Die neue Gründerzeit - der Arbeitsmarkt und die Arbeitszeit der Zukunft
Es ist erstaunlich, wie wenig die gegenwärtige deutsche Doppelkrise in ihrem sehr spezifischen Charakter thematisiert wird. Zwar findet hierzulande eine heftige öffentliche Globalisierungskontroverse statt, aber die zweite Krise, nämlich die Einheitskrise, kommt in all diesen Diskussionen kaum vor. Die Einheitskrise artikuliert sich mehr im lauter werdenden Knurren und Murren, in wachsender Fremdheit und Vorurteilen zwischen Deutschland Ost und West, nicht aber in einer strategischen Kontroverse um den Prozess und die Ziele der inneren Einheit, verbunden mit der Globalisierungsdebatte. Dabei ist offensichtlich, dass Deutschland, im Gegensatz zu seinen westlichen Nachbarn und Verbuendeten, eben ein doppeltes Problem hat, und dass diese beiden Probleme - Deutsche Einheit und Globalisierung - sich gegenseitig negativ verstärken. Andererseits ist es aber gerade die Einheitskrise, welche die Schwächen, ja die strukturelle Reformbedürftigkeit des westdeutschen Modells gnadenlos offenlegt, und insofern versäumt es Deutschland gegenwärtig durch die Verdrängung der öffentlichen Debatte über die Krise des Aufbaus Ost, die Schwächen und auch die notwendigen Erneuerungsperspektiven des deutschen Modells insgesamt offenzulegen. Statt dessen leistet sich das Land eine nahezu ausschliesslich auf betriebswirtschaftliche Kosten und Verbesserung der Angebotsbedingungen für Investitionen verkürzte "Standortdebatte", die aber die tieferliegenden Ursachen der aktuellen Krise kaum berührt. Sie klammert zudem aus, dass die wichtigsten Protagonisten dieser "Standortdebatte" eher Teil des Problems als der Lösung sind. Erschwert wird diese Debatte noch durch die Tatsache, dass sich die Kritik der Ostdeutschen, bedingt durch die Geschichte der deutschen Teilung, fast ausschliesslich auf die unzureichende Kopie des westdeutschen Modells konzentriert, nicht jedoch auf die mangelnde Funktionsfähigkeit dieses Modells für den Aufbau Ost unter den Bedingungen der forcierten Globalisierung.
Und so entstand eine Situation, in der die Globalisierungskontroverse in Deutschland quasi unbeeinflusst von der Einheitsrise vor allem als westdeutscher Standortdiskurs geführt wird. Fakt ist: Mit der Deutschen Einheit wurde ein nahezu vierzigjähriger Bürgerkrieg in Deutschland beendet, der, eingebettet in den Kalten Krieg zwischen Ost und West, zwischen den beiden deutschen Staaten BRD und DDR stattgefunden hatte. Dessen ökonomische und soziale Folgelasten bedeuten selbst für die starke westdeutsche Volkswirtschaft eine erhebliche Belastung. Das vereinigte Deutschland bedurfte daher einer höheren Staatsquote, ebenso grösserer Steuer- und Abgabenlasten für investive und vor allem auch sozial konsumtive Ausgaben. Demnach ist das vereinigte Deutschland in seiner gegenwärtigen Lage nicht einfach mit den anderen westlichen Volkswirtschaften vergleichbar. Diese Tatsachen jedoch werden durch die deutsche Politik weder in der nationalen noch in der internationalen Öffentlichkeit wirksam kommuniziert. Die Deutsche Einheit findet als das zentrale politische und ökonomische Faktum der gegenwärtigen Lage des Landes in den Köpfen kaum statt. Vermutlich spielt dabei eine entscheidende Rolle, dass für die übergrosse Mehrheit der Deutschen, ebenso wie für die entscheidenden Akteure in Politik und Wirtschaft, die Deutsche Einheit eben ein Beitritt der früheren DDR zum erfolgreichen westdeutschen Modell war und ist, und dabei nicht gesehen wurde, dass spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges dieses Modell selbst hoch erneuerungsbedürftig geworden ist.
Ostdeutschland bot eigentlich eine klassische Aufbausituation, wie sie sich ein dynamisches Wirtschaftssystem nur Wünschen kann. Durch den Kollaps der SED-Diktatur zerbrachen die alten Strukturen, entstand eine echte Tabula rasa-Situation, die in Verbindung mit dem in Westdeutschland reichlich vorhandenen Kapital eine gesamtdeutsche Erneuerungswelle hätte auslösen können, wenn die Köpfe dazu bereit gewesen wären. Ein zusätzlicher Markt von siebzehn Millionen Menschen, ein gewaltiger Erneuerungsbedarf in Gebäudebestand und Infrastruktur, in Wissen- schafts- und Bildungsinstitutionen, eine echte Gründungssituation für Unternehmen und Selbständige und, ganz allgemein, eine so schnell nicht wiederkehrende Chance für die Durchsetzung neuer Ideen. Von der Mentalität einer solchen neuen Gründerzeit, von einer solchen Aufbruchstimmung ist aber weder in Ostdeutschland noch im Rest der Republik kaum etwas spürbar, obwohl es doch das erfolgreiche Westmodell des sozialen Kapitalismus ist, das nach Ostdeutschland übertragen wurde. Und gerade in diesem "obwohl" liegt das tatsächliche Problem, denn in Ostdeutschland wurde offenbar, dass das westdeutsche Modell unter den neuen Bedingungen der Globalisierung eben eine Aufbruchchance nicht mehr zu realisieren vermag.
In der Krise Ostdeutschlands spiegelt sich nichts geringeres als die allgemeine Krise der gesamtdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft, und es wäre ein grosser Irrtum, die offensichtlich sehr grossen Probleme des Aufbaus Ost zuerst und vor allem bei den Ostdeutschen abzuladen. Es gibt in Ostdeutschland keine Gründungswelle für neue Unternehmen und keine neue Unternehmenskultur, kein Durchbruch bei der Entstehung neuer Märkte, keine neue Finanzierungsstruktur für den Unternehmenssektor, keine wirklich interessanten Neugründungen von Wissenschafts und Bildungsinstitutionen, nur wenig an Alternativen zu westdeutschen Rechts- und Verfahrenssklerotisierungen, kaum ein Aufbruch in die Infrastruktur des 21. Jahrhunderts (mit Ausnahme der Telekommunikation). Nichts oder fast nichts von alledem ist dort festzustellen. Statt dessen gibt es in Ostdeutschland eine anhaltende Arbeitslosigkeit, die die Quote von 20 Prozent überstiegen hat.
