abs. 2) und damit korrespondierend das Recht aller Griechen auf kostenlose Bildung in allen ihren Stufen in den staatlichen Unterrichtsanstalten (Abs. 4, S.1) sowie das Recht der Universitäten auf finanzielle Unterstützung (Abs. 5, S.2). Auch die Unterstützung von Studenten, die sich besonders auszeichnen, der Hilfe oder des besonderen
29 Luis María Díez-Picazo/Marie-Claire Ponthoreau, The Constitutional Protection of Social Rights: Some Comparative Remarks, S.18.30 Kittner in: Kommentar zum GG für die BR Deutschland Band I Art. 1-37, Rz 64.31 Scholz in: Maunz-Dürig Art. 20a GG I RZ 28.32 Derselbe, a.a.O., Art. 20a GG I RZ12.33 Derselbe, a.a.O., Art. 20a GG I RZ 33.
Schutzes bedürfen, ist in Abs. 4 festgelegt. Schließlich bestimmt Abs. 9, daß der Sport unter der obersten Aufsicht des Staates steht und der Staat alle Verbände von Sportvereinen subventioniert
Art. 21 Abs. 2 bestimmt, daß kinderreiche Familien, Versehrte aus Krieg und Frieden, Kriegsopfer, Waisen und Witwen der im Krieg Gefallenen, sowie der an unheilbaren Krankheiten Leidenden Anspruch auf besondere staatliche Fürsorge haben. Abs. 3 legt fest, daß der Staat für die Gesundheit der Bürger sorgt und besondere Maßnahmen zum Schutze der Jugend, des Alters, der Versehrten und für die Pflege Unbemittelter trifft. Gemäß Abs. 4 ist die Verschaffung von Wohnungen für Obdachlose oder ungenügend Untergebrachte Gegenstand der besonderen Sorge des Staates
Art. 22 Abs.1 erkennt ein Recht auf Arbeit an und stellt es unter den Schutz des Staates, der für die Sicherung der Vollbeschäftigung und für die sittliche und materielle Förderung der arbeitenden ländlichen und städtischen Bevölkerung sorgt. Abs. 4 legt schließlich fest, daß der Staat für die Sozialversicherung der Arbeitenden sorgt, wobei näheres durch ein Gesetz geregelt wird
Trotz dieser ausführlichen Bestimmungen sind die sozialen Grundrechte in Griechenland rechtlich nicht durchsetzbar, der Staat kann nicht zur Leistung verurteilt werden34. Auch sieht die soziale Wirklichkeit in Griechenland anders aus. Insbesondere was das Recht auf kostenlose Bildung betrifft, muß festgestellt werden, daß es in Griechenland in vielen Studiengängen an einer ausreichenden Anzahl von Studienplätzen mangelt
2.5. Spanien
Die spanische Verfassung aus dem Jahre 1978 nimmt neben der portugiesischen eine herausragende Stellung innerhalb der europäischen Verfassungen ein. Das liegt vor allem daran, daß diese jungen Verfassungen sich bemüht haben, moderne Gesellschaftsproblematiken mit-einzubeziehen, anstatt sie auszuklammern. Nach vierzigjähriger Diktatur sollte die Zeit der Rechtlosigkeit beendet werden, und dem einzelnen ein möglichst umfangreicher Rechtskatalog zugesprochen werden35
In ihrer Präambel wird der Wille kundgetan, das demokratische Zusammenleben unter anderem auf der Grundlage einer gerechten Wirtschaft- und Sozialordnung zu gewährleisten. Die spanische Verfassung hat sich einerseits an der deutschen Verfassung orientiert36 und in Art. 1 hervorgehoben, daß Spanien ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat ist, wobei die Reihenfolge Aufschluss über die Wichtigkeit der sozialen Rechte in Spanien gibt37. An dieser Sozialstaatsklausel müssen sich die Verfassungseinrichtungen und auch die einfache Rechtsprechung messen lassen38. Andererseits hebt sich die spanische Verfassung sehr deutlich von der deutschen ab, indem sie eine ungewöhnlich umfangreiche Aufstellung sozialer Rechte vorgenommen hat.
Die Grundrechte in der spanischen Verfassung sind in drei Gruppen aufgeteilt39. Die erste Gruppe (Art. 14 bis 29) umfaßt die klassischen Grundrechte zu denen das Recht auf Erziehung (Art. 27) gehört. Die zweite Gruppe (Art. 30 bis 38) beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Rechten und
34 P. Spyropoulos, Constitutional Law in Hellas, S.139.35 José Vida Soria in Matscher, a.a.O., S.290, Manessis a.a.O., S.47.36 Díez-Picazo/Ponthoreau, a.a.O., S.20.37 Vida Soria, a.a.O., S.292.38 Díez-Picazo/Ponthoreau, a.a.O., S.20.39 Ebenda, S.21
Pflichten der Bürger einschließlich des Rechts auf Arbeit (Art. 35), während die dritte Gruppe (Art. 39 bis 52) vornehmlich dem Schutz der sich aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik ergebenden Rechte gewidmet ist.
Die Prinzipien der letzten Gruppe betreffen vor allem den hier interessierenden sozialen Bereich:
q In Art. 39 sichert der Staat der Familie rechtlichen und sozialen Schutz zu.
q Nach Art. 40 fördert die öffentliche Gewalt die Bedingungen einer gerechteren
Einkommensverteilung und auch die Bedingungen hinsichtlich Weiterbildung und Schutz am Arbeitsplatz sowie die Gewährleistung von Urlaub und begrenzter Arbeitszeit.
q Art. 41 garantiert ein öffentliches System für die soziale Sicherheit der Bürger, das ihnen ausreichende Hilfe bei Notlagen und insbesondere bei Arbeitslosigkeit vermittelt.
q In Art. 43 wird ein Recht auf Schutz der Gesundheit anerkannt, wobei Absatz 2 darauf verweist, daß die Ausgestaltung dieses Schutzes ebenso wie die Förderung der Gesundheitserziehung nach Abs. 3 bei der öffentlichen Gewalt liegt40.
q Art. 44 garantiert dem einzelnen den Zugang zur Kultur und legt gleichzeitig fest, daß diese nach Abs. 2 von der öffentlichen Gewalt gefördert wird.
q Art. 45 spricht jedem einen Anspruch auf Naturgenuss zu und verpflichtet gleichzeitig den Staat auf die Erhaltung und Wiederherstellung der Umwelt einzuwirken (Abs. 2).
q Art. 47 räumt allen Spaniern das Recht auf Wohnraum ein, wobei die notwendigen Voraussetzungen durch die öffentliche Gewalt gefördert werden.
q Nach Art. 48 fördert die öffentliche Gewalt die Bedingungen für die Einbeziehung der Jugend an der sozialen Entwicklung.
q Art. 49 ist der Eingliederung und dem Schutz Behinderter gewidmet.
q Art. 50 garantiert eine angemessene Altersversorgung sowie die Förderung ihres Wohlergehens hinsichtlich Gesundheit, Wohnraum, Kultur oder Freizeit.Zur Frage nach dem Schutz dieser Rechte ist Art. 53 heranzuziehen. Nach Art. 53 I, II können die Rechte der ersten beiden Gruppen vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltend gemacht werden und jegliche Gesetzgebung muß den Wesensgehalt der Rechte beachten. Hinsichtlich der Durchsetzbarkeit gibt es eine Abstufung wonach nur die Rechte der ersten Gruppe – zu denen das Recht auf Erziehung gehört- gemäß Art. 53 I in Verbindung mit Art. 161b) in Verbindung mit Art. 53 II vor dem Verfassungsgericht nach Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs eingeklagt werden können. Es handelt sich mithin um subjektive und auch justiziable Grundrechte.
