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Liberte, Egalite, Fraternite Oder Der neue Gesellschaftsvertrag

Wirtschaft findet nicht in einem politikfreien Raum statt. Im Gegenteil, sie ist das Abbild der politischen Verhältnisse."

Neue Zürcher Zeitung

Von wegen "Ende der Geschichte" ! Wer sich heute die Welt anschaut, der wird feststellen, dass wir ganz im Gegenteil nach dem Ende des Kalten Krieges und seiner bipolaren Weltordnung wieder in sehr historischen Zeiten leben. Weltweit ist durch diese Zäsur eine gewaltige Veränderungsdynamik freigesetzt worden, die kaum eine Gesellschaft, egal auf welchem Kontinent und gleich in welcher Ordnung organisiert, unverändert lässt. Und dieser historische Veränderungsdruck macht das eigentliche Wesen der Globalisierung aus, denn die politischen Systeme, die strategischen Buendnisse, die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme sind dadurch weltweit in Bewegung geraten und suchen neue Standorte, neue Gleichgewichte und neue Stabilität unter sich dramatisch verändernden Bedingungen. Die globale Geographie der Macht wird neu bestimmt, dabei spielen Ökonomie und Technologie die Hauptrolle und drängen die klassischen machtpolitischen Faktoren wie Territorium, Bevölkerung, Militär und Bündnisse in den Hintergrund.

Noch vor anderthalb Generationen wäre diese Phase eines globalen Umbruchs hin zu einer neuen Weltordnung die typische Zeit für äussere Kriege und innere Revolutionen, für neue totalitäre Ideologien und Massenbewegungen gewesen, auch und gerade im reichen Westen, wie sie Europa ja in der Zeit zwischen den beiden grossen Weltkriegen erlebt hat. Heute ist in den wichtigsten Staaten des Westens davon (noch?) nichts zu spüren oder gar zu sehen. Die gesellschaftlichen Widersprüche, deren Konfliktpotentiale wohl eher im Quadrat zugenommen haben, denn dass sie sich verringert hätten, scheinen sich in ihren traditionellen machtpolitischen und ideologischen Formen nicht artikulieren zu können, und ganz offensichtlich haben sich hier politische Formveränderungen durchgesetzt, die noch kaum begriffen, geschweige denn in ihren Auswirkungen tatsächlich verstanden worden sind.

So spielt etwa für das Verschwinden des Grossen Krieges zwischen den wichtigsten Mächten zum einen dessen Nichtführbarkeit aufgrund der gegenseitigen thermonuklearen Massenvernichtungsmöglichkeit eine entscheidende Rolle - und insofern wirkt auch gegenwärtig noch derselbe Mechanismus der gegenseitigen Abschreckung fort, der bereits den Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion zu einem "kalten", d.h. nicht mehr aus- geschossenen Krieg gemacht hat und der deshalb auf Ersatzfeldern ausgekämpft werden musste -, aber ganz gewiss sind ebenso die Öffnung der Grenzen für den internationalen Waren- und Kapitalverkehr und die damit einhergehende enge Verflechtung der wichtigsten und mächtigsten Volkswirtschaften dieser Erde in der Triade USA, Europa und Japan von entscheidender Bedeutung. Hinzu kommt als bedeutsamer dritter Faktor das definitive Ende der realexistierenden Systemalternativen zum westlichen Kapitalismus.

Es gibt heute keine wirklich massenwirksame militantautoritäre Ideologie mehr, die die gegenwärtige Globalisierungskrise durch eine radikale Alternative zum marktwirtschaftlichen Kapitalismus des Westens zu nutzen und damit auf schlimme Weise zu strukturieren in der Lage wäre, wie dies sowohl der Bolschewismus als auch der Faschismus/Nationalsozialismus in den zwanziger und dreissiger Jahren in Europa vermocht hatten. Rein machtpolitisch gesehen scheint gegenwärtig nicht die Ideologie zu zählen, sondern allein der technologische und ökonomische Erfolg einer Gesellschaft, und hierbei geben die offenen, demokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaften des Westens ganz eindeutig den Takt vor, denn sie sind nicht nur die "Erfinder" des marktwirtschaftlich-demokratischen Kapitalismus, sondern kraft ihrer Tradition auch kulturell, normativ und institutionell am besten auf dessen beschleunigten technisch-sozialen Wandel und auf die möglichst effiziente Umsetzung von Wissen und Technologie in Macht und ökonomischen Erfolg ausgerichtet. Die permanente, scheinbar nicht aufhaltbare ökonomische und technologische Mobilisierung scheint die ideologische und machtpolitische Mobilisierung als dynamische Motoren der Krise in den postmodernen Gesellschaften abgelöst zu haben.

Der Nationalismus als massenwirksame Ideologie verfügt zwar nach wie vor über ein sehr grosses Zerstörungs- und Chaospotential, und dies gilt auch für einen wie sich auch immer theologisch begründenden Fundamentalismus, aber diese beiden verbliebenen autoritären und antidemokratischen Ideologien der Gegenwart vermögen keine positive Vision, geschweige denn auch nur noch den Anschein von Lösungen für die aktuelle Krise der postmodernen Welt zu formulieren. Ihre Unfähigkeit zur Alternative macht in der Gegenwart ihre Rückständigkeit und Rückwärtsgewandtheit im jetzigen Modernisierungsumbruch aus, was sie zwar alles andere als ungefährlich macht, gleichwohl ihnen aber die historische Kraft zu einer die Massen bewegenden und überzeugenden Antwort für die Zukunftsgestaltung genommen hat. Beim Bolschewismus und Faschismus der zwanziger Jahre war dies völlig anders gewesen. Lange Zeit schienen Stalins Sowjetunion, Mussolinis Italien und Hitlers Deutschland echte und sogar erfolgreichere Modernisierungsalternativen zu den demokratischen Marktgesellschaften des Westens zu sein, die nicht nur die Massen bewegten, sondern auch in wichtigen Teilen der westlichen Intelligenz eine breite und überzeugte Anhängerschaft fanden.

Je näher man sich nun mit der Globalisierung und der damit einhergehenden gegenwärtigen gesellschaftlichen Krise beschäftigt, desto mehr verdichtet sich der Eindruck, dass wir Zeitgenossen noch mit grossen Verständnisproblemen vor der ersten postmodernen Revolution der Geschichte stehen und verzweifelt versuchen, diese mit unseren traditionellen Denkmustern, Begriffen und Erfahrungen des zu Ende gehenden europäischen 20. Jahrhunderts zu verstehen. Wir sind gegenwärtig ganz ohne jeden Zweifel Zeugen einer tiefgreifenden Umwälzung, was die Macht-, die Produktions-, die Lebensverhältnisse, die Strukturen, Normen, Institutionen und Kulturen der unterschiedlichsten Gesellschaften rund um den Globus betrifft, die in ihrer Wirkungsmächtigkeit keinen Vergleich mit den grossen Revolutionen der Moderne zu scheuen braucht.

Bei der Globalisierung lässt sich durchaus von einer "kapitalistischen Weltrevolution" sprechen, die ironischerweise der revolutionäre Kommunismus zwar immer postuliert, letztendlich aber niemals zuwege gebracht hatte. Zugleich aber, und dies ist zumindest in den reichen westlichen Industrienationen ein beherrschender Wesenszug dieser kapitalistischen Weltrevolution, bleiben die meisten Fassaden der vierzigjährigen Stabilitätsphase erhalten - kein Umsturz von Machthierarchien, Verfassung, Rechts- und Eigentumsordnung, statt dessen eine grosse institutionelle Kontinuität in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft -, während darin und dahinter allerdings Schritt für Schritt und scheinbar unaufhaltsam das Oberste zuunterst gekehrt wird. Zwischen den wichtigen Mächten schlagen keine grossen Armeen mehr aufeinander ein, keine Länder werden mehr militärisch verheert, keine Städte gehen mehr in Flammen auf, und dennoch versinken auch in der Gegenwart noch ganze Weltreiche und entstehen lautlos, und ohne dass ein Schuss fällt, neue Mächte.

