Skip to main content

Teil II: Die Anerkennung sozialer Grundrechte auf europäischer Ebene

1. Die Europäische Sozialcharta
Die Europäische Sozialcharta (ESC) kann als „soziales Gegenstück“ zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bezeichnet werden. Sie entstand wie die EMRK im Rahmen des Europarats und wurde seit 1961 von 22 Staaten unterzeichnet, allerdings teilweise mit Vorbehalten und Ausnahmeklauseln12. Die ESC verpflichtet die Vertragsstaaten zu gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Maßnahmen im Bereich des Erwerbslebens und der sozialen Sicherheit. Zwar sieht sie keine wirklichen Sanktionsmaßnahmen im Falle der Verletzung der Verpflichtungen vor, jedoch verpflichtet sie die Unterzeichnerstaaten, alle zwei Jahre einen Bericht an den Sachverständigenausschuß abzuliefern, der daraufhin Verletzungen feststellt und Vorschläge für Änderungen unterbreitet. Dadurch hat die ESC, insbesondere in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens, einen beachtlichen Einfluß auf die Gesetzgebung der Signatarstaaten erzielt. So haben beispielsweise das Vereinigte Königreich und Dänemark in den siebziger Jahren ihre Gesetze über Handelsschiffe (Merchant Shipping Acts) geändert, weil sie gegen das Verbot von Zwangsarbeit in Art. 1 Abs.1 ESC verstießen. Die EU selbst ist nicht Vertragspartei der ESC. Gleichwohl haben sich die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft schon in der Präambel zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1987 auf die in der „Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit“ bezogen, um ihr Bekenntnis dazu zu bekräftigen13. Dieses Bekenntnis ist inzwischen auch in der Präambel zum EUV (4. Erwägungsgrund) enthalten. Auch der EuGH hat in seiner Rechtsprechung schon mehrfach auf die ESC Bezug genommen, sie dient ihm als Rechtserkenntnisquelle bei der Aufstellung Allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts14.
Die Europäische Sozialcharta enthält in den Art. 1 – 19 die Grundrechte auf:
q Arbeit;
q gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen;
q ein gerechtes Arbeitsentgelt;
q Freiheit der Vereinigung;
q Kollektivverhandlungen;
q das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz;
q das Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz;
q das Recht auf Berufsberatung und auf berufliche Ausbildung
12 Signatarstaaten mit Datum des Inkrafttretens: Belgien (15.11.1990), Dänemark (2.4.1965), BR Deutschland (26.2.1965), Finnland (29.5.1991), Frankreich (8.4.1973), Griechenland (6.4.1984), Irland (26.2.1965), Island (14.2.1976), Italien (21.11.1965), Luxemburg (9.11.1991), Malta (3.11.1988), Niederlande (22.5.1980), Niederlande (22.5.1980), Norwegen (26.2.1965), Österreich (28.11.1969), Polen (25.7.1997), Portugal (30.10.1991), Schweden (26.2.1965), Slowakei (22.6.1998), Spanien (5.6.1980), Türkei (24.12.1989), Vereinigtes Königreich (26.2.1965), Zypern (6.4.1968).13Vgl. Irmgard Wetter, „Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes“, Frankfurt am Main, 1998, S.61f.14 z.B. in Rutili, Entscheidung 36/75 (1975), ECR 1219; Hoechst, Entscheidung 277/88 (1989), ECR 2923; Gravier, Entscheidung 293/83 (1985), ECR, 593; bemerkenswert ist, daß sich sogar Entscheidungen auf die ESC stützen, die Staaten betrafen, die sie gar nicht ratifiziert haben, z.B. Defrenne, Entsch.149/77 (1978), ECR 1379. Der EuGH betrachtet daher die Grundrechte der ESC offensichtlich teilweise als Allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts.
q das Recht auf Schutz der Gesundheit;
q soziale Sicherheit;
q Fürsorge und das Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste;
q das Recht Behinderter auf berufliche Ausbildung und Eingliederung;
q das Recht auf Familienschutz;
q das Recht der Mütter und Kinder auf Schutz,
q sowie Freizügigkeitsrechte, verbunden mit dem Recht auf Schutz und Beistand.