Hinsichtlich des besonders brisanten Rechts auf Arbeit gilt, daß es gemäß Art. 53 I die öffentliche Gewalt bindet und vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden kann. Der Umkehrschluß aus Art. 53 III ergibt jedoch, daß nur die dort aufgeführten Rechte den Schutz durch die
40 Gleiches gilt für die Leibeserziehung, den Sport und eine geeignete Nutzung der Freizeit nach Art. 43 Abs.3
Verfassungsbeschwerde genießen. Daher stellt das Recht auf Arbeit mangels Einklagbarkeit vor dem Verfassungsgericht kein justiziables Grundrecht dar.
Auch die Rechte auf Gesundheit, auf eine gesunde Umwelt und auf angemessenen Wohnraum sind subjektiv formuliert. Nach Art. 53 II handelt es sich jedoch um Grundsätze, welche die drei Gewalten binden und damit eine Staatszielbestimmung darstellen, ohne ein subjektives Recht zu begründen41
2.6. Frankreich
Die französische Verfassung von 1958 wurde „aufgrund der Algerien-Krise in großer Eile“ ausgearbeitet42. Sie enthält nur ein Minimum an Grundrechten43 und keinerlei soziale Rechte. Ihr Schwerpunkt beruht auf der Präambel, in der sie auf die Verfassung von 1946 und auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verweist, soweit diese sich auf die Menschenrechte und die Prinzipien nationaler Souveränität beziehen44. Die Verfassung von 1946 ist von den Erfahrungen des Totalitarismus geprägt und zielt vor allem auf den Schutz der Arbeiter, der wirtschaftlichen Struktur und der Gesellschaftsordnung ab
Durch die Bezugnahme in der Präambel von 1958 sind die Rechte, wie sie sich aus der Präambel von 1946 ergeben, auch verfassungsrechtlich verankert. Auch der Menschenrechtserklärung von 1789 kommt durch die Verweisung verfassungsrechtlicher Rang zu45. Es bleibt zu untersuchen, wie diese Rechte ausgestaltet sind und ob sich aus ihnen ein subjektives Recht ergibt. Die in der Menschenrechtserklärung von 1789 genannten „klassischen“ Rechte, die „unveräußerlich und heilig“ sind, gelten anerkanntermaßen als Grundlage des öffentlichen Rechts Frankreichs46, die auch einklagbar sind.
Anders sieht es hinsichtlich der sozialen Rechte aus, wie sie sich aus der Präambel von 1946 ergeben. So räumt ihr Absatz 5 zwar jedem neben der Pflicht zu arbeiten auch ein Recht auf Beschäftigung ein, doch trotz dieser Formulierung handelt es sich vielmehr um einen Auftrag an den Gesetzgeber, Lösungen für die Arbeitslosigkeit zu finden, als um ein subjektives Recht47. Im zehnten Abschnitt sichert die Nation dem Einzelnen und der Familie die notwendigen Voraussetzungen für eine Entwicklung zu, wobei sich schon aus der Formulierung ergibt, daß das „Wie“ dem Staat überlassen bleibt. Gleiches gilt für den elften Abschnitt, der Kindern neben Müttern und alten Arbeitern die Unterstützung hinsichtlich Gesundheit, materieller Sicherheit, Ruhe und Freizeit zusichert. Jedem, der nicht imstande ist zu arbeiten, wird ein Recht auf angemessene Mittel gewährt, wobei die Frage der Angemessenheit wiederum einen breiten Interpretationsspielraum bietet. Auch das Recht auf Bildung und Ausbildung im 13. Abschnitt ist als Pflicht des Staates formuliert, auf die der einzelne
41 Díez-Picazo/ Ponthoreau, S.22.42Marco Itin, Grundrechte in Frankreich, S.6.43 Es handelt sich um das Gleichheitsprinzip und dem Grundsatz der religiösen Freiheit (Art. 2 I), die freie Bildung von Parteien und politischen Grupppierungen (Art. 4) und die Bewegungsfreiheit (Art. 66).44Marco Itin, a.a.O., S.12. Dank der weiten Fassung des Begriffs der Menschenrechte stellt sich das Problem des Umfangs der Verweisung in diesem Sinne kaum mehr, enthalten doch die Menschenrechtserklärung von 1789 und die Präambel von 1946 kaum Aussagen, die sich nicht entweder auf die Menschenrechte oder die Grundsätze der nationalen Souveränität beziehen.45 Derselbe, a.a.O. ,S.17; Díez-Picazo/ Ponthoreau, a.a.O., S.14.46 Itin, a.a.O., S.14.47 Díez-Picazo/Ponthoreau, a.a.O., S.16.zwar einen unumstrittenen grundrechtlichen Anspruch hat48, deren Ausgestaltung jedoch der jedoch der Staat bestimmt
Soziale Rechte finden somit in der Verfassung nicht die gleiche Anerkennung wie die klassischen Grundrechte, die durch die Erklärung von 1789 geschützt werden. Sie wirken ergänzend und fordern die gesetzgebende Gewalt auf entsprechende Gesetze zu schaffen, ohne jedoch selbst justiziabel zu sein49.
2.7. Irland
1922 gab sich Irland die erste Verfassung, die jedoch von vielen nicht anerkannt wurde, da sie auf einem vertraglichen Abkommen zwischen Irland und Großbritannien beruhte, weshalb bereits 1937 eine neue Verfassung eingeführt wurde, die die tatsächliche Unabhängigkeit Irlands unter Beweis stellen sollte50.
In der irischen Verfassung spiegelt sich deutlich die religiöse Verwurzelung des irischen Volkes wider. Dies kommt vor allem in der Präambel aber auch in den Grundrechten zum Ausdruck. So wird die Familie in Art. 41 als moralische Einrichtung der Gesellschaft anerkannt und der Staat garantiert ihr Schutz nach Abs. 1, S.2. Insbesondere wurden in Abs. 2 die Bemühungen des Staates fixiert, die Mütter zu unterstützen, so daß sie keiner außerhäusigen Tätigkeit nachgehen müssen und sie sich ihrer Familie widmen können und dadurch einen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten. Darin wird die sehr traditionell behaftete Einstellung des irischen Staates zur Rolle der Frau besonders deutlich.
Auch in Art. 42, der sich der Erziehung widmet, wird offenkundig, wie sehr sich die irische Verfassung religiösen Werten verschrieben hat. Der Familie obliegt nach Art. 42 I die Verantwortung für die Erziehung der Kinder, und der Staat kann gemäß Abs. 3 die Eltern auch nicht zwingen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, wenn dieses nicht mit ihrem Gewissen zu vereinbaren ist. Satz 2 verpflichtet den Staat dennoch, darauf zu achten, daß jedes Kind ein Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhält. Darüber hinaus ergibt sich aus Abs. 4, daß der Staat verpflichtet ist, für eine kostenlose Volksschulbildung zu sorgen.