In der Globalisierungsrevolution gelten andere Gesetze und wirken andere Mächte. Was früher die Armee war, ist heute die Währung geworden, Schlachten werden mittels Wechselkursen und Kreditratings geschlagen, die postmodernen Kriege werden durch Kredit- und Investitionsentscheidungen und die Grösse der jeweiligen finanziellen Ressourcen entschieden. Dies gilt für das internationale politische System wie für die Weltwirtschaft gleichermassen, für die innergesellschaftliche Entwicklung ebenso wie für die Zukunft ganzer Industrien und bedeutender globaler Grossunternehmen. Die postmoderne Revolution kennt ganz offensichtlich nicht mehr den Zustand der alles zerstörenden klassischen Revolutionen, einer brutalen tabula rasa und des sich daran anschliessenden Neuaufbaus, sondern sie findet in der inneren, gleichwohl überaus radikalen Verwandlung der vorhandenen Strukturen, Institutionen, Mächte und Normen statt. Nicht Abriss und Neubau, sondern ein qualvoll langer Umbau der vorhandenen Bausubstanz wird die Perspektive der postmodernen Revolution sein, und dies gilt nicht nur für die einzelnen Gesellschaften, sondern für die Modernisierung der Weltordnung insgesamt.

Die schlichte Grösse der Menschheit, aber auch die Reichweite ihrer technologischen Mittel und Möglichkeiten und die ökologische Vorlast nach knapp zweihundert Jahren Industrialisierung lassen heute, global gesehen, einen die Natur und die Zukunft fast gewalttätig bezwingenden Fortschrittsoptimismus, wie er noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von ganz links bis ganz rechts, quer durch das intellektuelle und politische Spektrum, beherrscht hatte, nicht mehr zu. Der postmoderne Dreiklang der Krise der ostasiatischen Tigerstaaten im Herbst/Winter 1997 machte dies auf höchst drastische Weise klar: Finanzkrise, Umweltkatastrophe und Unterdrückung der Menschenrechte - zusammengenommen nichts weniger als "bad governance" , schlechte Regierung also - waren dabei untrennbar als Krisenursachen miteinander verflochten. Und exakt dieser Dreiklang demonstriert auf sehr fatale Weise, dass es sich bei dieser Krise nicht nur um ein Versagen der Ökonomie, sondern vielmehr auch um das Ergebnis des Fehlens eines funktionalen globalen Ordnungsrahmens für die internationalen Finanzmärkte und damit ebenfalls um ein sehr schweres Politikversagen gehandelt hat.Die Krise der "Tiger" demonstriert sehr drastisch, dass das Verschwinden der nationalen Finanzkartelle, bestehend aus Politik und Finanzsystem der jeweiligen Nationalstaaten, auch ein Verschwinden des Stabilitätsankers dieser Kartelle für die Weltwirtschaft bedeutet. Der Übergang zu einer verstärkten nationalen und vor allem internationalen Kapitalmarktfinanzierung der Weltwirtschaft ohne neue, national wie international wirkende politische Sicherungen und Regulierungen - vor allem klare Transparenzregelungen, die wiederum ohne einen funktionierenden demokratischen Verfassungsstaat nicht zu haben sein werden, und eine entsprechende institutionalisierte Risikobeteiligung privater Investoren im Falle öffentlich notwendiger Stuetzungsinterventionen - macht diese Märkte allerdings über kurz oder lang zu einem reinen Vabanquespiel für die Weltwirtschaft, denn die Märkte und das "Herdenverhalten" der Investoren neigen zu Fehlallokationen und damit zu spekulativ verursachten Crashs. Eine der Asienkrise entsprechende Fehlallokation der internationalen Finanzmärkte kann aber eine Weltwirtschaftskrise mit katastrophalen Folgen auslösen, und dieses Risiko kann und darf die internationale Staatengemeinschaft allen Ernstes weder akzeptieren noch gar eingehen.

Gewiss zeigt die Krise der ostasiatischen "Tiger" vor allem auch die extreme Kurzsichtigkeit der internationalen Kapitalmärkte gegenüber den fatalen Folgen einer versagenden Politik. Wenn die internationale Investorenherde sich erst einmal zu einem Standort in Bewegung gesetzt hat, will sie vor allem nur ihre eigenen Erwartungen sehen, und so sahen alle "Märkte", sprich alle klugen und teuren Experten der Banken, Investmentfonds, Ratingagenturen und internationalen Organisationen vor allem nur das, was sie sehen wollten, nämlich scheinbar hervorragende Investitionsbedingungen und das Versprechen auf zukunftsfähige riesige Märkte und maximale Kapitalerträge. "Das asiatische Wirtschaftswunder ist zusammengebrochen, für die allermeisten Beobachter ebenso überraschend und schnell wie seinerzeit die Sowjetunion. Weder Weltbank noch Internationaler Währungsfonds (IWF) haben das Desaster kommen sehen..." Dass dieser Boom nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und ökologisch auf haarsträubend schlechte Bedingungen gegründet war, wollten die westlich dominierten Finanzmärkte nicht sehen, genausowenig wie man die Entwicklungsrisiken Chinas bis heute nicht wirklich zur Kenntnis nehmen will. Die internationalen Investoren sehen dort nur einen potentiell riesigen Markt, auf dem man unbedingt dabei sein will und dabei sein muss, die nicht minder grossen Risiken, die sich vor allem aus der brutalen Unterdrückung und Ausbeutung von Hunderten von Millionen Menschen und aus den völlig ungelösten demokratisch-politischen und ökonomisch-sozialen Transformationsproblemen der chinesischen Diktatur ergeben, ignoriert man schlicht oder tut sie als schlechtes menschenrechtliches Gewissen ab. Die Märkte frönen einem scheinbar abgebrühten und zynischen Realismus, der in Wirklichkeit aber blosses Wunschdenken und nicht die schonungslose Analyse der Fakten zu seiner Grundlage hat. Und dabei verschliesst man vor den ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen einer völlig ausser Rand und Band geratenen Wachstumspolitik und den daraus erwachsenden massiven Investitionsrisiken massiv die Augen, bis die Kurse kollabieren und die Investments abgeschrieben werden müssen. So kam es, wie es kommen musste: Die Märkte reagierten entlang falscher Rahmenbedingungen, die in den Tigerstaaten politisch geduldet, ja zu weiten Teilen mit repressiven Methoden sogar erzwungen worden waren, so lange in die falsche Richtung, bis die in der gesamten Region schnell aufgebauten Über kapazitäten zusammenbrachen, vor allem durch den starken Dollar, der die daran gebundenen 1Tigeri-währungen in die Überbewertung führte und sie damit zum Objekt spekulativer Angriffe machen musste. Weitere Faktoren waren eine zu hohe Auslandsverschuldung, Leistungsbilanzdefizite, eine irreale Immobilienspekulation, Vetternwirtschaft und Korruption und ein nur mässig kontrolliertes und nahezu intransparentes Bankensystem. Der finanzwirtschaftliche Zusammenbruch der asiatischen Tigerstaaten gewinnt seine wirkliche Gefahr für die Weltwirtschaft aber vor allem in Verbindung mit einer tiefen strukturellen Krise Japans, der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt, deren Bewältigung die japanische Volkswirtschaft und Gesellschaft tief erschuettern wird und die für das japanische Bankensystem nicht nur fundamentale qualitative Reformen notwendig macht, sondern auch einen gewaltigen Wertberichtigungsbedarf nach unten mit sich bringt, der weitere dramatische Zusammenbrueche von Banken, Investmenthäusern und anderen Firmen nach sich zu ziehen droht.