Zwischen der Erneuerungsunfähigkeit der deutschen Wirtschaft und Politik in Ostdeutschland und der anhaltend sehr hohen Massenarbeitslosigkeit besteht ein direkter und ursächlicher Zusammenhang, der sich aber weniger in zu hohen Löhnen, zu geringer Produktivität oder zu hoher Normen- und Regelungsdichte ausdrückt. So wichtig diese Faktoren auch immer sind, sie kommen in der Einheitskrise erst an zweiter oder dritter Stelle, denn sie sind selbst ein Ergebnis jener allgemeinen gesamtdeutschen Erneuerungsschwäche, die sich lediglich in Ostdeutschland unter den Bedingungen einer radikalen Umbruchsituation besonders dramatisch manifestiert. Damit kein Missverständnis aufkommt: Es geht hier nicht um eine historische Entlastung der kommunistischen Diktatur von ihrer Schuld, ihrem Versagen und der schlimmen Erbschaft, die diese Diktatur dem vereinigten Deutschland hinterlassen hat, sondern allein darum, warum sich ein Wirtschaftsmodell, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland für das sogenannte "Wirtschaftswunder" gestanden hat und dem man auch 1990 noch sehr viel zutraute, mit der positiven Bewältigung der wesentlich kleineren Herausforderung der Deutschen Einheit so überaus schwertut. Zwei Erkenntnisse drängen sich aus der Analyse der Misere des Aufbaus Ost unmittelbar auf: erstens kann die Massenarbeitslosigkeit innerhalb der etablierten Strukturen des deutschen Modells nicht mehr wirksam bekämpft werden, sie wird und muss ohne wesentliche Aenderungen im Gegenteil weiter ansteigen. Zweitens bedarf es demnach einer neuen Gründerzeit, um die notwendigen Strukturreformen durchzusetzen und damit wieder einen positiven Zugewinn an Arbeitsplätzen zu schaffen. Dazu ist das tradierte westdeutsche Wirtschaftsmodell ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage und deshalb selbst hoch reformbedürftig.
Das Hauptproblem Deutschlands, und exakt dies wird an der anhaltenden Stagnation in Ostdeutschland sehr klar sichtbar, ist die Unbeweglichkeit in den Köpfen und in den Strukturen. Und dieser Vorwurf trifft zuerst und vor allem die Eliten und die Institutionen und weniger die Masse der Erwerbstätigen. Es gehört ja gegenwärtig fast zum guten Ton, über zu hohe Löhne, zu hohe Sozialleistungen, zu kurze Arbeitszeiten, zu viel Urlaub und zu hohe Steuern und Abgaben und über die mangelnde Veränderungsbereitschaft der Bevölkerung in Deutschland zu klagen. Wenn man jedoch die Fakten einer differenzierten Betrachtung unterzieht, so wird man feststellen, dass sich die Verhältnisse im Land für die grosse Mehrzahl der Erwerbstätigen und vor allem für die von Sozialtransfers abhängigen Menschen gewaltig und keineswegs zu ihren Gunsten verändert haben.147 Wo aber ist die neue Dynamik der Eliten und der vielbeschworenen Leistungsträger geblieben? Wo die neuen Initiativen, Ideen, Produkte, Dienstleistungen und Märkte? Wo die notwendigen institutionellen Reformen in Staat, Wirtschaft und Sozialsystemen? Gewiss gibt es einzelne positive Beispiele, aber von einem wirklichen Aufbruch in eine neue Gründerzeit kann man in Deutschland mitnichten reden. Nach wie vor regiert in Deutschlands Wirtschaft eher ein industrieller Kardinalshut als ein Schumpeterscher Unternehmer, was für die alten Wirtschaftssektoren keineswegs immer falsch sein muss, wie die Ertragsergebnisse ja durchaus zeigen. Kardinalskollegien sorgen für Kontinuität, Verlässlichkeit, Machterhalt und Interessenwahrung, aber sie taugen nicht zu einer radikalen Reformation, zum Aufbruch in die Erneuerung, und darin genau besteht das deutsche Problem. Die Symmetrie zwischen Kontinuität und Erneuerung stimmt nicht mehr, weil sich das historische Umfeld radikal verändert hat, und erneut sind es der Arbeitsmarkt mit seinem Mangel an Arbeitsplätzen und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, welche dieses Defizit schonungslos an den Tag bringen.
Weder die reifen Grossindustrien und grossen Dienstleister noch der Staat werden in ausreichendem Masse neue Arbeitsplätze schaffen, sondern in all diesen Sektoren wird durch Produktivitätssteigerung, Rationalisierung, Unternehmenskonzentration und Standortverlagerung der Arbeitsplatzabbau weitergehen, im Bereich des öffentlichen Dienstes sind es die Notwendigkeit der Haushaltssanierung und die gewaltigen Kosten der grossen Personalhaushalte. In den grossen und mittleren Unternehmen der klassischen Industriezweige - Automobilbau, Elektroindustrie, Werkzeug- und Maschinenbau, Chemie - liegt aber nach wie vor die Stärke der deutschen Wirtschaft und ihrer dominanten Rolle im Export begründet. Nun wäre es völlig falsch, diese Stärke in den traditionellen Bereichen von Industrie und Dienstleistung geringzuschätzen. Die eigentliche Schwäche der deutschen Volkswirtschaft ist die zu geringe Dynamik bei den innovativen Neugründungen, und dies ist nicht nur das Ergebnis ökonomischer Strukturdefizite, sondern vor allem auch eines kulturellen Problems. Die innovative Dynamik der Wirtschaft wird jedoch für die zukünftige Wertschöpfung und damit für die Investitionen und Gewinne, Einkommen und Steuern in einer Volkswirtschaft von alles entscheidender Bedeutung sein, und daraus folgt weiter, dass sich an der ökonomischen Innovationsdynamik ganz wesentlich entscheiden wird, ob eine Trendwende hin zum Abbau der Arbeitslosigkeit erreicht werden kann oder nicht. Und diese positive Trendwende auf dem Arbeitsmarkt ist wiederum der archimedische Punkt für die Zukunft des Sozialstaats im Zeitalter der Globalisierung, denn bei langfristig anhaltender hoher Arbeitslosigkeit wird er in seiner Existenz bedroht.