Es bleibt nach wie vor die Frage, ob die EU, bzw. die EG selbst der ESC (ebenso wie der EMRK) beitreten sollte. Das Parlament hat sich stets dafür ausgesprochen, der EuGH ist aber der Ansicht, daß der EG dazu eine Rechtsgrundlage fehlt15. Möglich wäre aber auch eine Inkorporation der beiden Charten in das Gemeinschaftsrecht ohne formellen Beitritt zu ihnen16. Problematisch ist bei einem Beitritt insbesondere, daß damit beide Charten gegenüber dem EU-Recht höherrangiges Recht darstellten und konsequenterweise auch die Rechtsprechung des EuGH vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg überprüft werden können müßte. Diese Fragen können hier aber nicht vertieft werden17.
2. Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer
Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9.12.1989 wurde damals von allen EG-Mitgliedsstaaten außer dem Vereinigten Königreich unterzeichnet. Sie besitzt weder die Qualität eines verbindlichen Rechtsaktes der EU, noch ist sie ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag zwischen den Unterzeichnerstaaten. Sie stellt lediglich eine feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten dar. Gleichwohl ist sie als Hilfsmittel zur Auslegung der Bestimmungen des EGV heranzuziehen, da sie gemeinsame Ansichten und Traditionen der Mitgliedsstaaten widerspiegelt und eine Erklärung von Grundprinzipien darstellt, an die die EU und ihre Mitgliedsstaaten sich halten wollen18. Sie dient daher der Kommission zusammen mit dem durch die Staats- und Regierungschefs zugleich gebilligten Aktionsprogramm zur Umsetzung der Gemeinschaftscharta als Rechtfertigungsgrundlage für zahlreiche der von ihr vorgeschlagenen Richtlinien19.
Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthält in Titel I Rechte zu folgenden Themenkomplexen:
q Freizügigkeit;
q Beschäftigung und Arbeitsentgelt;
q Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen;
q sozialer Schutz;
15 Vgl. EuGH 2/94, v.28.3.1996.16 Vgl. dazu de Witte, „Protection of Fundamental Social Rights in the EU – The Choice of the Appropriate Legal Instrument“ in: Betten/MacDevitt, The Protection of Fundamental Social Rights in the European Union, S.66 ff.17 Zu den neueren Entwicklungen der ESC und den Zukunftsperspektiven siehe: The Social Charter of the 21st Century, Council of Europe 1997.18 E.Lundberg, „The Protection of Social Rights in Europe“, in: Drzewicki, Krause, Rosas, a.a.O., S.183.19 Zu beachten ist allerdings, daß alleine auf die Charta keine verbindlichen Rechtsakte gestützt werden können, sie kann nur neben Bestimmungen des EGV mitzitiert werden.
q Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen;
q Berufsausbildung;
q Gleichbehandlung von Männern und Frauen;
q Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer;
q Gesundheitsschutz und Sicherheit in der Arbeitsumwelt;
q Kinder- und Jugendschutz;
q ältere Menschen;
q Behinderte.
In Titel II der Gemeinschaftscharta wird klargestellt, daß generell die Mitgliedsstaaten für die Gewährleistung der sozialen Grundrechte entsprechend den einzelstaatlichen Gepflogenheiten zuständig sind. Die EU wird nur insoweit tätig, als daß die Kommission gemäß Art. 29 und 30 der Charta einen jährlichen Bericht über die Umsetzung der Charta erstellt und diesen dem Rat, dem Parlament und dem Wirtschafts- und Sozialausschuß übermittelt. In der Literatur ist daher schon festgestellt worden, daß die ESC des Europarats (siehe oben 1.) einen besseren Schutz der sozialen Grundrechte verbürgt, als die Gemeinschaftscharta der Mitgliedsstaaten der EU20. Nachdem die sozialen Grundrechte durch den Amsterdamer Vertrag nunmehr aber „den Sprung in die EUV- Präambel“ geschafft haben, könnte der EuGH sie – als „Motor der Integration“- verstärkt in seine Grundrechtsjudikatur aufnehmen und so zu einem wichtigen Element der Grundrechtsordnung machen21.
20 E.Lundberg, a.a.O. unter Hinweis auf u.a.: B.Hepple, „The Implementation of the Community Charter of Fundamental Social Rights“, The Modern Law Review, Vol.53, S.645 und P.Watson, „The Community Social Charter“, Common Market Law Review, Vol.28, S.49.21Vgl. Bergmann in: Bergmann/Lenz (Hrsg.): Der Amsterdamer Vertrag, Kommentar, Köln, 1998, S.35f