So schnell also können die Träume von einer schönen neuen Welt sich selbst regulierender globalisierter Märkte und neuer Wachstumsregionen platzen, nur dass daraus eine wirkliche Weltwirtschaftskrise mit all ihren katastrophalen politischen Folgewirkungen entstehen kann. Mit dem Zusammenbruch der "Tiger" wird eine Trendwende in der Globalisierung beginnen, die eine internationale politische Regulierung dieses Prozesses einleiten wird, denn das Risiko, das aus den sich selbst überlassenen globalisierten Finanzmärkten für die Stabilität der Weltwirtschaft und des internationalen politischen Systems erwächst, erweist sich einfach als viel zu gross. Zudem werden die Steuerzahler der westlichen Demokratien eine Arbeitsteilung nicht akzeptieren, welche die Risiken der internationalen Spekulation im Krisenfalle durch den IWF und andere Institutionen und Massnahmen sozialisiert, ansonsten aber die Investoren munter und uneingeschränkt weitermachen lässt.

Deshalb hat die ökonomische Malaise Ostasiens unter all den vielen schlechten Botschaften auch eine gute: Die bis an den Rand des Zusammenbruchs von Währungen und Volkswirtschaften führende Krise zeigt, dass bei aller Bedeutung von Ökonomie und Technologie im Zeitalter der Globalisierung letztendlich doch die Gestaltungskraft der Politik für den ökonomischen Erfolg entscheidend ist. Mit dem Scheitern des sogenannten "asiatischen Modells" ist auch die ökonomistische Verkürzung oder gar die autoritäre Interpretation der Globalisierung gescheitert, für die es ja gerade in westlichen Unternehmerkreisen viel und oft nur mühselig verborgene Sympathie gab. Aber diese Krise zeigt, dass Demokratie und funktionierende demokratische Institutionen die unverzichtbare Voraussetzung für eine nachhaltige Investitionssicherheit und die Stabilität der Märkte gerade im Zeitalter der Globalisierung sind. Ohne "gute" und d.h. ohne eine den Prinzipien der Gewaltenteilung, der demokratischen und öffentlichen Kontrolle und des Rechtsstaates verpflichtete Politik können auch die zentralen Subsysteme der aktuellen Globalisierungsdynamik, nämlich Ökonomie und Technologie, nicht funktional und d.h. erfolgreich arbeiten, sondern drohen vielmehr, mittel- bis kurzfristig ein Desaster anzurichten. Damit gewinnt die Globalisierung aber eine völlig neue und für die demokratische Linke des Westens hochinteressante Dimension. Freilich ist die weitgehende Verlagerung von politischer Macht in die Subsysteme von Ökonomie und Technologie auch in dieser Krise mit den Händen zu greifen. Die Schlachten des 21. Jahrhunderts werden ökonomisch und technologisch geschlagen, und das wird beide, Politik und Wirtschaft, substantiell verändern. Anders gesagt: Vieles, was man gegenwärtig noch in scheinbar politisch harmlos daherkommender Ökonomensprache als "die Märkte" bezeichnet, ist mittlerweile ja zur Huelle einer fast klassisch zu nennenden Machtpolitik geworden, und auch hierin erweisen sich die USA ein weiteres Mal als die entscheidende Supermacht des beginnenden 21. Jahrhunderts. Gewiss waren auch in den vergangenen Epochen des internationalen Kapitalismus "die Märkte" niemals politikfrei und politikfern, ganz im Gegenteil. Aber die klassische Machtpolitik spielte noch eine eigenständige, ja meistens die entscheidende Rolle, denn die Akkumulation von Macht bediente sich der Ökonomie, fand in dieser aber nicht ihren eigentlichen Zweck. Erst der Kalte Krieg mit seinem Zwang zu den nichtmilitärischen "Schlachtfeldern" der Systemfrage leitete hier eine strategische Kehre ein. Die postmoderne Revolution der Globalisierung macht diese traditionelle Unterscheidung von Märkten und nationaler Macht- und Interessenpolitik fast nicht mehr möglich, da sich die politische Macht und ihr strategisches Potential nicht mehr

überwiegend in eigenständigen Kategorien artikulieren können, sondern dies heute unmittelbar in ökonomischtechnologischen oder kulturell-kommunikativen

Kategorien tun: Finanzkraft, Kapitalausstattung, Währungsstärke, Technologieentwicklung und, alles zusammenbindend und machtpolitisch in den Analysen meist gnadenlos unterschätzt, die kulturell-kommunikative Hegemonie von Software, Medien, Unterhaltung, Warenästhetik, Konsumkultur, Sprache und Werten.

Peter Sloterdijk hat diesen Transformationsprozess von der Moderne hin zur globalisierten Realität der Postmoderne in überaus treffender Weise in einem beeindruckenden Vortrag zusammengefasst, und deshalb sei er hier in aller Ausfuehrlichkeit zitiert: "Moderne Nationen sind Erregungsgemeinschaften, die sich durch telekommunikativ, zuerst mehr schriftlich, dann mehr audiovisuell erzeugten Synchron-Stress in Form halten. Mit Hilfe synchronisierender Hysterien und homogenisierender Paniken versetzen sie sich selbst fortwährend in jene Mindestspannung, die nötig ist, um das erneute Aufklaffen der Frage, ob die Revolution hier beendet ist oder eine Fortsetzung verlange, zu verhindern oder zu vertagen. Diese Minimalhysterien und Minimalpaniken hatten bis 1945, ja im Grunde sogar bis 1989 in erster Linie den Charakter von aussenpolitischen, interimperialen, intersystemischen Spannungen angenommen - ohne Nationalfeind keine Nation, ohne Feindstress kein Selbststress. Seit dem Ende des Kalten Krieges jedoch wenden sich die hysterisierenden und panikinduzierenden Energien massiv dem wirtschaftlichen Sektor zu und diktieren den vibrierenden Gesellschaftskörpern die neuen Stress-Themen vom globalen Wettbewerb. Die Erfolge dieser ThemenRevolution sind tatsächlich durchschlagend, denn in ihrem Vollzug - wir alle haben es gespuert und doch noch lange nicht verstanden - sind innerhalb weniger Jahre europaweit, ja weltweit völlig veränderte kulturelle und soziale Klimate entstanden. Die Fitnesstrainer haben die Generale in den Hintergrund gedrängt, die mobilisierten Nationen haben die Stiefel mit den Luftpolsterlaufschuhen vertauscht. Ein gruendlich reformierter NationalstressStandard hat sich im Lauf der letzten zehn Jahre auf breiten Fronten durchgesetzt - lanciert durch jene Agenturen der Massenkultur, die auf allen Schauplätzen den athletischen, neoliberalen, modellschönen Siegertypus favorisieren. Der postmodernisierte autogene Stress ist nicht mehr geprägt von der aussenpolitischen Paranoia, die für das 19. und grosse Teile des 20. Jahrhunderts typisch war und die zur Zeit nur in Form von Fundamentalistenfurcht marginal überlebt; er ist vielmehr bestimmt von der sozialen, der konkurrentiellen, der existentiellen Paranoia, von der unmittelbaren Eifersucht auf den nächsten Rivalen, von Duellen um die besten Zugänge zu scheinbar oder wirklich knappen Gütern, vom Krieg der Ambitionen und Laszivitäten. Und über der gesamten Mediasphäre der Ersten Welt breitet sich die Erotik der Bosheit aus, die allen Nah- und Fernkämpfen der neuen globalisierten Begehrlichkeit ihre typische Nuance gibt."