Die technologische und unternehmerische Innovationsdynamik und die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, diese dauerhaft strukturell umzusetzen,
ist also einer der strategischen Punkte zum zukünftigen Ausgleich des magischen Vierecks von Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie. Diese Erkenntnis hat allerdings gravierende Folgen für die Linke. Denn allein bei kleinen und mittleren Unternehmen - und hier vor allem im Dienstleistungssektor - ist eine nennenswerte Welle von Neugründungen und damit das Schaffen neuer Arbeitsplätze möglich. Sie vor allem werden sich als beweglich genug erweisen, neue Bedürfnisse zu erschliessen und damit auch neue Nachfrage zu schaffen, die zu neuer Wertschöpfung, neuen Märkten und damit neuen Arbeitsplätzen führt. Aber mehr noch, gerade im Hochtechnologiebereich und bei ideengetriebenen Dienstleistungen steht und fällt die Entwicklung neuer Standorte und vor allem auch neuer Märkte mit solchen innovativen Neugründungen. Diese hochinnovativen kleinen und mittleren Unternehmen bereiten in den USA meistens auch die Innovationsschübe innerhalb der grossen, am Markt etablierten Unternehmen vor, indem sie neue Ideen, Dienste und Technologien testen und am Markt durchsetzen. Deutschlands Dilemma kann man sehr plastisch in der Kommunikationstechnologie
nachvollziehen, wo es erst der Initiative von bereits auf dem heimischen Markt gross gewordener amerikanischer Unternehmen oder später eingestiegener heimischer Telekom- und Medienkonzerne bedurfte, um das Internet als neuen Markt durchzusetzen und zu entwickeln. Die eine oder andere positive unternehmerische Ausnahme ändert dabei an diesem Trend in seiner Breite nichts.
Die Erneuerungsschwäche Deutschlands ist aber nicht das Ergebnis der Blockadepolitik mächtiger
Interessengruppen, sondern vielmehr ein allgemeines kulturell-gesellschaftliches Problem quer zum politischen und sozialen Spektrum, und das zeigt wiederum, dass wir vor einem echten Systemproblem stehen, das lediglich mit Korrekturen innerhalb des Systems nicht wirklich gelöst werden kann. Nicht gelöste Systemprobleme signalisieren aber in der Regel zuerst und vor allem ein Fuehrungsversagen von Eliten und nicht das angeblich unüberwindbare Beharrungsvermögen der Bevölkerungsmehrheit oder der Erwerbstätigen.
Die aktuelle deutsche "Standortdebatte" gibt auf dieses Systemproblem eine truegerisch verkuerzte Antwort: zuviel soziale Sicherheit, zu lange Studienzeiten, zu viel staatliche Regulierung, zu viel Technikpessimismus, zu hohe Steuern und Abgaben, etc. Selbst wenn diese verkürzte und in grossen Teilen falsche Problembeschreibung zuträfe, wäre damit das Systemproblem der Erneuerungsschwäche in Deutschland mitnichten gelöst, sondern lediglich die Angebotsbedingungen innerhalb des bestehenden Systems in eine keineswegs nur positive Richtung verschoben, mit Folgewirkungen, die sich alles andere als nur segensreich im Sinne der Erfinder herausstellen duerften. Eine notwendige neue Gründerzeit wird dadurch nicht ausgelöst werden, und genausowenig wird man dies mit staatlicher Förderpolitik schaffen. Staatliche Förderpolitik ist für Existenzgründungen und junge Unternehmen gewiss wichtig, aber sie kann immer nur begleiten und eigenständige neue Initiativen fördern und unterstützen, letztendlich müssen sich aber die Unternehmen selbst am Markt durchsetzen. Wichtiger als alle staatliche Förderpolitik wäre demnach eine gründerfreundliche
Reform des Finanz- und Bankensystems und anderer den Marktzugang hemmender Bedingungen. Auch die staatliche Förderpolitik wird also dieses Systemproblem der Erneuerungsschwäche nicht lösen.
Die sich daraus aufdrängende Schlussfolgerung gefährdet allerdings die Grenzen der political correctness der deutschen Linken. Eine neue Gründerzeit, gestuetzt auf kleine und mittlere Unternehmen, als Instrumente einer linken Beschäftigungspolitik? Geht das überhaupt, oder ist dies nicht vielmehr ein Widerspruch in sich? Läuft diese Konsequenz nicht auf die Kapitulation der Linken vor der Ideologie des Neoliberalismus hinaus? Stimmten diese Einwände, so hiesse dies, dass jenseits von grossen Unternehmen und öffentlichem Dienst eine linke Beschäftigungspolitik nicht möglich wäre. Diese beiden traditionellen Säulen fallen aber längerfristig aus den oben angeführten Gründen für einen strukturellen (nicht konjunkturellen) Beschäftigungszuwachs aus, und folglich sässe die Linke hilflos in einer objektiven Falle. Ihr bliebe allein die Neuverteilung des bereits vorhandenen und sogar nochabnehmenden Arbeitsvolumens, und dies wäre gegenüber dem Neoliberalismus eine klare Niederlagenstrategie, denn der globalisierte
Dienstleistungskapitalismus verschiebt völlig die Gewichte zu Lasten der Beschäftigung in grossen Einheiten und zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen und droht die vorhandenen Solidaritätsstrukturen, die sich auf der Grundlage der Grossorganisationen entwickelt haben, individualistisch zu zertrümmern. "Schreibt man die Trends des Auseinanderdriftens in der Arbeitswelt fort, so könnte sich schon im nächsten Jahrzehnt folgendes Szenario ergeben:
Zehn Prozent der Erwerbstätigen stellen die Kernbelegschaften in den grossen Netzwerkunternehmen; weitere zehn Prozent statt heute 16 arbeiten im öffentlichen Sektor und 80 Prozent (heute 65 Prozent) in kleinen und mittleren Unternehmen, die Hälfte davon als Selbständige allein oder mit "selbstangestellten" freien Mitarbeitern."