Unter dem Titel „Leitsätze der Sozialpolitik“ befindet sich Art. 45 aus dessen Abs. 2 a) folgt, daß die Politik sich insbesondere daran orientieren soll, daß die Bürger ein Recht darauf haben, ihren Unterhalt durch eine berufliche Tätigkeit zu finanzieren. Desweiteren verpflichtet sich der Staat in Abs. IV insbesondere die schwächeren Gruppen der Gesellschaft zu schützen bzw. zu finanziell zu unterstützen. Auch ist er bestrebt, daß die Arbeitskräfte nicht ausgebeutet und niemand durch wirtschaftliche Not gezwungen werden soll einer Tätigkeit nachzugehen, der er aufgrund seines Geschlechts, seines Alters oder seiner Konstitution nicht gewachsen ist.
Die Formulierungen zeigen eindeutig, daß die Verfassungsgeber dem Programmsatz den Vorzug vor dem konkreten Grundrecht eingeräumt haben
48 Itin, a.a.O., S.112. Der Anspruch auf weltlichen und kostenlosen Unterricht ist unumstritten und sogar verpflichtend.49 Díez-Picazo/Ponthoreau, a.a.O., S.16. Dies bestätigt Art. 34 der Verfassung,wonach das Gesetz die Grundsätze für das Arbeitsrecht, das Gewerkschaftsrecht und die Soziale Absicherung bestimmt.50 Byrne/McCutcheon, The Irish Legal System, S.8.
Darüber hinaus ergeben sich aus Art. 40 III weitere soziale Grundrechte, wenn diese auch nicht ausdrücklich aufgeführt werden51. Denn aus der Wortwahl „insbesondere“ ergibt sich, daß Art. 40 III neben den genannten Rechten noch weitere umfassen muß52. Zu diesen Rechten gehören anerkanntermaßen das Recht auf Arbeit und das Recht auf Schutz der Gesundheit53. Allerdings geht das Recht auf Arbeit nicht soweit, daß es den Staat verpflichten würde, dem Bürger einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Es umfaßt vielmehr das Recht, über seinen Arbeitseinsatz frei zu entscheiden, wie auch die Freiheit, einen bestimmten Beruf auswählen und ausüben zu können54
Die genannten Grundrechte sind auch aus sich selbst heraus wirksam, ohne daß es einer weiteren Umsetzung durch den Gesetzgeber bedarf55. Allerdings gilt auch für die nicht ausdrücklich aufgeführten Rechte, daß sie nicht absolut sind, sondern vielmehr von der öffentlichen Gewalt im Rahmen ihrer Möglichkeiten berücksichtigt werden müssen56.
2.8. Italien
Die italienische Verfassung vom 27.12.1947 enthält in ihrer Fassung von 1993 eine Reihe von sozialen Grundrechten, die teilweise auch subjektive Rechte darstellen. Die Republik erkennt im Kapitel „Grundprinzipien des Staates“ in Art. 4 allen Staatsangehörigen das Recht auf Arbeit zu und fördert die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts.
Gemäß Art. 31 erleichtert der Staat durch wirtschaftliche und andere Maßnahmen die Gründung der Familie und die Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben, insbesondere im Hinblick auf kinderreiche Familien. Er schützt Mutter und Kind und die Jugend, in dem er die zu diesem Zwecke notwendigen Einrichtungen fördert.
Gemäß Art. 32 schützt die Republik die Gesundheit als grundlegendes Recht des Individuums und als Interesse der Gemeinschaft und gewährleistet den Bedürftigen kostenlose Behandlung
Art. 34 legt fest, daß die mindestens achtjährige Teilnahme am Grundschulunterricht obligatorisch sowie unentgeltlich ist und gibt den begabten und verdienstvollen Schüler das Recht, die höchsten Studiengrade zu erreichen, auch wenn sie mittellos sind. Die Republik verhilft diesem Recht zur Wirkung durch Stipendien, Familienbeihilfen und sonstige Unterstützungen, die aufgrund von Ausscheidungswettbewerben zugesprochen werden
Das Recht auf Arbeit – aus Art. 4 – wird ergänzt durch Art. 36, der festlegt, daß jeder das Recht auf eine Entlohnung hat, die Umfang und Qualität seiner Arbeit entspricht und die ausreichen muß, ihm und seiner Familie ein freies und würdiges Dasein zu ermöglichen. Ferner bestimmt Art. 36, daß jeder
51 Duncan S.J. Grehan in: Eberhard Grabitz (Hrsg.) Grundrechte in Europa und USA, S.294.52 Art. 40 III 1: „The State guarantees in its laws to respect, and, as far as practicable, by its laws to defend and vindicate the personal rights of the citizen“. Art. 40 III 2: „The State shall, in particular, by its laws protect as it may from unjust attacks and, in the case of injustice done, vindicate the life, person, good name, and property rights of every citizen“.53 Grehan in: Grabitz, a.a.O., S.295, 296.54 Derselbe, a.a.O.,S.295.55 James Casey, Constitutional Law in Ireland, S.309.56 Derselbe, S.316, S.329, siehe auch Fußnote 40 „as far as practicable
Arbeitende ein unverzichtbares Recht auf einen wöchentlichen Ruhetag und bezahlten Jahresurlaub hat.
Art. 37 enthält neben dem Grundsatz der gleichen Entlohnung von Frauen die Regelung, daß die Arbeitsbedingungen der Frau die Erfüllung ihrer wesentlichen Aufgabe in der Familie ermöglichen müssen und Mutter und Kind einen besonderen Schutz gewährleisten.
Ein Recht auf soziale Sicherheit verbürgt Art. 38, indem er ein Recht auf Unterhalt und Sozialfürsorge für jeden Arbeitsunfähigen statuiert, der nicht über die lebensnotwendigen Mittel verfügt, sowie für jeden Arbeitenden ein Recht auf Bereit- und Sicherstellung der seinen Lebensbedürfnissen angemessenen Mittel für Unglücksfälle, Erkrankung, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit. Der Staat bestimmt zur Erfüllung dieser Aufgaben Einrichtungen oder setzt welche dafür ein. Dies gilt auch für das Recht auf Erziehung und Berufsausbildung für Arbeitsunfähige und nur beschränkt arbeitsfähige Personen.
Nach der Auffassung des italienischen Verfassungsgerichtshofs ist diese Aufzählung jedoch nicht abschließend. Vielmehr hat er in seiner Rechtsprechung weitere soziale Grundrechte anerkannt, die er aus der Verfassung herausliest, insbesondere ein Recht auf eine angemessene Wohnung57, sowie ein Recht auf eine gesunde Umwelt. Letzteres gewinnt der Gerichtshof aus einer extensiven Auslegung des Rechts auf Gesundheit (Art. 32) und dem Schutz der Landschaft (Art. 9). Dem Recht auf Gesundheit hat der Verfassungsgerichtshof verschiedene Ausprägungen gegeben, so auch ein Recht auf die sexuelle Identität als Teil des Rechts der psychischen und physischen Integrität58.
Überhaupt spielt das Gericht eine wichtige Rolle für den Schutz der Grundrechte in Italien, da es einige der genannten Grundrechte als subjektive Rechte anerkannt hat. Im italienischen Verfassungsrecht werden sogenannte unbedingte und bedingte Grundrechte unterschieden. Unbedingte sind solche, die in der Verfassung vorgesehen sind und aus sich selbst heraus wirken, ohne daß es einer legislativen Umsetzung bedürfte. Bedingte verlangen dagegen eine gewisse „Infrastruktur“, um verwirklicht werden zu können59.
Das Recht auf Gesundheit ist beispielsweise insoweit ein unbedingtes, durchsetzbares Recht, als es ein Recht auf psychische und physische Integrität enthält, aber ein bedingtes, soweit es ein Teilhaberecht am Gesundheitssystem darstellt60. Auch das Recht auf Wohnung wird nicht als unbedingtes anerkannt61.