Das eigentliche Kennzeichen von Revolutionen in der Moderne war nicht einmal zuerst der Umsturz der Herrschaft und die Neuverteilung von Macht, Eigentum und Chancen, sondern vor allem die Durchsetzung einer neuen normativen und gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit, und exakt dies geschieht mit der Globalisierung. Allerdings muss bis auf weiteres die Frage unbeantwortet bleiben, die sich nicht erst angesichts der ostasiatischen Krise und ihrer Bedrohung für die gesamte Weltwirtschaft aufdrängt, ob nämlich dieser Prozess auch weiterhin friedlich und gewaltfrei verlaufen wird, und zwar sowohl zwischen den wichtigsten Mächten als auch im Inneren derselben. Es bleibt offen, ob am Ende auch diese Revolution nicht doch noch, selbst in den Ländern der Wohlstandstriade, in eine "heisse" , destruktive Phase eintreten wird, ausgelöst etwa durch eine zweite Weltwirtschaftskrise, so dass die gegenwärtige Entwicklung im Rückblick lediglich als deren Präludium erscheinen wird.

Wieviel "traditionelle" Revolution, wieviel destruktive Tabularasa-Energien sind der postmodernen Revolution noch inhärent? Und was wird geschehen, wenn Deflation, eine Weltwirtschaftskrise und der Abstieg von -zig Millionen abhängig Beschäftigter und weiter Teile der Mittelschichten in den reichen westlichen Industrieländern mit den strukturellen Verwerfungen der innergesellschaftlichen Globalisierungsanpassungen zusammenkommen, wenn Enteignungs- und

Abstiegsängste und wirkliche Abstiegserfahrungen in politisch aktualisierte Hasspotentiale umschlagen und es demnach zu einer gewaltsamen Aufladung der politischen Realitäten und Ideenwelten kommt? Ein in Europa und vor allem auch in Deutschland zunehmend endemisch werdender gewalttätiger Fremdenhass zeigt die Richtung, die eine solche im wesentlichen innergesellschaftlich gewalttätig implodierende postmoderne Revolution durchaus nehmen könnte. Man wird erst in einigen Jahren Genaueres wissen, aber auszuschliessen sind solche explosiven Entwicklungen keinesfalls, vor allem dann nicht, wenn die Antworten auf die Globalisierungsrevolution weiter nur den Imperativen angebotsorientierter Standortsanierung und Kostensenkung folgen. Deshalb müssen nicht zuletzt auch solche hochgefährlichen Perspektiven bei der Suche nach Antworten auf die Globalisierung bedacht werden.

Gerade wenn man sich sowohl über den revolutionären Charakter als auch über die darin vorhandene gesellschaftliche und machtpolitische Brisanz der gegenwärtigen Globalisierungskrise im klaren ist, wird sowohl die Strategie der Verneinung dieser Krise, wie sie in Deutschland, aber auch in Frankreich vor allem bei der politischen Linken zu Hause ist, als auch die Strategie ihrer Reduktion auf eine vor allem kostenbedingte Standortkrise, wie sie überwiegend von den Unternehmerverbänden und marktradikalen Kathederliberalen gepredigt wird, bestenfalls absurd, schlimmstenfalls aber ein hochgefährliches Spiel mit dem Feuer, enn eine Revolution lässt sich weder ignorieren noch auf einen blossen ökonomischen Mitnahmeeffekt reduzieren.

Wie schnell diese Entwicklung in eine bedrohliche Zuspitzung umschlagen kann, zeigte das Wegkippen jenes öffentlich gefeierten Optimismus des immerwährenden Aufschwungs in die kalte Angst vor einer durch die Ostasienkrise und Japan ausgelöste weltweiten Deflation mit Auswirkungen, die dann denen der Grossen Depression von 1929 durchaus vergleichbar wären. Gestern noch wurden die Tigerstaaten als die kapitalistischen Investitionsparadiese in hymnischen Tönen gepriesen, heute wollen dieselben Herolde der Angebotsökonomie und der selbstregulierenden Märkte davon nichts mehr wissen. Vorgestern galt Japan noch als das Fanal schlechthin für ein angeblich sozialstaatlich sklerotisiertes Europa, und heute zittert der ganze Westen vor einer weltweiten Deflation, die von eben diesem Japan ausgelöst zu werden droht, das in seinen Strukturen gefährlich erstarrt ist. Nun, beide Auffassungen werden sich kaum als richtig erweisen, denn in ihrer Über steigerung sind sie mehr der Ausdruck einer nervösen Unsicherheit, die unter anderem ein Ergebnis des allgemein mangelnden Verständnisses der postmodernen Revolution der Globalisierung und damit der Ungewissheit über die zu erwartende Zukunft ist. Zudem hat es jede Ideologie so an sich, dass sie zwar fest im Glauben macht, zugleich aber meist blind in der Erkenntnis der Fakten, und exakt dies gilt auch für die neoliberale Ideologie von der Allmacht des freien Marktes.

Die Logik der Finanzmärkte ist eben ausschliesslich eine Logik des Gewinns, eine Wettlogik, bei der die Einsätze recht eigenen Gesetzen folgen, nicht aber eine Logik nachhaltiger gesamtwirtschaftlicher Entwicklung, von einer Allgemeinwohlorientierung ganz zu schweigen. Harmoniert die Wettlogik der Finanzmärkte mit den realwirtschaftlichen Erfordernissen oder gar dem Allgemeinwohl, was in sogenannten "normalen" Zeiten und in stabilen Volkswirtschaften durchaus der Regelfall sein kann, so sind diese ein immer wichtiger werdendes Steuerungsinstrument zur Finanzierung und Verteilung von Investitionen, und dann findet in der Regel über die

Finanzmärkte, ihre Ergebnisse und Akteure kaum eine breitere öffentliche Diskussion statt. Drohen diese Märkte aber spekulativ zu entgleisen, mit fatalen Folgen für die Realwirtschaft, die Politik und die betroffenen Gesellschaften, dann wird es schnell vorbei sein mit der Freiheit dieser Märkte. Der politische Interventions- und Regulierungsdruck wird dann, bedingt auch durch den politischen Druck zur Sozialisierung der Verluste mittels Steuergeldern, enorm zunehmen, und dies liegt in einer solch dramatischen Krisensituation durchaus im wohlverstandenen Eigeninteresse der Investoren und der Märkte. Denn wenn eine Spekulationsblase platzt, dann ist es allein eine Frage ihrer Grössenordnung und ihrer negativ auf die Realwirtschaft der reichen Industrieländer durchschlagenden Folgen, ob eine oder gar mehrere Regierungen zum Handeln gezwungen sein werden oder nicht.

Andererseits ist der Anlagedruck für das überreichlich vorhandene Kapital aber dermassen gross, dass die Bindung der Finanztransaktionen an die realwirtschaftlichen Fakten schlicht spekulativ für einige Zeit ausser Kraft gesetzt zu werden droht, bis es schliesslich irgendwann zu einer sogenannten "Anpassung" kommen muss, bei der die phantastischen Kursgewinne, die in der Regel nichts anderes als angenommene Vorwegnahmen zukuenftiger "realer" Gewinne in der Realwirtschaft sind, mehr oder weniger drastisch nach unten, Richtung Realität, korrigiert werden. Aus dieser "Freiheit" des Finanzmarktes kann niemals eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung entstehen - von einer die gesamte Gesellschaft und das internationale politische System betreffenden, dem Allgemeinwohl und den

Interessen und der Wohlfahrt der Nationen verpflichteten Entwicklung ganz zu schweigen. Die "Freiheit" der Kapitalanleger muss politisch begrenzt, reguliert, korrigiert und notfalls auch gesteuert werden.139 Auch dies ist eine Lehre der Asienkrise.