Die klassische Antwort auf die Beschäftigungskrise der siebziger Jahre, nämlich die Ausdehnung des staatlichen Sektors, liegt heute jenseits aller politischen und fiskalischen Realitäten. Solange die Produktivität des öffentlichen Dienstes dermassen dramatisch hinter derjenigen des privaten Sektors herhinkt, wie dies gegenwärtig der Fall ist, wird es der staatliche Sektor ganz im Gegenteil auch in Zukunft mit Rationalisierung und Stellenabbau zu tun haben und nicht mit einer Ausweitung der Beschäftigung. Wer den staatlichen Sektor als Beschäftigungsmotor wiederbeleben will, der muss als Mindestvoraussetzung dessen Produktivität durch eine umfassende, wettbewerbsbezogene Reform des öffentlichen Dienstes erheblich steigern und in die Nähe derjenigen des privaten Sektors bringen. Wettbewerb im öffentlichen Dienst heisst vor allem Bürgernähe und Wettbewerb mit privaten Anbietern, und beides wird die Entbeamtung des öffentlichen Dienstes unverzichtbar machen. Ansonsten drohen seine Kosten, gepaart mit mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, jeden politischen Gestaltungsspielraum aufzufressen - mit der Mehrheitsfähigkeit einer solchen Politik wäre es nicht weit hin. Zinslasten, Personalkosten und Versorgungsaufwendungen für Pensionäre sind, gemeinsam mit den vor allem einheitsbedingt hohen
Sozialtransfers, bereits heute die wichtigsten Etatposten aller öffentlichen Haushalte und werden, angesichts von in Zukunft dramatisch ansteigenden
Versorgungsaufwendungen für eine erheblich zunehmende Zahl von Ruheständlern, für die keine oder kaum Rücklagen gebildet wurden, noch weiter an Volumen zunehmen. So drohen die öffentlichen Haushalte aber allein durch diese vier Positionen in ihrer investiven, zukunftsgestaltenden Aufgabe blockiert zu werden, und dieses Faktum wirkt angesichts des grossen strukturellen Erneuerungsbedarfs durch die Globalisierungsrevolution doppelt und dreifach schwer. Es ist vor allem dieser drohende Verlust des politischen Gestaltungsspielraums - und nicht die abstrakte Kennziffer der Staatsquote -, aus dem die Notwendigkeit einer Sanierung der öffentlichen Haushalte erwächst, die wiederum einen Abbau der Personalkosten und der daran hängenden zukünftigen Versorgungslasten erzwingt. Auf allen staatlichen Ebenen, vom Bund bis hinunter zu den Gemeinden und unabhängig von den jeweiligen parteipolitischen Mehrheiten werden aus Gründen der Haushaltssanierung und zur Wiedererlangung politischer und investiver Gestaltungsspielräume in den öffentlichen Haushalten Personalbestände reduziert, staatliche Verantwortung und Leistungen zurück genommen und Aufgaben aus dem staatlichen Bereich ausgelagert und privatisiert. In Verbindung mit der geringeren Produktivität des öffentlichen Dienstes fällt der staatliche Sektor deshalb als Faktor für zusätzliche Beschäftigung aus, ja er baut sogar weiter Beschäftigung ab und trägt so seinen nicht unerheblichen Teil zum Anstieg der Arbeitslosigkeit bei.
Die Beschäftigungspolitik der politischen Linken steht also vor einem echten Dilemma, denn sowohl die klassischen Sektoren von Industrie und grossen Dienstleistern wie Banken und Versicherungen als auch der öffentliche Dienst bauen weiter Stellen ab, um wettbewerbsfähig zu bleiben bzw. die öffentlichen Haushalte strukturell zu sanieren. Beides waren bisher die tragenden Säulen linker Beschäftigungspolitik im ersten Arbeitsmarkt, meistens von einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und zudem der gesetzlichen Mitbestimmung unterstellt. Und noch heute besteht sozialdemokratische Wirtschaftspolitik
überwiegend aus der staatlichen Flankierung und Verzögerung des Strukturwandels dieser grossen Unternehmen, ja ganzer traditioneller Industriesektoren, weil diese nach wie vor als die Garanten von Massenbeschäftigung und Masseneinkommen begriffen werden.
Was es gegenwärtig an Beschäftigungsstabilisierung in Deutschland gibt - von Zuwächsen kann man gegenwärtig beim besten Willen nicht reden -, geht aber, wie belegt, sehr stark von kleinen, ja kleinsten und mittleren Unternehmen aus. Deren Bedürfnisse, ihre grosse Unterschiedlichkeit, ihre Beweglichkeit und auch ihre bisweilen sehr unterschiedliche ökonomische und soziale Leistungsfähigkeit erfordern aber ein völlig anderes Umfeld, als dies bei Grossunternehmen oder gar im öffentlichen Dienst der Fall ist. Allein die Grösse der traditionellen Kernunternehmen und deren quantitativ und qualitativ ähnliche Grössenordnung von Wertschöpfung und Marktposition mussten, jenseits von nationalstaatlichen Zwängen, tendenziell zu einer nationalen Homogenisierung von Löhnen, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen und zu einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad führen und bildeten so die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen für die Realisierung der linken Ideale von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität und dem Gleichheitsideal der Demokratie. Die alte Linke war aus diesem Grund immer eine begeisterte Anhängerin der Grossindustrie auch als gesellschaftlicher Organisationsform gewesen, und dies gilt eigentlich bis in die Gegenwart hinein.
Die kleinen und mittleren Unternehmen hingegen gedeihen am besten in einem diametral entgegengesetzten Umfeld, nämlich dezentral angepasst an die unterschiedlichsten regionalen und marktspezifischen Gegebenheiten und Bedingungen, möglichst frei von allgemeinen Regelungen und nivellierenden Tarifverträgen. Als Newcomer sind sie stark wettbewerbsorientiert und begehren gegen gesetzliche und tarifvertragliche Kartellierungen auf - wobei dies nicht für das traditionelle Handwerk gilt. Dieses hat sich in handwerksspezifischen Kartellierungen eingerichtet, die allerdings einen hohen Anteil an steuer- und abgabenfreier Schattenwirtschaft produzieren. Gewerkschaftlich sind die Beschäftigten dort meist schlecht organisiert und stehen ausserhalb des Geltungsbereichs der gesetzlichen Mitbestimmung. Ihre höchst unterschiedliche Wertschöpfung liegt in der Regel unterhalb jener der grossen Unternehmen, wenn man von den wenigen innovativen Aufsteigern der ideengetriebenen Dienstleister und Hochtechnologieunternehmen einmal absieht.
Ein weiteres Spezifikum der kleinen und mittleren Unternehmen ist es, dass die Rolle des Eigentuemers als Unternehmer eine wesentliche, ja oft sogar die zentrale Rolle für den wirtschaftlichen Erfolg dieser Unternehmen spielt. Fragen der Kapitalbildung, des Einkommens, der Besteuerung, der Löhne und Arbeitsbedingungen und des gesellschaftlichen Prestiges behalten eine mehr personalisierte Form als im Grossunternehmen. Gilt bei den grossen Unternehmen und im öffentlichen Dienst das Prinzip der Vereinheitlichung und Versachlichung aller Aspekte der Arbeitswelt, so setzt sich bei den kleinen und mittleren Unternehmen das Prinzip der Differenzierung bis hin zur Zerklueftung durch. Und je ideengetriebener und jünger ein solches Unternehmen ist, desto wichtiger ist die unternehmerische Personalisierung für den wirtschaftlichen Erfolg. So war dies übrigens in allen Gründerzeiten.
Diese Entwicklung wird dann aber auch ein weiteres Tabuthema der politischen Linken aufwerfen, nämlich eine Neubewertung von Rolle und Funktion des Unternehmers. Vor allem geht es bei dieser Neubewertung um die Rolle des Eigentuemer-Unternehmers, des Unternehmers als Existenzgründer und Innovationsfaktor. Denn wenn die Hauptlast sowohl der ideengetriebenen Innovationen als auch der Mehrzahl der neuen Existenzgründungen im Dienstleistungskapitalismus von den kleinen und mittleren Unternehmen getragen wird, so wird man deren Personalisierung im konkreten Eigentuemer-Unternehmer und seiner sehr persönlichen ökonomischen Motivationsstruktur weder durch die Wirtschafts- noch durch die Steuerpolitik übergehen dürfen. Dessen überwiegend besitzegoistische Motive z.B. sind nicht nur völlig legitim, sondern darüber hinaus ökonomisch schlicht unverzichtbar und deshalb auch von einer allgemeinwohlorientierten Wirkung, sofern die politischen und sozialen Rahmenbedingungen stimmen. Dies ist aber eine Aufgabe von Politik.