Unbedingten Grundrechten ist durch den Verfassungsgerichtshof und den Kassationshof in verschiedenen Fällen unmittelbare Wirkung zuerkannt worden und zwar sowohl gegen den Staat als auch gegen Dritte62. Dazu zählen das Recht auf bezahlten Urlaub (Art. 36), das Recht auf faires Arbeitsentgelt (Art. 36), sowie das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 38). Insofern scheint die Trennung zwischen bedingten und unbedingten Grundrechten nicht konsequent durchgehalten zu
57 Sciarra, From Strasbourg to Amsterdam, S.12 unter Hinweis auf die Entscheidung 404/1988; de Vergiottini in: Matscher, a.a.O. , S.330 unter Hinweis auf die Entscheidungen 49/1987, 217/1988, 404/1988, 252/1985.58 de Vergiottini, a.a.O., S.330.59 de Vergiottini, a.a.O., S.237; Díez-Picazo/Ponthoreau, The Constitutional Protection, S.11.60 Ebenda, S.11.61 de Vergiottini, a.a.O., S.332.62 Ebenda, S.327.
werden, denn auch das Recht auf soziale Sicherheit fordert ein Tätigwerden des Gesetzgebers zur Schaffung der notwendigen Einrichtungen.
Eine Besonderheit besteht in Italien darin, daß es keine Möglichkeit gibt, als Bürger den Verfassungsgerichtshof direkt anzurufen. Vielmehr kann sich der Einzelne vor den ordentlichen Gerichten direkt auf die unbedingten Grundrechte berufen.
Die Ausgestaltung sozialer Grundrechte als subjektive Rechte, insbesondere durch den Verfassungsgerichtshof, wird von Bognetti63 stark kritisiert. Er weist darauf hin, daß dies dem italienischen Staat einen enormen Schaden zugefügt habe, da es ihn an den Rand des finanziellen Ruins gebracht habe. Dies sei zum einen dadurch geschehen, daß die Bestimmungen der Verfassung in den siebziger und achtziger Jahren von Gewerkschaften und marxistischen Parteien dazu benutzt wurden, die öffentliche Meinung gegen die Regierung zu mobilisieren, indem ihr vorgeworfen wurde, nicht aktiv genug für die Verwirklichung der sozialen Ziele der Verfassung einzutreten. In der Folge wurden die Staatsausgaben derart erhöht, daß es zu Inflation und hoher Staatsverschuldung kam, was die Verfassung wiederum verhindern will (Art. 47 und Art. 81) und der wirtschaftlichen Situation des Landes geschadet hat64.
2.9. Luxemburg
Die luxemburgische Verfassung stammt aus dem Jahre 1868 und wurde zuletzt 1998 geändert. Wie ihre Vorgängerin von 1841 hat sie sich sehr stark an der belgischen Verfassung und auch an dem Staatsrecht der anderen Nachbarländer orientiert. Auch bei der Auslegung ihrer Verfassung hat sich Luxemburg immer von der nachbarlichen Verfassungslehre leiten lassen, was unter anderem damit zusammenhängt, daß sich die luxemburgischen Juristen mangels eigener Rechtsfakultät ihr Wissen im Ausland aneignen mußten65
Soziale Grundrechte kennt sie nur sehr eingeschränkt. Unter dem Titel „Die Luxemburger und ihre Rechte“ legt Art. 11 fest, daß das Gesetz das Recht auf Arbeit und jedem Bürger die Ausübung dieses Rechts gewährleistet. Ziel dieser verfassungsmäßigen Bestimmung, die 1948 reformiert wurde, war die verfassungsrechtliche Garantie der bis dahin nur einfachgesetzlich geschützten Rechte66. Damit sollte der Gesetzgeber aufgefordert sein, die sozialen Rechte weiter auszugestalten und sie den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen67.
Ebenso sorgt Art. 11 für die soziale Sicherheit, den Schutz der Gesundheit sowie die Erholung der Arbeiter. In Art. 23 wird der Staat verpflichtet, für die kostenlose und obligatorische Grundschulausbildung jedes Luxemburgers zu sorgen. An gleicher Stelle wird erwähnt, daß die Gesundheits- und Sozialpflege durch das Gesetz bestimmt werden. Es ist jedoch weitgehend anerkannt, daß diese Rechte keine Grundrechte des einzelnen darstellen, sondern es sich vielmehr um Gesetzgebungsprogramme handelt, deren Ausgestaltung Aufgabe des Staates ist68.
3 Giovanni Bognetti, Professor an der Universität Mailand, a.a.O., S.90 ff.64 Ebenda, S.92 f.65 Manessis a.a.O., S.35; Danny Pieters in: Grabitz (Hrsg.), a.a.O., S.447.66 Álvarez Vélez/Alcón Yustas, a.a.O., S.441.67 Pieters, a.a.O., S.467.68 Derselbe, S.467, 469
Darüber hinaus bietet Art. 11 III, der die Naturrechte der menschlichen Person und der Familie garantiert, die Möglichkeit, Grundrechte sozialer Natur aus ihm abzuleiten69. Allerdings handelt es sich um eine sehr vage Rechtsgrundlage, da sie einerseits als ein Prinzip verstanden werden kann, unter der die nachfolgenden Rechte betrachtet werden müssen, andererseits auch eine Ermächtigungsgrundlage für eine konkrete Schaffung weiterer Rechte darstellen könnte70. Bisher wurde von letzterer Möglichkeit jedoch nicht Gebrauch gemacht.
2.10. Niederlande
Bis zum Beginn der achtziger Jahre war die niederländische Verfassung eine der ältesten Europas. Erst 1983 wurde die Verfassung von 1815 völlig überarbeitet und modernisiert71.
Um den Sozialstaat verfassungsmäßig zu etablieren, hat die niederländische Verfassung die sozialen Rechte als Auftrag an den Staat formuliert72. In Art. 19 I ist der Staat aufgerufen, hinreichend Arbeitsplätze zu schaffen. Die niederländischen Verfassungsgeber haben sich gegen eine, ein subjektives Recht einräumende Formulierung entschieden, da sie sich bewußt waren, daß der Staat nicht allein die Arbeitsplätze vergibt und er deshalb nur durch bestimmte Maßnahmen fördernd auf die Arbeitsmarktsituation einwirken kann73. Auch die Existenzsicherung des einzelnen und die Verteilung des Wohlstandes zählen gemäß Art. 20 I zur Sorge des Staates. Dabei handelt es sich ebenfalls um einen Auftrag an den Staat, entsprechende Maßnahmen zu treffen.
Nach Art. 20 II werden die soziale Sicherheit betreffende Vorschriften durch Gesetz entlassen, so daß die Rechtsgrundlage für den Bürger nur einfaches Recht darstellt
Art. 20 III räumt dem bedürftigen Niederländer einen Anspruch auf Sozialhilfe ein, jedoch nur auf Grundlage eines Gesetzes, so daß die Verfassung dem Bürger auch diesbezüglich kein Grundrecht einräumt
In Art. 21 wird die Sorge des Staates hinsichtlich des Schutzes und der Verbesserung der Umwelt festgelegt
Art. 22 verpflichtet den Staat und die anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Maßnahmen zu treffen hinsichtlich der Förderung der Volksgesundheit, der Schaffung von ausreichendem Wohnraum sowie der sozialen und kulturellen Entfaltung einschließlich der Freizeitgestaltung.