Freilich wäre es ein grosser Irrtum, aus der nunmehr zweiten schweren Krise der globalisierten Finanzmärkte (die erste war die sogenannte "Mexikokrise" von 1994/95, die de facto zum Zusammenbruch des Peso führte) auf eine Krise der Globalisierung als solcher zu schliessen oder gar auf deren Verschwinden, ja auf eine Umkehr dieser gesamten historischen Entwicklung zu hoffen, und deshalb auf die notwendigen Strukturreformen und strukturellen Anpassungen an diese neue Epoche des Kapitalismus in den westeuropäischen Gesellschaften zu verzichten. Der Sturm der Globalisierung wird zwar irgendwann vorübergehen, aber erstens wird dies dauern, zweitens können die Kosten dieser Transformation recht unterschiedlich hoch und leidvoll ausfallen und drittens wird nach diesem Orkan nichts mehr so sein wie zuvor. Denn auch die Tatsache der Krisenanfälligkeit der neuen Weltwirtschaft wird die materiellen Bedingungen der goldenen Aera des Industrialismus, der westlichen Nationalstaaten und ihrer Wohlfahrtsökonomien, ihrer hohen Wachstumsraten und ihres hohen Beschäftigungsstandes nicht wiederherstellen. Und ebensowenig die innergesellschaftlichen Bedingungen aus der Zeit des Kalten Krieges.

Ganz im Gegenteil könnte sich sogar eine weitreichende globale oder zumindest wichtige regionale Teilmärkte umfassende Finanzkrise zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise ausweiten und sich damit als ein gewaltiges Risiko für die europäischen Nationalstaaten und die EU erweisen, die sehr stark von einem funktionierenden Welthandel in ihren Wachstumschancen abhängen. Denn wenn es zu einem Zusammentreffen von einem teilweise oder ganz kollabierenden Welthandel mit der zu langsam vonstattengehenden oder gar völlig blockierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung der europäischen Volkswirtschaften kommt, so werden sich diese beiden Krisen gegenseitig aufschaukeln. Dadurch kann es zu einer gefährlichen wirtschaftlichen und dann auch sozialen und politischen Destabilisierung Europas und vor allem auch des europäischen Einigungsprozesses am Vorabend der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kommen. Eine ernsthafte globale Wirtschaftskrise im Vorfeld des Beginns einer qualitativ neuen Stufe des europäischen Einigungsprozesses, die mit der monetären Souveränitätsübertragung mittels der gemeinsamen Währung stattfinden wird, würde diese hochgradig gefährden oder auf absehbare Zeit sogar verhindern und das gesamte Projekt mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern lassen. Für Europa wäre dies schlicht ein Alptraumszenario.

Die materiellen Ursachen und Bedingungen des historischen Prozesses namens Globalisierung, der eine neue Stufe der kapitalistischen Produktionsweise hervorbringt, werden durch die Krise der globalen Finanzmärkte mitnichten in Frage gestellt, sondern vielmehr eher dynamisiert und in ihrer Durchsetzung beschleunigt. Der Kapitalismus hat sich nicht nur immer als überaus krisenanfällig erwiesen, sondern die Krise ist im Gegenteil sogar sein entscheidendes Entwicklungselement, mittels dessen Fehlentwicklungen korrigiert und teilweise sehr tiefgreifende Anpassungen unter bisweilen sehr hohen Kosten und Opfern vorgenommen werden. Die Krise gehört zum Wesen des Kapitalismus wie das Wasser zum See, und dieses Wesen artikuliert sich in der duennen Luft der Finanzmärkte in seiner reinsten Form. Die Finanzmärkte sind in hohem Masse "Erwartungsmärkte", das heisst, sie spekulieren oder wetten auf angenommene Ergebnisse und basieren deshalb meist auf Annahmen statt Tatsachen, die in der Regel durchaus gut begründet sein können. Deswegen sind sie in sich, das heisst "in- härent" instabil und bedürfen zu ihrer Sicherung der beständigen Überwachung und Korrektur durch externe Institutionen, die nicht durch die spekulativen Interessen der Marktteilnehmer bestimmt werden, damit sich ihre Annahmen nicht auf dramatische Art und Weise von der Wirklichkeit entfernen und dadurch zu einer spekulativen Fehlallokation und deshalb irgendwann zum Kollaps des gesamten Marktes führen.

Die internationalen Finanzmärkte als die subjektivste Form des Kapitalismus sind nun aber gerade diejenigen, welche die Richtung, das Tempo und die Funktion der globalisierten neuen Weltwirtschaft bestimmen, wodurch sich ihre inhärente Instabilität notwendigerweise auf das gesamte internationale System überträgt, und dies ist hochriskant. Im Klartext: Das Schicksal einer immer enger verflochtenen Weltwirtschaft und damit auch die soziale und politische Stabilität der beteiligten Nationen an kaum oder nur schwach kontrollierte, inhärent instabile internationale Finanzmärkte zu binden, ist hochriskant und kaum verantwortbar. Und so wird die Asienkrise einen

Wendepunkt in der Geschichte der Globalisierung markieren, denn die Politik wird mit ihrer regulierenden und das heisst systemstabilisierenden Kraft in die RaumZeit des globalisierten Kapitalismus folgen müssen und zwar aus dem schlichten Selbsterhaltungsinteresse der beteiligten Staaten heraus. So unsinnig es wäre, Investitionen in "emerging markets" zu verhindern, so unverantwortlich wäre es zugleich, diese Investitionen nicht zukünftig klaren internationalen Informations-, Transparenz- und damit Kontrollrichtlinien zu unterstellen.

Die Globalisierung schreit gewissermassen nach politischer Ökonomie und nicht nach einer Verabschiedung der Politik aus der Ökonomie, aber davon findet man in der akademischen Wirtschaftswissenschaft, zumindest in Deutschland, nicht allzuviel. Und so verwundert es nicht, dass sich erst juengst noch definitiv Totgesagte wieder aus den wissenschaftlichen Grüften erheben, in denen sie bis vor kurzem für alle Ewigkeit zu vermodern schienen. Was Wunder auch, denn wenn die Zeit rückwärts zu laufen beginnt, so gilt dies auch für die Ideen und ihre Denker. Der Kapitalismus hat weltweit gesiegt, und nun scheint er seine Zukunft in seiner finstersten Vergangenheit zu suchen. Wer hätte gedacht, dass Karl Marx so schnell wieder modern werden sollte, und zwar nicht der Kirchenvater, sondern eben der politische Ökonom? Karl Marx wird deshalb wieder modern, weil der westliche Kapitalismus in seine Vergangenheit zurück fällt. Dass das Kapital nicht Geld, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis zum Zwecke der Wertschöpfung ist; dass in einer sozial und ökologisch nicht regulierten kapitalistischen Marktwirtschaft in der

Tat die Ausbeutung von Menschen und Natur die Grundlage dieser Wertschöpfung und der Anhäufung von Kapital, der Kapitalakkumulation ausmacht; dass der durch den Wertschöpfungsprozess hergestellte Mehrwert einen die gesamte Gesellschaft dominierenden und strukturierenden Verteilungskonflikt zwischen Eigentümern und Beschäftigten hervorbringt, der ohne sozialstaatliche Integration zum Klassenkampf führen muss; dass das Kapital nur in seiner Verwertung bei möglichst maximalem Profit existieren kann; dass seine tendenziell abnehmende Profitrate dem ganzen System in der Tat immanent ist und zu gewaltigen ökonomischen und politischen Krisen bis hin zur Selbstzerstörung oder zu politisch hochgefährlichen imperialistischen und nationalistischen Abenteuern führen kann, all dies und noch viel mehr an Erkenntnissen aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie trägt erstaunlich viel zur Erklärung der gegenwärtigen Phase der Globalisierung bei. Freilich beschreibt diese Kritik keineswegs zureichend die gegenwärtige Krise, sondern die Marxsche Analyse betrifft im wesentlichen deren überwiegend negative marktradikale Faktoren.