Ohne das Antriebsmotiv nach Eigenkapitalbildung und dadurch grösserem persönlichen Wohlstand würden die meisten Existenzgründungen unterbleiben. Wenn man also eine neue Gründerzeit nicht nur aus internationalen Wettbewerbsgründen, sondern ebenso auch aus beschäftigungspolitischen Gründen für unverzichtbar hält, dann sollte man seitens der politischen Linken die bereits sehr blässlich gewordenen tradierten Klassenkampfbilder vom Unternehmer als Ausbeuter vergessen und sich auf die Verbesserungen der ökonomischen und politischen Bedingungen für eine neue Gründerzeit im Dienstleistungskapitalismus konzentrieren. Für den Staat wird dies vor allem Konsequenzen in seiner Geldpolitik, seiner Steuerpolitik, bei der Neugestaltung des Finanzmarktes, des Insolvenzrechts, der Forschungsförde rung und im allgemeinen gesetzlichen Regulierungsbereich haben müssen.
Freilich heisst der Verzicht auf das linke Bild des Unternehmers als Ausbeuter nicht, den objektiv vorhandenen Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit fortan zu ignorieren und somit in eine marktromantische Verklärung der Unternehmerrolle zu verfallen. Massstab muss auch hier die Allgemeinwohlorientierung bleiben. Die steuerliche Förderung und Bevorzugung der Eigenkapitalbildung ist das eine, die angemessene und gerechte, d.h. eine im
Verhältnis der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsstärke entsprechend ausgeglichene steuerliche Belastung unternehmerischer Einkommen das andere. Das heisst: Eine entsprechende steuerliche Förderung von Eigenkapitalbildung durch niedere Steuersätze auf reinvestierte Gewinne schliesst eine entsprechend höhere steuerliche Belastung bei Gewinnentnahme oder im Erbfall nicht nur nicht aus, dieser Grundsatz ist vielmehr für eine allgemeinwohlorientierte Politik unverzichtbar.
Dasselbe gilt für die Regulierungsdichte von Gesetzen und Vorschriften. Hier steht in Deutschland noch eine Systementscheidung an: Verwaltungsrecht oder Haftungsrecht. Der deutschen Tradition entspricht das Verwaltungsrecht, d.h. relativ komplizierte, längere Genehmigungsverfahren, die im Genehmigungsfall dann allerdings ein hohes Mass an Bestandsschutz, geringes Haftungsrisiko und hohe Entschädigungsgarantien und grosse Investitionssicherheit bedeuten. Der Nachteil liegt vor allem in der Länge und der geringen Flexibilität der verwaltungsrechtlichen Verfahren. Die amerikanische Tradition des Haftungsrechts hingegen lässt schnellere und flexiblere Verfahren zu, verlagert allerdings das Risiko gnadenlos auf die Haftung eines Unternehmens. Dessen Risiken sind im Schadensfall daher meist sehr erheblich, was im Einzelfall selbst bei grösseren Unternehmen bis an die Existenzgrenze gehen kann. Was aber nicht aufgehen wird, ist eine einfache Kombination der Vorteile beider Rechtstraditionen - schnelle Verfahren und geringe verwaltungsrechtliche Regelungsdichte bei geringem Haftungsrisiko - bei Wegfall oder auch nur Einschränkung der belastenden Teile. Denn damit gerieten die zu schützenden Allgemeinwohlinteressen völlig unter die
Räder. Einem gefährlichen Wildwuchs wäre Tuer und Tor geöffnet, der hohe Risiken und hohe Folgekosten mit sich brächte und auf mittlere Sicht auch ökonomisch äusserst unvernünftig wäre. Angesichts des allgemeinenTrends zu Deregulierung und Entbürokratisierung, auch bedingt durch den internationalen Wettbewerbsdruck der Unternehmen, wird auch hierzulande das Steuerungsinstrument Haftungsrecht zukünftig ein stärkeres Gewicht bekommen müssen. Im Klartext heisst dies, dass es zu einer stärkeren Risikoverlagerung und Risikohaftung zu Lasten der Unternehmen kommen wird. Und das wird für Unternehmen im Schadensfalle alles andere als billig werden, siehe das ansonsten so geliebte Vorbild USA.
Doch zurück zu den Realitäten des neuen Arbeitsmarktes. Diese sind für die Linke alles andere als einfach zu akzeptieren, denn die kleinen Unternehmen bilden, zumindest theoretisch, eher die sozialökonomische Basis der neoliberalen Ideologie und sind prima facie den traditionellen linken Werten von sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität in der Arbeitswelt völlig zuwiderlaufend. Deregulierung, Flexibilisierung,
Differenzierung, Wettbewerb, Steuersenkung, Privatisierung, Lohnsenkung - dies sind alles Begriffe aus dem ideologischen Kernbestand der neoliberalen Revolution und ein wahrer Horrorkatalog für die traditionelle Linke. Freilich stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser vorgefundenen ideologischen und materiellen Korrespondenz von Neoliberalismus und kleinem Unternehmertum um eine nicht aufzubrechende Symbiose handelt, oder ob dies nicht vielmehr ein Ergebnis des anhaltenden Desinteresses der politischen Linken und auch der Gewerkschaften an diesem Sektor war und zu weiten Teilen immer noch ist. Und wenn dies zutrifft, ob sich dann, bei einem entsprechenden Umdenken und Engagement der politischen Linken, nicht auch in diesem Sektor der Wirtschaft, eine weniger besitzegoistische und statt dessen mehr allgemeinwohlorientierte, soziale Alternative sich entwickeln und durchsetzen lässt. Das wird für die Zukunft des Arbeitsmarktes in den westlichen Industrieländern von überragender Bedeutung sein.
Freilich wird dies Funktion und Rolle des Unternehmers nicht aussparen können. Das heisst, dass die Linke das Leitbild des sozialverantwortlichen Unternehmers und vor allem Gründers - Innovationskraft, Gewinnstreben und soziale Verantwortung - eben nicht nur den Sonntagsreden von Unternehmerverbänden und Ordoliberalen überlassen darf, sondern im harten Alltag der kapitalistischen Marktwirtschaft einklagen und dieses Leitbild in konkrete Politik umsetzen muss. Soziales Unternehmertum, Wettbewerb, Kartellverbot, Verbrauchermacht - dies sind alles klassische marktwirtschaftlich ordoliberale Begriffe, die angesichts der neoliberalen Revolution und der Globalisierung mit ihren gewaltigen wirtschaftlichen Konzentrationsschueben, dem Vormarsch des kurzfristigen Ertragsdenkens (shareholder value) und der Entmuendigung der Verbraucher der Ausfuellung durch eine solidarische Politik harren.