Art. 23 schließlich unterstellt das Unterrichtswesen der Regierung und legt fest, daß der Unterricht frei ist, jedoch unter behördlicher Aufsicht steht. Schließlich ergibt sich aus Art. 23 IV, daß es die Aufgabe der Gemeinden ist, für die schulische Ausbildung zu sorgen
Die niederländische Verfassung räumt den Bürgern somit keine individuellen subjektiven Rechte ein, sondern sie hat sich für den Staatsauftrag oder die Staatsverpflichtung entschieden.
9 Derselbe, S.463.70 Derselbe, S.463f.71 Manessis, a.a.O., S.37.72 Álvarez Vélez/Alcón Yustas, a.a.O., S.463.73 van der Pot, Handboek van het Nederlandse Staatsrecht, S.293
Bemerkenswert ist weiterhin, daß die Verfassung kein Instrument zu ihrem eigenen Schutz bzw. zur Durchsetzung von Rechten kennt, sondern daß es in Art. 120 den Gerichten sogar ausdrücklich untersagt wird, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu untersuchen
Die österreichische Verfassung enthält keine sozialen Grundrechte, sondern nur „klassische“ liberale Grundrechte, wie das Recht auf Erwerbsfreiheit (Art. 6 StGG) und das Recht auf Freiheit der Berufswahl und Berufausübung (Art. 18 StGG).
Jedoch wird schon seit den achtziger Jahren darüber diskutiert, ob soziale Grundrechte in der Verfassung verankert werden sollen. Aufbauend auf den Beratungen eines Expertenkollegiums hat eine politische Grundrechts-Kommission in zwei Entwürfen die einzelnen Rechte, die denkbar sind, aufgelistet und für jedes dieser Rechte bestimmt, in welcher Form es in der Verfassung verwirklicht werden soll74. Dabei wurden folgenden sozialen Grundrechte (im Sinne der Studie) genannt:
Recht auf Arbeit (wozu Fragen der Berufsberatung, der staatlichen Beschäftigungspolitik oder des Kündigungsschutzes zählten), Recht auf angemessenen Lohn (Garantien des Mindestlohns und des gleichen Lohns für Mann und Frau), Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Sicherung angemessener Arbeitsruhe, Mitbestimmung), Recht auf Kinder-, Jugend- und Mutterschutz (u.a. Verbot der Kinderarbeit, bestimmte Berufsverbote für Frauen), Recht auf Wohnen (u.a. staatliche Wohnbauförderung), Recht auf Bildung (u.a. kostenloser Schulunterricht), Recht auf soziale Sicherheit (v.a. Garantie des Sozialversicherungssystems und der Sozialhilfe).
Ein subjektives Recht sollte dabei nach Art. 1 Abs.4 des zweiten Entwurfs auf unentgeltliche Arbeitsvermittlung und Berufsberatung entstehen.
Nach dem folgenden Entwurf der Grundrechtsreform-Enquete sollte die Institution der Sozialversicherung für Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit verfassungsrechtlich verankert werden und das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme an dem System der Sozialversicherung auch verfassungsgerichtlich überprüfbar sein. Letztlich war dieses Anliegen der Verankerung der sozialen Grundrechte in der Verfassung aber selbst nach den Worten des Vorsitzenden der Enquete-Kommission nichts anderes als eine erhöhte Bestandsgarantie des Sozialstaates, die inhaltlich bereits durch viele Konventionen und Vereinbarungen im Rahmen der Sozialpartnerschaft vorgegeben sei75.
In der Verfassung wurden aber bis heute keine sozialen Grundrechte verankert. Dennoch ist Österreich einer der Mitgliedsstaaten mit der größten sozialen Sicherheit.
2.12. Portugal
Die Verfassung, die aus dem Jahre 1976 stammt, wurde zuletzt 1997 umfangreich überarbeitet. Die portugiesische Verfassung stellt die Grundrechte noch detaillierter dar als die spanische. Genau wie bei der spanischen, sollte auch bei der portugiesischen Verfassung, nach der Zeit der Diktatur, die
74 Okresek in: Matscher, a.a.O. , S.195.75 Zitiert bei Okresek, a.a.O. S.196.
Demokratie möglichst umfangreich abgesichert werden, so daß neben den fundamentalen Freiheitsrechten auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte garantiert werden76.
In Art. 2 legt die Verfassung fest, daß Portugal ein demokratischer Rechtsstaat ist, der darauf abzielt, eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Demokratie zu verwirklichen. Folgerichtig unterscheidet die Verfassung zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Zu dem ersten Komplex gehört das Recht auf Arbeit, welches in Art. 58 manifestiert ist. In Art. 59 wird neben regelmäßigem und bezahltem Urlaub auch der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung und gerechte Entlohnung garantiert.
Die sozialen Rechte umfassen das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 63), das Recht auf den Schutz der Gesundheit (Art. 64), auf angemessene Wohnverhältnisse, die ausreichenden hygienischen Maßstäben entsprechen (Art. 65), auf eine gesunde Umwelt (Art. 66), auf den Schutz der Familie (Art. 67), der Elternschaft (Art. 68), Schutz der Kinder (Art. 69) und Jugend (Art. 70), Schutz der Behinderten (Art. 71) und der alten Menschen (Art. 72).
Zu den kulturellen Rechten zählen neben dem Recht auf Ausbildung und Kultur (Art. 73), Schul- und Universitätsausbildung (Art. 74, 76) auch das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben (Art. 78) und das Recht auf physische Ausbildung und Sport (Art. 79).
Diese Auflistung zeigt, wie sehr sich die portugiesische Verfassung bemüht hat, jeden den Bürger betreffenden Bereich möglichst genau abzudecken. Die Rechte sind alle subjektiv formuliert, wodurch der Eindruck erweckt wird, als seien sie auch einklagbar. Allerdings wird im zweiten Abschnitt der jeweiligen Rechte regelmäßig der Auftrag an den Staat formuliert, wie die Rechte umzusetzen sind. Dem Recht des Bürgers steht demnach immer eine konkrete Pflicht des Staates gegenüber77.
So wird das Recht auf Arbeit durch die Pflicht des Staates ergänzt, bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Pläne anzuwenden78
Der Anspruch auf soziale Sicherheit wird durch die Pflicht des Staates konkretisiert, ein Sozialversicherungssystem aufzubauen, welches die Bürger im Falle von Krankheit, Alter, Invalidität, Verwitwung und Verwaisung und in allen anderen Fällen, in denen jemand seine Arbeitsfähigkeit verloren hat, absichert
Dem Staat obliegt es, eine entsprechende Wohnungspolitik durchzuführen und die ärztliche Versorgung im ganzen Land zu gewährleisten.
Der Schutz dieser Rechte ergibt sich aus Art. 17 und 18. Art. 17 erklärt die Anwendung des Systems der Rechte, Freiheiten und Garantien auf die in Kapitel II genannten Rechte und auf die ihrer Natur nach analogen Grundrechte. In Art. 18 wird manifestiert, daß die Verfassungsbestimmungen, die sich auf Rechte, Freiheiten und Garantien beziehen, direkt anwendbar sind und die öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Einrichtungen binden.
76 José Vida Soria in: Matscher a.a.O., S.304; Manessis a.a.O., S.44.77 Vida Soria a.a.O., S.308.78 dazu gehören: – die Durchführung der Vollbeschäftigungspolitik; – Chancengleichheit bei der Berufs – oder Arbeitswahl; – die kulturelle, fachliche und berufliche Ausbildung der Arbeiter.