Anders gesagt, je mehr der Kapitalismus wieder dem Manchesterliberalismus des 19. Jahrhunderts entspricht, desto mehr finden wir von ihm bei Marx wieder, denn genau mit diesem Ausbeutungskapitalismus hatte es Karl Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie zu tun. Und genau diese Tatsache der Remodernisierung der Marxschen Kritik durch die gegenwärtige Entwicklung des internationalen Kapitalismus muss so überaus nachdenklich machen, ja alarmieren.

Der ökonomische Kollaps der Tigerstaaten, die tiefe Krise Japans und die Erschuetterungen der internationalen Finanzmärkte können jedoch alles andere als ein Anlass zu rechthaberischer Schadenfreude sein, und man würde zugleich einem haarsträubenden Irrtum erliegen, wenn man damit die Globalisierungsdebatte als erledigt und als blosse Propagandaveranstaltung des Kapitals enttarnt ansehen würde, denn man muss zwischen der historischen Veränderungsdynamik der Produktivkräfte, die national und international die Globalisierung vorantreiben, und ihrer neoliberalen Form und Ideologisierung unterscheiden. Wenn ein neoliberales Modell oder neoliberale Ideologeme über die Globalisierung scheitern, so mag man sich auf der Linken zu Recht darüber freuen, aber erstens ist die Sache namens Globalisierung damit mitnichten abgetan, geschweige denn zweitens eine alternative Antwort von links auf diese Sache selbst gefunden.

Die ökonomistische Verkuerzung der Globalisierungsrevolution machte und macht die wesentliche Schwäche der neoliberalen Revolution aus, deren Legitimation nur so weit reicht, wie sich der ökonomische Erfolg einstellt. Bleibt dieser aus oder stürzt die Ökonomie gar in eine tiefe Krise, so macht sich dieses Legitimationsdefizit der neoliberalen Revolution sofort negativ bemerkbar. Die Globalisierungsrevolution bedient sich in einem hohen Masse der Instrumente von Ökonomie und Technologie und weniger der Instrumente klassischer Machtpolitik, dennoch aber haben wir es hier mit einer das Ganze der modernen Marktgesellschaften und ihre Lebenswirklichkeiten umstuerzenden Revolution zu tun. Der ökonomische Wandel ist demnach in der

Globalisierungsrevolution nur ein Teil eines umfassenderen, radikalen sozialen Wandels, gewiss zwar ein zentraler, ja überragender Teil, aber dennoch eben nur ein Teil. Wie jede grosse Revolution besteht auch bei der Globalisierungsrevolution ihr Wesen in der Umwälzung der gesamten Gesellschaft und nicht nur in der Transformation der Ökonomie, und dieser gesamtgesellschaftlichen Veränderung der kapitalistischen Gesellschaften wird ein ökonomistisch und egoistisch verkürzter Neoliberalismus eben nicht gerecht, denn die Gesetze der Ökonomie taugen nicht als gesamtgesellschaftliche Organisationsprinzipien.

Die Globalisierungsrevolution bietet für die westliche Linke also eigentlich eine grosse Chance zur gesellschaftlichen Erneuerung und Gestaltung der westlichen Marktgesellschaften, denn die sich radikal verändernden und umwälzenden Produktivkräfte machen eine Neugestaltung der Produktionsverhältnisse notwendig, die weit über die Imperative der Ökonomie hinausgehen werden. Genau hierin liegt die alles dominierende Herausforderung und politische Aufgabe für die demokratische Linke des Westens: die Antwort auf die Globalisierungsrevolution erfordert ein alternatives gesellschaftliches Projekt. Und ein solches gesellschaftliches Projekt geht einerseits weit über den engen Horizont der üblichen Standortdebatte hinaus, ignoriert aber andererseits nicht die fundamentalen Veränderungen der westlichen Gesellschaften durch die Globalisierung. Sein wesentlicher Inhalt muss die Antwort auf die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt hochproduktiver Wettbewerbsdemokratien unter den Bedingungen der Globalisierung geben. Revolutionen,

auch postmoderne, erfordern Revolutionäre, und insofern muss die westliche Linke jetzt zeigen, ob sie ihren grossen gesellschaftsreformerischen Anspruechen und Traditionen gerecht werden kann oder ob sie nur noch ein linker Traditionsverein zur Verteidigung der Interessen des Status quo der reichen westlichen Industriegesellschaften ist. Gerade jetzt, wo offensichtlich wird, dass die neoliberalen Ideologeme und Antworten auf die Globalisierung eben nicht mehr oder nicht zureichend funktionieren, müssen machbare und d.h. politisch mehrheits- und ökonomisch funktions- und

durchsetzungsfähige Alternativen dazu entwickelt werden. Wenn die Ideologie des Besitzegoismus versagt und dieser seine fast zwanzigjährige ideelle Hegemonie zu verlieren beginnt, muss eine Politik des Allgemeinwohls unter den Bedingungen der Globalisierungsrevolution dieses Vakuum besetzen, und wenn die Linke sich diese Chance entgehen lässt, so wird sie von der Geschichte dafür gnadenlos abgestraft werden, denn sie beginge dann, vor allem bedingt durch ihre geistige Trägheit, etwas, was in der Politik gemein schlimmer ist als ein Verbrechen, nämlich eine gewaltige historische Dummheit.

Die Globalisierung setzt politisch die Gestaltungsfrage durch den von ihr ausgelösten radikalen sozialen Wandel in den reichen Gesellschaften des Westens auf die Tagesordnung der Geschichte. Die politische Antwort einer neuen westlichen Linken auf die Probleme dieses sozialen Wandels lässt sich aber nicht mehr monokausal mit dem Antikapitalismus der alten Linken formulieren, der in der Sozialisierung (Vergesellschaftung) zugunsten der abhängig Beschäftigten die entscheidende Lösung sah. Die heutige Linke ist mit einer wesentlich komplexeren

Problemstruktur und mit dem Fehlen einer klaren Systemalternative konfrontiert. Die Formel "Durch mehr Staat zu mehr Gerechtigkeit" überzeugt angesichts der historischen Erfahrungen mit den verschiedenen staatssozialistischen Modellen kaum noch die geschrumpfte Anhängerschar, geschweige denn politisch notwendige Mehrheiten. Die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts klärt sich nicht mehr in einer eindeutigen Systemalternative - wie noch zu Zeiten der Alternative von Sozialismus und Kapitalismus, von Planwirtschaft und Marktwirtschaft. Eine solch klare ideologische, politische, ökonomische, soziale und moralische Alternative gibt es heute nicht mehr. An ihre Stelle ist eine Komplexität regionaler und globaler Interdependenzen getreten. Sie entziehen sich jeder binären Verkürzung auf gut und böse, schwarz und weiss, Kapitalismus und Kommunismus. Diese Komplexität der Probleme erfordert ebenso komplexe Lösungen, und das macht die gegenwärtige Schwierigkeit einer Neudefinition linker Politik aus, denn diese Komplexität lässt sich nicht einfach in politische Mobilisierung umsetzen.