Bevor es dazu aber kommen kann, wird die Linke die Grundbedingungen dieses Unternehmenssektors der kleinen und mittleren Unternehmen akzeptieren müssen, wenn er sich entwickeln, ja sich aus beschäftigungspolitischen Gründen sogar zu einer neuen
Gründerzeit hin dynamisieren soll. Diese Grundbedingungen sind: Differenzierung,
Flexibilisierung, Personalisierung und Wettbewerb. Eine Wirtschafts- und damit auch Beschäftigungspolitik, die an den Lohn-, Sozial- und Regulierungsstandards der grossen Unternehmen und des öffentlichen Dienstes im Sektor der kleinen und mittleren Unternehmen festhält, wird eine neue Gründerzeit ideengetriebener junger Unternehmen unmöglich machen, denn je regulierter und national homogenisierter, ja kartellierter die Marktbedingungen sind, desto schwieriger wird das allgemeine ökonomische Umfeld für kleine und mittlere Unternehmen und vor allem für den Erfolg von Neugründungen.
Hier kommt die Analyse jetzt an einen überaus heiklen, ja prekären Punkt, denn er stellt in der Konsequenz die bisher einheitlichen Bedingungen für Löhne, Sozialleistungen und allgemeine
Beschäftigungsbedingungen in Frage oder verlangt zumindest deren Lockerung. Die Einheitlichkeit des Arbeitsmarktes ist ein Grundwert, muehselig und opferreich in der Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung erkämpft und durch kollektive Tarifverträge und Gesetze institutionalisiert, weil durch sie die Angebotsmacht von abhängiger Arbeit gegenüber der überlegenen Kapitalseite organisiert wurde. Diese Einheitlichkeit der Bedingungen des Arbeitsmarktes war auch die Quelle der Solidarität der Beschäftigten gegen ihre Vereinzelung gegenüber der Kapitalseite. Solidarität in der Arbeitswelt war niemals nur eine ethischmoralische oder politische Kategorie, sondern sie war vor allem interessengebunden, war Ausdruck gleicher Interessen und gleicher Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Aus ihr entstand die politische Angebotsmacht der organisierten Arbeitnehmerschaft, und diese wiederum war entscheidend für das Gewicht und die Rolle der organisierten Arbeitnehmerschaft im zentralen gesellschaftlichen Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit. Nicht umsonst begann noch jede erfolgreiche neoliberale Revolution der siebziger und achtziger Jahre genau an diesem Punkt, nämlich die Solidarität in der Arbeitswelt durch die strategische Schwächung der Gewerkschaften zu zerbrechen und die Angebotsmacht des Faktors Arbeit entscheidend zu schwächen. Denn ohne eine solche strategische Niederlage freier Gewerkschaften hat die neoliberale Revolution keine wirkliche Chance.
Die Frage der Einheitlichkeit von Löhnen, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen, die ja bei aller branchenspezifischen Vereinheitlichung in einem gewissen Rahmen schon immer regionale und auch betriebliche Unterschiede aufgewiesen haben, ist also von herausragender strategischer Bedeutung für jede linke Politik und darf deshalb nicht mit leichter Hand zur Disposition gestellt werden. Freilich darf sie aber genausowenig zu einem Dogma erhoben werden, das den Blick auf die Realität des Arbeitsmarktes zu verstellen droht. Wäre es allein die subjektive Absicht des Neoliberalismus, aus durchsichtigen politischen Interessen heraus die Einheitlichkeit in Frage zu stellen, so hätte sich diese Frage von selbst erledigt. Es wäre allein eine Frage der Macht, und damit verböte sich jegliche Veränderung und jegliches Umdenken von einem linken Standpunkt aus.
Ganz anders stellt sich die Frage aber dann, wenn der Neoliberalismus nur ideologisch und machtpolitisch zuzuspitzen und auszubeuten versucht, was selbst bereits die objektive Tendenz der Entwicklung des Arbeitsmarktes ist - und zwar in allen westlichen Industrieländern. Bei der hier diskutierten Entwicklung haben wir es nun ganz zweifellos mit einer Tendenz zu tun, die die Einheitlichkeit der Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen um ihrer wesentlich stärkeren Differenzierung willen aufbricht. Anders gesagt: Bei einer sich immer stärker differenzierenden Unternehmens- und Branchenlandschaft werden davon der Arbeitsmarkt und seine konkreten Bedingungen nicht unberührt bleiben, sondern durch diese Veränderungen stark unter Anpassungsdruck gesetzt werden. Nur wenn die Linke mit ihren traditionellen beschäftigungspolitischen Instrumenten - strukturelle Ausdehnung der Beschäftigung in den grossen Kernunternehmen und im staatlichen Sektor - im ersten Arbeitsmarkt erfolgreich dagegenhalten könnte oder über neue Ansätze verfuegen würde, die diesen Trend wirtschaftspolitisch umzukehren in der Lage wäre, könnte sie sich politisch von dieser objektiven Entwicklung des Arbeitsmarktes lösen und auf ihre ökonomische Alternative setzen. Von all dem kann aber allen Ernstes nicht einmal im Traum die Rede sein.
Dennoch hat sich die Frage nach der Interessensolidarität der Erwerbstätigen damit nicht erledigt, es sei denn, man Wünscht sich eine strategische Schwächung der Angebotsbedingungen des Faktors Arbeit. Will man dies genau nicht, so muss man die Frage nach dieser Interessensolidarität der Erwerbstätigen auch unter den Bedingungen des Dienstleistungskapitalismus und seiner zerklüfteten Märkte und Unternehmenslandschaften zu beantworten versuchen. Wenn es also richtig ist, dass Ungleiches nicht mehr gleich behandelt werden kann, so ergeben sich daraus für eine Politik in solidarischer Absicht folgende Konsequenzen: Einen differenzierteren Arbeitsmarkt als bisher heisst nicht einen weitgehend regulierungsfreien oder auch nur regulierungsarmen Arbeitsmarkt zu schaffen, denn dieser müßte mit Notwendigkeit den sozialen Konflikt über kurz oder lang wieder heraufbeschwören, sondern heisst differenziertere und beweglichere Regulierungen, die dem Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der neuen Unternehmen und Märkte und den sozialen Interessen ihrer Beschäftigten gerecht werden. Es muss unter den neuen Bedingungen mehr denn je ein gesetzlicher und tarifrechtlicher Mindestrahmen definiert und garantiert werden, auf dem aufbauend erst die Differenzierung beginnen kann. Dadurch müssen die Unterschiede in ihrer jeweiligen Abgrenzung definiert werden, damit die Differenzierung nicht in Beliebigkeit, Willkuer oder gar neue Ausbeutung umschlägt oder zu einer schlichten Verschiebung von Teilen der Arbeitskosten in die Zukunft hinein zu Lasten der Beschäftigten und der Gesellschaft führt, etwa in die Altersarmut, die bei den nicht sozial abgesichert Beschäftigten meist erst Jahre oder gar Jahrzehnte später eintritt und dann auf eine Teilsozialisierung oder Subventionierung dieser Arbeitskosten durch spätere Zahlungen aus der Sozialhilfe hinausläuft.