Wie die spanische, sieht sich auch die portugiesische Verfassung mit dem Problem der „ewigen Wirksamkeit“ hinsichtlich des Schutzes der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte konfrontiert79. Allerdings gilt die bevorzugte Behandlung der Grundrechte nach Art. 17 nur für die in Kapitel II genannten Rechte. Die oben dargestellten sozialen Grundrechte gehören jedoch zu Kapitel III und befinden sich somit nicht mehr im Schutzbereich80. Auch die in Art. 17 genannte Möglichkeit der analogen Anwendung wird in der Praxis nicht vollzogen, da offensichtlich Scheu vor einer zu weiten Auslegung der analogen Rechte besteht.
Die portugiesische Verfassung sieht nicht die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde im Falle einer Grundrechtsverletzung vor. Dies gilt erst recht für die sozialen Rechte81. Nach Art. 283 kann das Verfassungsgericht jedoch die Nichterfüllung der Verfassung durch Unterlassung der erforderlichen gesetzlichen Maßnahmen feststellen.
2.13. Finnland
In § 15 der finnischen Verfassung vom 17.Juli 1919, in ihrer Form vom 1. August 1995, ist neben dem Recht auf Berufsfreiheit und dem Bekenntnis zum „Schutz der Arbeit“ auch festgelegt, daß die öffentliche Gewalt die Beschäftigung fördert und bestrebt ist, jedem das Recht auf Arbeit zu gewährleisten. Ferner enthält er einen Auftrag an den Gesetzgeber, das Recht auf Berufsausbildung und auf berufliche Fortbildung gesetzlich festzulegen.
Es handelt es sich hier nicht um justiziable Grundrechte, wie schon die Formulierungen zeigen. In der Literatur wird allerdings die Gegenansicht vertreten, daß ein subjektives Recht auf Arbeit existiert, wenn dieses auch nicht als Recht auf „sofortigen“ Erhalt eines Arbeitsplatzes verstanden werden dürfe82.
Auf der Ebene des einfachen Rechts gab es in Finnland so etwas wie ein subjektives Recht, nämlich aufgrund eines Arbeitsgesetzes von 1987 für Personen unter 20 Jahre und Langzeitarbeitslose83. Dieses ist jedoch inzwischen so geändert worden, daß nur noch für Personen unter 25 ein subjektives Recht auf eine berufliche Fortbildung besteht, wenn sie keine Arbeit und keinen Ausbildungsplatz bekommen können.
§ 15a der finnischen Verfassung bestimmt, daß jeder, der die für ein menschenwürdiges Leben erforderliche Sicherheit nicht erwerben kann, ein Recht auf lebensnotwendige Unterstützung und Fürsorge hat. Absatz 2 konkretisiert dies als Recht auf die Sicherung der Grundbedürfnisse des Lebens bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, hohem Alter sowie Entbindung oder Verlust des Ernährers.
Gemäß Absatz 3 gewährleistet die öffentliche Gewalt „jedem gemäß den näheren gesetzlichen Bestimmungen angemessene Sozialhilfe und Gesundheitsfürsorge. Die Regierung unterstützt auch
79 Vida Soria a.a.O., S.308.80 Derselbe, a.a.O., S.308; zu den bevorzugt geschützten Rechten gehören jedoch das Recht auf Schutz vor Entlassung und die Unternehmensmitbestimmung.81 Vida Soria, a.a.O., S.310.82 Dazu C.Tomuschat, „The Right to Work“ in: Rosas & Helgesen (Hrsg.): Human Rights in a Changing East-West Perspective, 1990, S.181ff.83 Vgl. Rosas, a.a.O., S.230
die Möglichkeiten der Familien und aller für die Erziehung von Kindern Verantwortlichen, um das Wohlergehen und die persönliche Entwicklung des Kindes zu gewährleisten“. Absatz 4 bestimmt, daß es die Pflicht der öffentlichen Gewalt ist, das Recht auf Wohnung zu fördern und jede Bemühung zu unterstützen durch eigene Anstrengung eine Wohnung zu finden. Der Formulierung nach handelt es sich bei Abs. 3 S.1 um ein subjektives Recht auf Erhalt der genannten Sozialleistungen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen. Im übrigen handelt es sich um Programmsätze.
Auf der Ebene des einfachen Rechts gibt es eine deutliche Tendenz, Sozialleistungen als subjektive öffentliche Rechte zu gestalten, die vor den Verwaltungsgerichten eingeklagt werden können, wie etwa das Recht auf Sozialhilfe, Unterbringung von Kindern unter 3 Jahren, Unterstützung und Erhalt von Wohnraum für Kinder und ihre Familien, die in Notlagen sind und bestimmte Unterstützung für Schwerbehinderte84.
Außerhalb des Abschnitts über die Grundrechte (Abschnitt II) finden sich soziale Grundrechte im Abschnitt VIII über das Unterrichtswesen. So verpflichtet § 78 den Staat zur Förderung der Forschung und des höheren Unterrichts in den technischen, den Agrar- und Handelswissenschaften und den übrigen angewandten Wissenschaften, sowie der Ausübung der schönen Künste. Sofern diese Fächer nicht an den Universitäten vertreten sind, unterhält der Staat besondere Hochschulen und unterstützt zu diesen Zwecken eingerichtete private Einrichtungen (Satz 2). Diese Bestimmung kann als institutionelle Garantie verstanden werden.
Gemäß § 79 werden die Lehranstalten für die höhere allgemeine Bildung und den höheren Volksschulunterricht auf Kosten des Staates unterhalten oder erforderlichenfalls unterstützt. Aus den Worten „erforderlichenfalls unterstützt“ kann nach Auffassung des Verfassungsausschusses des Parlamentes nicht gefolgert werden, daß jede einzelne Einrichtung in einer finanziellen Krise einen Anspruch auf individuelle Unterstützung hat85.
Gemäß § 13 hat jeder das Recht auf kostenlose Grundschulbildung, § 80 Satz 2 bestimmt noch einmal, daß der Unterricht in Volksschulen für jeden unentgeltlich sein soll. Gemäß § 81 hat der Staat die Lehranstalten für die technischen Berufe, für die Landwirtschaft und deren Nebengewerbe, für Handel und Seefahrt sowie für die schönen Künste zu unterhalten oder nach Bedarf mit staatlichen Mitteln zu unterstützen. Mit dieser Bestimmung soll die berufliche Bildung gesichert werden.
Die Grundrechte, die sich aus diesem Abschnitt ableiten lassen, sind ebenfalls keine subjektiven Rechte des einzelnen, sondern institutionelle Garantien und Programmsätze. Dennoch sind sie für die Verfassungswirklichkeit in Finnland von großer Bedeutung, da der Staat tatsächlich in Übereinstimmung mit diesen Bestimmungen viele Sozialleistungen im Bereich der Bildung gewährleistet. So ist beispielsweise die höhere Schulbildung nicht nur kostenlos, sondern beinhaltet auch Mahlzeiten, Gesundheitsversorgung und teilweise kostenlose Beförderung zur Schule und Unterbringung. Dies hängt von den Kommunen ab, die dafür zuständig sind und die Kosten gemeinsam mit dem Staat tragen. Die gleichen Vorteile werden den Schülern der Berufsschulen gewährt. Auch der Besuch der Universitäten ist kostenlos; für die Lebenshaltungskosten werden Stipendien und Darlehen angeboten86.