Eine Beantwortung der neuen sozialen Frage setzt voraus, dass sie vier gleichrangige strategische Ziele verfolgt, nämlich wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und rechtsstaatliche Demokratie. Diese vier strategischen Ziele bilden ein strategisches "magisches Quadrat" der Modernisierung im Zeitalter des Globalismus, und nur innerhalb dieses strategischen Rahmens der vier Zielvorgaben werden sich erfolgreiche Antworten auf die neue soziale Frage der gesellschaftlichen Kohäsion finden lassen. Dies wird sich aber alles andere als einfach erweisen, denn die Ziele dieses strategischen Vierecks stehen häufig im Widerspruch zueinander oder schliessen sich sogar aus. Sie gehören aber dennoch untrennbar zusammen und sind als strategische Ziele des sozialen Wandels unter den Bedingungen der Globalisierung gleichrangig. Der teilweise oder gar völlige Verzicht auf nur eines dieser vier strategischen Ziele gefährdet das Erreichen aller anderen. So ist es die entscheidende Schwäche des Neoliberalismus, dass er fast ausschliesslich auf die Frage der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit setzt und mit erheblichen Abstrichen noch auf die Demokratiefrage, während die traditionelle Linke die Wettbewerbsfähigkeit weitgehend ausklammert und an deren Stelle die soziale Gerechtigkeit setzt, ebenfalls gekoppelt mit der Demokratiefrage.

Folgt man den hier formulierten Grundannahmen über die Struktur der gegenwärtig stattfindenden Umwälzungen, so hat dies für jede zukünftige linke Politik weitreichende Konsequenzen, denn die Beschränkung der westlichen Linken auf Verteilungs-, Gerechtigkeits- und Umweltfragen wird damit hinfällig. Die bisherige Arbeitsteilung zwischen der demokratischen Rechten und Linken entlang der jeweiligen Hauptkompetenzen Produktion und Verteilung von Wohlstand wird unter den Bedingungen der Globalisierung so nicht mehr funktionieren. Angesichts der fundamentalen

Veränderungen in der Struktur des Arbeitsmarktes, der Erwerbstätigkeit und damit auch in der Finanzierung der grossen sozialen Sicherungssysteme ist mit einer wachsenden Desolidarisierung der Mittelschichten von den Unterschichten zu rechnen. Hier liegt das grosse Risiko einer ausschliesslich an Traditionsorientierung und Verteidigung des Status quo orientierten linken Politik, wenn sie diese Desolidarisierung der zunehmend von Abstiegsängsten und der Furcht vor Wohlstands- und Sicherheitsverlusten geplagten Mittelschichten von den Unterschichten durch eine falsche Politik der Reformverweigerung befördert.

Man kann ja trefflich über den Realitätsgehalt der Globalisierungstheorien streiten, aber eines wird man schlicht nicht aus der Welt diskutieren können, und das ist die dramatische Veränderung der Arbeitsmärkte in den westlichen Volkswirtschaften mit ihren fatalen Folgen für die gesamte Gesellschaft. Die Krise der Erwerbsarbeit, das heisst ein beständiger quantitativer und qualitativer Bedeutungsverlust der klassischen Erwerbsarbeit zugunsten von Kreativität, Technologie, Kapital und Billigarbeit, ist der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Globalisierungskontroverse. Diese Krise der Erwerbsarbeit reflektiert eine technologisch angetriebene Transformation der Wertschöpfungsstruktur - weg von der Produktion industrieller Hardware hin zur Produktion ideengetriebener Software -, die durch keine politische Entscheidung mehr rückgängig zu machen sein wird. Das heisst in der politischen Konsequenz, dass die Beantwortung der Gerechtigkeitsfrage - der Kern aller linker Politik - auf der Grundlage dieser neuen Bedingungen versucht werden muss.

Für die Analyse dieses fundamentalen Transformationsprozesses der westlichen Arbeitsmärkte ist es von nachrangiger Bedeutung, wie sich dessen Ergebnisse regional verteilen, das heisst, ob sich dieser Transformationsprozess im wesentlichen nur innerhalb der Reichtumstriade Europa, Nordamerika und Japan vollzieht, oder ob er sich auch auf die "emerging markets" ausdehnt. Unter dem Gesichtspunkt der nationalen Folgewirkungen allerdings ist die regionale Verteilung der neuen Wertschöpfung alles andere als nebensächlich, und daraus ergibt sich der Zwang zur Veränderung für die westlichen Sozialstaaten hin zu globalisierten Wettbewerbsstaaten.

Die Lösung der Krise der Erwerbsarbeit erweist sich also als die Schicksalsfrage der Zukunftsfähigkeit des europäischen Sozialstaates. Das trifft ebenso für das soziale Kohäsionsproblem der europäischen Demokratien im 21. Jahrhundert zu. Doch es wird diese Lösung ohne eine linke Antwort auf die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft im sich globalisierenden Kapitalismus nicht geben können. Denn diese wird die Voraussetzung für die materiellen Verteilungsspielräume der Zukunft sein. An der zukünftigen Gestaltung der Arbeitswelt wird sich der Charakter der globalisierten Wettbewerbsgesellschaften festmachen, denn an ihr hängt die gesellschaftliche Teilhabe für möglichst alle Individuen durch Erwerbsarbeit, dem eigentlichen gesellschaftlichen Grundprinzip der bisherigen industriegesellschaftlichen Ordnung. Wenn das eigene Arbeitseinkommen für einen wachsenden Teil der Gesellschaft nicht mehr gesellschaftliche Teilhabe bedeutet, weil es entweder unter dem Existenzminimum liegt oder weil es durch Arbeitslosigkeit überhaupt kein Arbeitseinkommen und demnach auch keine gesellschaftliche Teilhabe mehr gibt, dann beginnt dieses tragende Organisationsprinzip der Industriegesellschaft zu zerfallen. Wenn dann noch die

Arbeitseinkommen in ihrer Gesamtheit an gesamtwirtschaftlicher Bedeutung abnehmen und die Kapitaleinkuenfte erheblich zunehmen, so wird der Auflösungsprozess dieses entscheidenden ökonomischen und sozialen Ordnungsprinzips der Industriegesellschaft noch entscheidend verstärkt.

Was folgt auf die Auflösung der Erwerbsarbeitsgesellschaft? Zerfällt die globalisierte Gesellschaft in Arbeitsbesitzer und Arbeitslose? In eine Erwerbsarbeitsgesellschaft und in eine Transfergesellschaft? In einen selbstbestimmten und in einen fremdbestimmten Sektor? Sollte dies die Zukunftsperspektive sein, so wird es mit dem Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft sehr schnell vorbei sein. Dieser Zerfallsprozess wird dann auch erhebliche Gewaltpotentiale freisetzen, die gegenwärtig noch sozial gebunden sind. Oder lässt sich die Krise der Erwerbsgesellschaft auch in eine andere, solidarische und damit die Gesellschaft zusammenhaltende Richtung lösen? Ist die Erwerbsarbeit die einzige denkbare Form der gesellschaftlichen Teilhabe oder lassen sich alternative oder auch nur ergänzende Formen der gesellschaftlichen Teilhabe denken? Etwa solche, die durch die Politik mittels einer Kombination von Erwerbsarbeit, Transfereinkommen und Bildung einer naturwüchsigen Aufspaltung der Arbeitsgesellschaft entgegenwirken können? Dies würde zwar ebenfalls eine Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft unaufschiebbar machen, gleichwohl würden dadurch auch in Zukunft Politik und Staat eine wesentlich aktivere Rolle bei der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft spielen müssen, als dies im neoliberalen Modell propagiert wird.