Die Leidensgeschichte der versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse (610-DM-Jobs) in Deutschland und ihre fatale Wirkung auf die Beitragsentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung zeigen diese Notwendigkeit sehr klar. Es kann nicht akzeptiert werden, dass aus einer Ausnahmeregelung durch grosse Unternehmen ein Ersatz für Dauerarbeitsverhältnisse zu Lasten der Sozialversicherung gemacht wird. Die Konsequenz wird demnach die Abschaffung der versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse sein müssen. Ebenso bedarf es entsprechender sozialer Regelungen für Leiharbeit, um eine neue Form von Tagelöhnerei abzuwehren, für Teilzeitarbeit, neue Selbständigkeit und damit die gesetzliche Unterbindung von Scheinselbständigkeit. Anders gesagt: Die stärkere Differenzierung des neuen Arbeitsmarktes bedarf auch neuer, der stärkeren Differenzierung angepasster sozialer Sicherungen für die Beschäftigten. Wer auf solche Regulierungen - und dieser Begriff wird hier ganz bewusst verwandt - der neuen differenzierten Arbeitsmärkte verzichtet, der wird lediglich neue Ausbeutungsformen einführen, nicht aber den sozialen Bedürfnissen eines differenzierten Arbeitsmarktes gerecht werden. Damit würde man aber auf mittlere Sicht ein ernsthaftes Stabilitätsproblem für die Gesellschaft verursachen.
Die Aufspaltung des Arbeitsmarktes in grössere Unterschiede zwischen den Regionen, Branchen und einzelnen Unternehmen wird differenzierte Regeln und Regulierungen erfordern und nicht die Beliebigkeit individualisierter Verträge zwischen Unternehmen und Erwerbstätigen ohne den Schutz kollektiver Tarifverträge und gesetzlicher Vorschriften zulassen dürfen. Für die Gewerkschaften wird dies allerdings bedeuten, dass sie, neben ihrer bisherigen, stark auf die grossen Unternehmen konzentrierten Organisationskraft, verstärkt die kleinen und mittleren Unternehmen, ja grundsätzlich alle Formen der Erwerbsarbeit organisieren müssen. So wichtig der Zusammenschluss zu grossen, schlagkräftigen Einzelgewerkschaften im Zeitalter der "supermerger" von grossen und grössten Unternehmen auch immer sein mag, mindestens ebenso wichtig wird die Verbreiterung ihrer Organisationsbasis durch eine entsprechende Anpassung ihrer Organisationskultur an die neuen Beschäftigungsformen sein müssen.
In Deutschland wollten die Gewerkschaften z.B. niemals die versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse, und deswegen hat man sie rechts liegen lassen und nicht zu organisieren versucht. Dies war angesichts der Ausdehnung dieser Beschäftigungsverhältnisse in bestimmten Branchen ein grosser Fehler. Wollen unabhängige Gewerkschaften auch im Dienstleistungskapitalismus eine starke Rolle behalten - und für eine einigermassen gerechte Austarierung des zentralen Verteilungskonflikts zwischen Kapital und Arbeit bleiben sie auch und gerade in einer globalisierten und individualisierten Dienstleistungsökonomie unverzichtbar -, so müssen sie sich wesentlich mehr als bisher von der Fixierung auf ihre tradierten Organisationsmuster lösen und statt dessen alle Formen von Erwerbsarbeit zur Kenntnis nehmen und organisieren. Dann werden sie für neue Beschäftigungsformen, wie z.B. für Telearbeit zuhause, ebenso eine neue Organisationskultur entwickeln müssen wie für junge Existenzgründungen, für Leih-, Zeit- und Teilzeitarbeit, und darüber hinaus werden sie gut beraten sein, sich auch um die Kleinstunternehmer zu kuemmern. Leider verhindert ihre alte Organisationstradition hier bis heute wesentlich mehr als sie fördert.
Der Arbeitsmarkt von morgen wird in zwei grosse Sektoren zu höchst unterschiedlichen Bedingungen aufgespalten sein. Der traditionelle, eher national homogenisierte Arbeitsmarkt der Grossunternehmen mit hoher Produktivität, hohen Löhnen und Sozialleistungen wird neben dem differenzierten neuen Arbeitsmarkt mit all seinen Unsicherheiten und wesentlich stärkeren materiellen Unterschieden bestehen bleiben und eine grosse Bedeutung behalten. Ebenso wird die Mehrzahl der Beschäftigten den Arbeitnehmerstatus behalten und keineswegs zu Selbständigen oder Scheinselbständigen werden. Auch die Globalisierung wird also kein Ende der Arbeitnehmergesellschaft mit sich bringen, auch wenn Selbständigkeit vor allem in der Form des Kleinund Kleinstunternehmers an Bedeutung zunehmen wird. Dennoch wird es keinen Übergang von der Arbeitnehmergesellschaft zu einer
Selbständigengesellschaft geben, sondern vielmehr werden sich Rolle, Funktion und Bedingungen des Arbeitnehmers qualitativ verändern.
Die gespaltenen Arbeitsmärkte sind einerseits für eine neue Gründerzeit unverzichtbar, andererseits aber müssen sie arbeitsmarktpolitisch und sozialpolitisch in einem vertretbaren, die Gesellschaft nicht zerreissenden Rahmen mit dem alten Arbeitsmarkt und seinen wesentlich besseren Bedingungen verbunden bleiben. Beide Arbeitsmärkte müssen füreinander durchlässig und untereinander austauschfähig sein. Eine Abschottung zwischen neuem und altem Arbeitsmarkt würde nicht nur erhebliche soziale Verwerfungen mit sich bringen, sondern wäre auch ökonomisch höchst unproduktiv und einer neuen Gründerzeit völlig abträglich. Es wird daher eine der grossen Aufgaben zukünftiger Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik sein müssen, diese Tendenz zur Abschottung zwischen den beiden Arbeitsmärkten, bedingt durch eine starke Differenz in Löhnen, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen, zu verhindern und deren Durchlässigkeit und Annäherung sozialpolitisch zu flankieren, da die Arbeitsmärkte diese politische Aufgabe aus sich heraus nicht werden bewältigen können. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für den Gesetzgeber, sondern auch eine neue Aufgabe für die Gewerkschaften, denn von der Durchlässigkeit und Austauschfähigkeit der beiden Arbeitsmärkte wird auch die zukünftige Solidarität der Arbeitnehmer und damit ihre Angebotskraft gegenüber dem Kapital entscheidend abhängen.