4 Rosas, a.a.O , S.234.85 Pentti Arajärvi: „The Right to Education in Finland“ in: Drzewicki/Krause/Rosas (Hrsg), a.a.O., S.282.86 Ebenda, S.282 f.
2.14. Schweden
In der Verfassung des Königreichs Schweden vom 1.1.1975, in ihrer Fassung vom 1.1.1980, findet sich im Kapitel 1 – unter dem Titel Grundlagen der Staatsform – § 2 Abs. 2, wonach die persönliche, finanzielle und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen das primäre Ziel der öffentlichen Tätigkeit zu sein hat. Dem Gemeinwesen obliegt es nach § 2 Abs. 2 S.2 insbesondere, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern, sowie für die soziale Fürsorge und Sicherheit und eine gute Lebensumwelt einzutreten.
Bemerkenswert ist, daß diese sozialen Grundrechte nicht im Kapitel 2 (Grundrechte und Freiheiten) stehen, sondern bei den Grundlagen der Staatsform. Dies spiegelt die Tatsache wider, daß das Königreich Schweden sich als Wohlfahrtsstaat versteht. Die genannten sozialen Grundrechte können daher als Staatszielbestimmungen angesehen werden, an denen sich jegliche öffentliche Tätigkeit zu orientieren hat. Es wird daran aber auch deutlich, daß es sich nicht um justiziable Grundrechte handelt87.
Wie in den anderen Staaten Skandinaviens werden die zahlreichen sozialen Rechte der Bürger durch einfache Gesetzgebung ausgestaltet und sind, soweit sie subjektive Rechte darstellen, vor Verwaltungsgerichten einklagbar88. Die Rechtsprechung in sozialen Angelegenheiten hat man in Schweden nicht den ordentlichen Gerichten überlassen, weil traditionell eine gewisse Skepsis gegenüber der Richterschaft bestand, die überwiegend einen konservativen Hintergrund hatte. Man befürchtete, daß deren Rechtsprechung die sozialen Rechte aushöhlen würde89.
Der schwedische Staat legt besonderen Wert darauf, daß soziale Unterstützung durch den Staat nicht zur Stigmatisierung einzelner führt. Daher hat grundsätzlich jeder unabhängig von seinem finanziellen Hintergrund Anspruch auf eine Vielzahl staatlicher Leistungen90. Darin zeigt sich das Verständnis von einem Staat, der nicht nur ein Minimum an Sicherheit für den Bürger gewährleistet und allen die gleichen Rechte gibt, sondern darauf ausgerichtet ist, tatsächliche soziale Gleichheit herzustellen.
2.15. Vereinigtes Königreich
Um zu verstehen, wie Grundrechte im Rechtssystem des Vereinigten Königreichs überhaupt geschützt werden, muß man zunächst in Betracht ziehen, daß in Großbritannien keine geschriebene Verfassung im Sinne eines umfassenden Dokuments existiert und daß kein Grundrechtskatalog vorhanden ist. Vielmehr zählen verschiedene Texte zu einer Art „Verfassung“ wie die Magna Charta Libertatum von 1215, die Petition of Rights von 1627, die Habeas-Corpus-Akte von 1679 und die Bill of Rights von 1689.
Es besteht aber grundsätzlich nicht die formelle Trennung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht, was sich daraus erklärt, daß der Souverän nicht das Volk, sondern das Parlament ist. Seine Gesetze können folglich nicht verfassungswidrig sein und müssen von den Gerichten angewendet werden. Es gibt auch keine Verfassungsgerichtsbarkeit in dem Sinne, daß Akte der öffentlichen
87 Rosas, a.a.O., S.229 unter Hinweis auf den offiziellen Kommentar Petren & Ragnehalm, Sveriges grundlagar och tillhörande författningar med förklaringar, Stockholm 1980, S.20; Katrougalos, a.a.O., S.294 f.88 Rosas, a.a.O., S.233.89 Katrougalos, a.a.O., S.295.90 Ebenda, S.293f.
Gewalt auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden können91. Stattdessen obliegt es den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Gesetze auszulegen und im Rahmen des Common Law das Recht weiterzuentwickeln. Die Grundrechte des Individuums müssen daher den einfachen Gesetzen und dem Common Law entnommen werden. Dies wird besonders dadurch erschwert, daß das Parlament grundsätzlich keine positiven Rechte formuliert, also etwa „Jeder hat das Recht, … „, sondern daß detaillierte Regelungen der jeweiligen Bereiche getroffen werden, aus denen der Schutz von Grundrechten abgeleitet werden kann. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, daß der einzelne jedes Recht hat, solange es nicht ausdrücklich eingeschränkt ist92.
Dieses Konzept führt dazu, daß Freiheitsrechte eine große Rolle spielen, soziale Grundrechte im Sinne von Teilhaberechten aber bisher in der britischen Rechtslehre überwiegend nicht anerkannt werden. Grundrechte werden hier gleichgesetzt mit Freiheit von dem Staat. Freiheit und Sicherheit als Grundrechte mit Hilfe des Staates zu erlangen, ist für die meisten britischen Juristen nicht denkbar93.
Britische Juristen weisen insbesondere darauf hin, daß die Erweiterung der Grundrechte auf soziale Grundrechte auf Kosten der individuellen Freiheiten gehe, sowie daß es unsinnig sei, Rechte die zum größten Teil nicht direkt durchsetzbar seien, sondern Programmsätze darstellten, auf dieselbe Stufe mit den althergebrachten Freiheitsrechten zu stellen. Dadurch würde der Grundrechtsgedanke überhaupt verwässert94.
So wird ein Recht auf Arbeit auch nur insoweit anerkannt, als es ein Recht gibt, daß der einzelne seinen gewählten Beruf ausüben kann, ohne daß er ungerechtfertigterweise davon ausgeschlossen wird95.
Ein Recht auf soziale Sicherheit im Sinne eines verfassungsmäßigen Rechts gibt es im Vereinigten Königreich nicht. Dennoch gibt es selbstverständlich verschiedene Sozialleistungen, die mit denen der anderen Mitgliedsstaaten vergleichbar sind und eine nationale Krankenversorgung, die für alle kostenlos ist96.
Es besteht auch ein subjektives Recht darauf, diese Sozialleistungen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu erhalten. Dabei handelt es sich aber nicht um ein verfassungsmäßiges Recht. Kommt es zu Streitigkeiten mit der Verwaltung, können sogenannte „administrative tribunals“ angerufen werden. In zweiter und letzter Instanz entscheiden dann die „Social Securities Commissioners“97. Die ordentlichen Gerichte und das Common Law spielen dagegen bei dem Schutz
91 Ridley: „The British Constitution and Constitutional reform in Britain“ in: Bieber/Widmer (Hrsg), L’Espace constitutionnel européen – Der europäische Verfassungsraum – The European constitutional area, Zürich, 1995, S.30 ff.92 Dicey, Introduction, S.197.93 Trautwein, Der Schutz der bürgerlichen Freiheiten und der sogenannten sozialen Grundrechte in England, S.189ff.94 Ebenda, S.191f.95 Ebenda, S.195 unter Hinweis auf Nagler v. Feilden (1966), 1 All E.R. 689,693; Quinn v. Letham (1901), A.C.495, 534.96 Die nationale Krankenversicherung wird aufgrund des National Health Reorganisation Act 1973 gewährt, die öffentliche Bereitstellung von Wohnraum aufgrund des Housing Act 1957, Sozialhilfe aufgrund des National Security Act 1975; vgl. Kingston/Imrie: „Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland“ in: Grabitz (Hrsg), Grundrechte in Europa und USA, Kehl, Staßburg, Arlington, 1986.97 Harris in:Matscher, a.a.O., S.218.
sozialer Rechte praktisch keine Rolle, da die Gerichte sich weitgehend geweigert haben, soziale Rechte weiterzuentwickeln98
3. Übersicht über die vorhandenen Rechte
3.1. Tabellarische Übersicht
Die nachfolgende Tabelle dient dazu, einen Überblick über den Inhalt der Verfassungen der Mitgliedsstaaten zu ermöglichen. Sie führt auf, welche sozialen Grundrechte in den Verfassungen verankert sind. Es ist aber nicht möglich, eine Beziehung zwischen dem Vorhandensein sozialer Grundrechte auf Leistung und dem Bestand und Niveau sozialer Leistungen und Einrichtungen in den betreffenden Mitgliedsstaaten herzustellen99. Dies wird vor allem an Österreich und dem Vereinigten Königreich deutlich, die in der Tabelle eine leere Spalte haben, tatsächlich aber natürlich soziale Rechte kennen.