Hier steht also eine solidarische gegen eine individualistische Politik. Die Organisation des zukünftigen Arbeitsmarktes wird für die Beantwortung dieser Alternative ganz entscheidend sein, und an seiner Organisation wird auch das gesellschaftliche Kohäsionsproblem entschieden werden. Freilich wird sich auch diese solidarische Antwort dem Zwang der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Weltwirtschaft stellen müssen, wenn sie in der harten Wirklichkeit erfolgreich durchgesetzt werden soll.

Neben der politischen Mehrheit für eine solche Strukturreform zu einer solidarischen Antwort auf die Krise der Erwerbsarbeit bedarf es vor allem auch der dazu notwendigen Finanzmittel des Staates, um eine derartige Strukturreform durchsetzen zu können. Und diese müssen nicht nur zuvor im Wettbewerb einer globalisierten Weltwirtschaft verdient werden, sondern werden sich auch in direkter Verteilungskonkurrenz zu individuellen Wohlstandszuwächsen befinden, was die Sache alles andere als leichter macht. Denn beides zusammen - individuelle Einkommenszuwächse und solidarische Politik - wird angesichts enger werdender Wachstumserwartungen und abnehmender Verteilungsspielräume nicht zu haben sein. Die neoliberale Alternative zu einer solidarischen Politik gegen die Krise der Erwerbsarbeit wird im demokratischen Wettbewerb rücksichtsslos auf die individuellen Wohlstandszuwächse zu Lasten der notwendigen Strukturreformen und ihrer öffentlichen Finanzierung setzen. Dadurch wird die Frage der Steuerlast und der Staatsquote aber noch zusätzlich politisiert werden, und auch deshalb kann eine solidarische Politik hier sehr schnell vor einem sehr ernsten Problem stehen. Die Frage der Solidarität zwischen Mittel- und Unterschichten wird politisch zum entscheidenden Punkt einer solidarischen Alternative zum Neoliberalismus. Gelingt es, die schichtenübergreifende Solidarität unter den Bedingungen der Globalisierung aufrechtzuerhalten und damit zur Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages zu machen, so wird der europäische Sozialstaat auch im Zeitalter des Globalismus von Bestand bleiben.

Zwei weitere, langfristige Trends müssen bei der Analyse der zukünftigen europäischen Ökonomien unter den neuen Bedingungen ebenfalls berücksichtigt werden: die voranschreitende Entstaatlichung von Wirtschaft und Märkten, die sich vor allem aus dem Übergang zu Dienstleistungsökonomien ergibt. Wir haben bereits weiter oben ausgeführt, wie sich unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise von 1929, des New Deal, des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges die USA von ihrer antistaatlichen Gruendungstradition entfernt und zu einem massiven Staatsinterventionismus hin entwickelt hatten, der nach dem Ende des Kalten Krieges durch die neoliberale Revolution zurück genommen wurde. Für die USA bedeutet diese Entwicklung bis zu einem gewissen Grad die Rückkehr zu ihren Wurzeln, während Kontinentaleuropa durch diesen Prozess eher in einen ernsten Konflikt mit seiner ererbten etatistischen Tradition gerät.

Der Übergang zum globalisierten Wettbewerbsstaat wird für Europa eine gewisse "Amerikanisierung" seiner inneren Ordnung bedeuten, das heisst, die Rolle des Staates als ökonomisch-soziale Ordnungsmacht wird unter den neuen Bedingungen zurück gedrängt werden. Doch wird die gestaltende Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft in Kontinentaleuropa immer noch eine stärkere bleiben, als dies in den USA der Fall ist. EU- Europa wird immer "sozialstaatlicher" verfasst sein müssen, als es die ganz andere Tradition der Vereinigten Staaten mit sich bringt. Dennoch wird die Globalisierung auch die Europäer zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zu Lasten des Staates und zugunsten stärkerer Verantwortung der Gesellschaft, von Gruppen und Individuen zwingen.

Freilich bleibt auch hier die Frage, inwieweit der Auflösung der staatlichen Regulierungen zur Abwehr kollektiver Risiken die schlichte "Privatisierung" dieser Risiken sein wird. Ist dies letztendlich einfach als Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung zu verstehen? Oder wird es jenseits davon und in Ergänzung bisheriger staatlicher Regelungsstrukturen gemeinschaftliche Antworten der Gesellschaft geben? Die Alternative staatliche Kollektivierung versus individualistische Privatisierung bietet zur Lösung des zentralen Kohäsionsproblems der globalisierten Wettbewerbsgesellschaft keine konstruktive Antwort, denn beide werden den Zerfallsprozess der grundlegenden Ordnungsstrukturen der Industriegesellschaft nicht aufhalten können, der sich durch den beschleunigten technologischen Wandel und den tiefgreifenden Strukturwandel der Arbeitsmärkte und der sich daraus ergebenden Krise der Erwerbsarbeit ergibt.

Wenn der Staat durch seinen Rückzug aus dem sozialen Raum neue Gestaltungsspielräume öffnet, so muss das keineswegs in einem Widerspruch zu einer solidarischen Politik stehen. Nur wenn dieser Rückzug zu einer Individualisierung und damit Privatisierung sozialer Risiken führt, wird er neue Ungerechtigkeiten, soziale Konfrontationen und politische Instabilitäten schaffen, nicht aber, wenn die Zivilgesellschaft - Gruppen, Initiativen, Organisationen - diese Verantwortung übernimmt. Allerdings wird dies nicht nach dem Caritas- Modell funktionieren. Das heisst, dass auch zivilgesellschaftliche Netze nicht nur durch Ehrenämter und spendende Nächstenliebe zu finanzieren sein werden, so wichtig beide als ergänzende Funktionen auch immer sein mögen, sie bedürfen mit Sicherheit der zusätzlichen staatlichen Finanzierung oder Teilfinanzierung durch entsprechende Transfers.

Die zweite Rahmenbedingung betrifft die "langen Wellen" der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie, den sogenannten "Kondratieff-Zyklus" Seit dem Ende der achtziger Jahre befinden wir uns im fuenften Kondratieff, der vor allem durch Wissen, Information und Ökologie getrieben wird, während sich der am Horizont abzeichnende sechste Kondratieff im wesentlichen auf die Ökonomisierung der psychosozialen Welt des Menschen stützen soll.143 Sowohl der fuenfte als auch der sechste Kondratieff werden, wenn sie sich auch nur annähernd entlang der hier zitierten Prognosen entwickeln, massiv den langfristigen Trend hin zur Auflösung der klassischen Erwerbsarbeitsgesellschaft verstärken, und das heisst, dass mit einer wie auch immer gearteten Rückkehr zu den Bedingungen des alten Sozialvertrags der Industriegesellschaft niemals mehr zu rechnen sein wird.

Die hier dargestellten Trends, Antriebskräfte und Rahmenbedingungen des sozialen Wandels, die durch die Globalisierungsrevolution ausgelöst oder zumindest beschleunigt wurden, gelten ganz allgemein für die westlichen Volkswirtschaften und vor allem für die kontinentaleuropäischen Mitgliedsländer der EU, denn hier gibt es, bei allen Unterschieden, doch ein noch höheres Mass an Über einstimmung in Tradition und aktuellen Problemlagen. Es gibt unter den kontinentaleuropäischen EU Mitgliedsstaaten mittlerweile nicht nur eine hohe finanzwirtschaftliche und realwirtschaftliche Konvergenz, sondern ebenso sehr eine entsprechende Krisen- und Traditionskonvergenz. Dennoch wird man bei den Antworten auf die Globalisierung die Perspektive der allgemeinen Analyse auf die jeweils konkreten Bedingungen der einzelnen Länder und Volkswirtschaften brechen müssen, und insofern wird fortan vor allem von Deutschland zu sprechen sein.