Die Verwendung des Symbols in der Tabelle bedeutet, daß das betreffende Recht in der Verfassung aufgeführt wird. Das Symbol bedeutet, daß es nicht ausdrücklich verankert ist, aber anerkannt wird
98 Ebenda, S.218, 201; anders zum Teil in Schottland, vgl. dazu Kingston/Imrie, a.a.O., S.833ff.99Vgl. Arbeitskreis „Europäisches Sozialrecht“, Soziale Rechte in der EG, Berlin, 1990, S.24.

3.2. Die drei verschiedenen Modelle
Ein Blick auf die Tabelle zeigt, daß in beinahe allen Mitgliedsstaaten soziale Rechte verfassungsrechtlich verankert sind. Es handelt sich durchweg um Sozialstaaten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, zu große soziale Unterschiede auszugleichen. Bei einem Vergleich zwischen den Mitgliedsstaaten zeichnen sich jedoch verschiedene Herangehensweisen ab, mit deren Hilfe soziale Rechte in die Verfassung integriert wurden. Verfassungen spiegeln letztlich immer auch Traditionen sowie wirtschaftliche und politische Erfahrungen eines Landes wider. Was die Grundrechte angeht, so lassen sich diese in verschiedene „Generationen“ einteilen. Zur ersten Generation gehören die klassischen Freiheitsrechte. Soziale Rechte entstanden auf verfassungsrechtlicher Ebene erstmals Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts und wurden nach dem zweiten Weltkrieg verfestigt. Zur dritten Generation gehören schließlich die Kultur und Umwelt betreffenden Grundrechte. Auch darin zeigt sich, daß die gesellschaftlichen Entwickoungen iomer auc` EinfluÜ auf die jeweilige Verfassung haben. Im Gegensatz zu den Freiheitsrechten, die unmittelbar gelten, haben die Rechte der zweiten und dritten Generation gemeinsam, daß ihre Benennung in der Verfassung allein nicht ausreichend ist, um sie wirksam werden zu lassen, sondern sie für ihre Umsetzung auf den Willen des Gesetzgebers angewiesen sind100. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Integration lassen sich drei Systeme grob unterscheiden, nämlich ein liberales, ein südeuropäisches und ein gemäßigtes Modell, die sich jedoch teilweise überschneiden.
3.2.1. Das liberale Modell
Zunächst nehmen das Vereinigte Königreich und Österreich eine Sonderstellung innerhalb der Mitgliedsstaaten ein, da sie beide auf die Aufnahme sozialer Rechte in ihrer jeweiligen Verfassung verzichtet haben. Zum einen gibt es im Vereinigten Königreich keine Verfassung im klassischen Sinne und zum anderen läßt sich die liberale Haltung hinsichtlich Wirtschaft und Politik nur schwerlich mit der Festlegung konkreter sozialer Rechte vereinbaren101. Obgleich das Vereinigte Königreich Vorreiter hinsichtlich sozialer Gesetzgebung durch die Einführung der sogenannten „Armengesetze“ war102, hat sich die Judikatur bei der Gewährung von Ansprüchen immer stark zurückgehalten103. Das Vereinigte Königreich bevorzugt, ähnlich wie die USA, marktorientierte Lösungen, die unabhängig von der Beeinflussung des Staates entstehen. Die umfassende soziale Absicherung in Österreich und im Vereinigten Königreich zeigt jedoch, daß es nicht der verfassungsrechtlichen Verankerung sozialer Grundrechte bedarf, um die soziale Grundversorgung der Bürger zu gewährleisten.
3.2.2. Das südeuropäische Modell
Das „südeuropäische“ Modell zeichnet sich dadurch aus, daß soziale Grundrechte umfangreich in die Verfassung aufgenommen wurden. Die Verfassungsgeber haben sich bemüht, jeden Lebensbereich abzudecken und einen möglichst umfassenden Schutz für die Bürger verfassungsrechtlich festzulegen.
100 Iliopoulos-Strangas, a.a.O., S.19.101 a.a.O., S.279.102 a.a.O., S.279.103 Diese „Poor Laws“ waren starker Kritik ausgesetzt, da sie die staatliche Unterstützung nicht als Recht, sondern als Almosen ausgestalten würden. Anfang dieses Jahrhunderts wurde der Grundstein für die moderne Sozialgesetzgebung gelegt. Dieses System wurde nach dem zweiten Weltkrieg ausgebaut, indem es sich an den Prinzipien von Universalität, Gleichheit und Gerechtigkeit orientierte. Diese Grundsätze sollten vor allem die Ausgrenzung ärmerer Bevölkerungs- schichten, die auf die Solidargemeinschaft angewiesen sind, verhindern.
Zu diesen Ländern gehören Italien, Griechenland, Spanien und Portugal. Vielfach wurde in den Verfassungen auf die Formulierung: „Jeder hat das Recht auf… “ zurückgegriffen, wodurch der Anschein entsteht, daß es sich um subjektive Grundrechte handelt. Trotz der Wortwahl sind die Rechte in den wenigsten Fällen einklagbar. Teilweise sehen die Verfassungen nicht einmal die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde vor. Das individuelle Recht wird letztlich wie ein Auftrag an den Staat behandelt, Maßnahmen einzuleiten, die eine Inanspruchnahme des Rechts durch den Bürgern ermöglichen.
3.2.3. Das gemäßigte Modell
Die Verfassungen der übrigen Länder verbinden liberale Tendenzen mit der konkreten Festlegung von Rechten, sei es als subjektive Formulierung, Staatszielbestimmung oder Programmsatz.
Die Verfassungsgeber waren sich aber bewußt, daß die Einflußmöglichkeiten in einer Marktwirtschaft begrenzt sind, und daß insbesondere das Grundrecht auf Arbeit nur schwer realisierbar ist. Dennoch haben es fast alle Länder in ihren verfassungsrechtlichen Text, zumindest als Programmsatz, aufgenommen, um die Regierungen zu verpflichten, auf den Arbeitsmarkt fördernd einzuwirken.
Eine Ausnahme bildet das deutsche Grundgesetz, daß die sozialen Rechte im Wege der Sozialstaatsklausel schützt, die von der öffentlichen Gewalt bei jeglichem Handeln beachtet werden muß. Erwähnenswert ist weiterhin, daß es in Skandinavien, im Gegensatz zu den anderen Ländern, immer einen parteiübergreifenden Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit sozialer Absicherung in einem marktwirtschaftlichen System gab.