Der Neoliberalismus propagiert den neuen, weitgehend deregulierten Arbeitsmarkt mit einer nahezu vollständigen Individualisierung seiner Risiken zu Lasten der Beschäftigten. Dadurch wird im Lichte einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik tatsächlich Gesellschaftspolitik betrieben, nämlich die Wurzeln des Sozialstaats und damit des gesellschaftlichen Zusammenhalts angegriffen. An die Stelle der sozialstaatlichen Solidarität gegen die grossen Lebensrisiken tritt deren Individualisierung, und das läuft schlicht auf eine andere Republik hinaus, als sie Deutschland und seine Nachbarn bisher gekannt haben. Die sozialen Folgen, ja die gesellschaftlichinfrastrukturellen Voraussetzungen für das langfristige Funktionieren des neuen Arbeitsmarktes, ohne dass es zu schwerwiegenden sozialen Verwerfungen und auch ökonomisch kontraproduktiven Wirkungen kommt, wie strukturelle Dequalifikation des Faktors Arbeit, wachsende Verarmungsprobleme einhergehend mit sozialer Desintegration und Instabilität, "zynische Belegschaften", etc., werden vom Neoliberalismus erst gar nicht bedacht, geschweige denn durchanalysiert und die Konsequenzen daraus gezogen. Hier tritt die Grundwertekontroverse zwischen einer neoliberalen und einer solidarischen Politik offen hervor: Werden die erheblichen Risiken des neuen Arbeitsmarktes bei Einkommen, Beschäftigung und sozialer Sicherung ausschliesslich individualisiert, oder bleibt es auch auf dem neuen Arbeitsmarkt bei jener in Kontinentaleuropa entwickelten Mischung von individueller und sozialstaatlicher Verantwortung? Eines sei hier nun gleich in die Debatte geworfen, nämlich die Kosten der jeweiligen Politiken: Individualisierung ist kurzfristig sicher billiger, auf längere Sicht allerdings duerfte sie sich angesichts der verdrängten sozialen und infrastrukturellen Kosten als die teurere und zugleich gefährlichere Politik erweisen. Die sozialstaatliche Politik für den neuen Arbeitsmarkt ist mit Sicherheit kurzfristig teurer, allerdings wird sie sich, da in hohem Masse aus Investitionen in Humankapital, Qualifizierung und Alterssicherung bestehend, auf mittlere Sicht als die ertragreichere Strategie erweisen, die zudem über einen hohen gesellschaftlichen Stabilitäts- und Integrationseffekt verfuegt.
Die Organisation des Arbeitsmarktes ist das Fundament für die Gestaltung eines neuen Gesellschaftsvertrages. Dabei gewinnt die Ausrichtung des Bildungssystems auf "lebenslange Beschäftigungsfähigkeit", d.h. auf eine beständige, die gesamte Erwerbsbiographie umfassende Parallelisierung von Erwerbsarbeit und Requalifizierung, eine herausragende Bedeutung. Die Qualität der "Beschäftigungsfähigkeit" , d.h. einer hohen und zugleich qualifizierten beruflichen Mobilität der Erwerbstätigen, wird in Zukunft von immer grösserer volkswirtschaftlicher Tragweite werden, nur dass die gegenwärtige Diskussion über eine Bildungsreform diesen Aspekt fast völlig ausklammert. Wenn es aber richtig ist, dass die lebenslange Beschäftigung auf einem Vollerwerbsarbeitsplatz nach durchlaufener Ausbildung eher zur Ausnahme als zur Regel werden und die Zukunft der Erwerbsbiographie durch eine Vielzahl von Beschäftigungen mit höchst unterschiedlichen Qualifikationen bestimmt werden wird, die eine beständige Requalifizierung notwendig machen, so wird diese Entwicklung auf das herkömmliche Bildungssystem einen massiven Veränderungsdruck auslösen. Denn in der Tat ist dann die Zuordnung von Dauer und Qualität der Primärqualifikation in Schule, Hochschule und beruflicher Ausbildung entsprechend diesem Erfordernis der dauerhaften Beschäftigungsfähigkeit neu zu regeln, und gleichzeitig bedarf es auch einer Öffnung des staatlichen Bildungssystems für die Fortbildung von Erwerbstätigen.
Der Bildungssektor steht gegenwärtig in Deutschland, ebenso wie der Aufbau Ost, mit seiner tiefen Krise eigentlich als Teil für den Zustand des ganzen Landes. Er ist organisiert nach den Bedürfnissen einer zu Ende gehenden Epoche, verfasst nach den Grundsätzen der siebziger Jahre, dominiert von Bürokratie, Besitzständen und Privilegien an Hochschulen und Universitäten und deshalb, bezogen auf seine Ergebnisse, viel zu teuer und zu wenig erneuerungsfähig. Gleichzeitig aber wird sowohl von den öffentlichen Händen als auch von den Privaten eher zu wenig als zu viel für Bildung, Forschung und Wissenschaft ausgegeben,denn in diesen Feldern liegen die entscheidenden Zukunftsressourcen und daraus folgt die Notwendigkeit verstärkter Investitionen. Ohne die notwendigen strukturellen Reformen im Bildungssektor jedoch würde dies lediglich die Fehlallokation von Ressourcen verstärken, nicht jedoch den Output des Systems qualitativ und quantitativ verbessern. Dennoch - und hierin besteht die Parallele zum Aufbau Ost - ist der Bildungssektor einer der klassischen Wachstumssektoren eines ideengetriebenen Dienstleistungskapitalismus, und dass sich auch dieser Sektor in Deutschland heute in einer tiefen Strukturkrise befindet, macht das zu behebende Elend plastisch klar.
Ein derart an den Bedürfnissen des neuen Arbeitsmarktes ausgerichtetes Ausbildungs- und Fortbildungssystem ist teuer, aber wir haben es hier mit einer klassischen Investition in Bildung und Qualifikation zu tun, die makroökonomisch schon immer von erheblicher Bedeutung war und in Zukunft noch wesentlich bedeutsamer sein wird. Gerade wenn man am solidarischen Bildungsanspruch - für linke Politik ein unverzichtbarer Grundwert, der sich aus ihrem Menschen- und Gerechtigkeitsbild ergibt - festhält, wird es deshalb nicht allein durch staatliche Transferzahlungen und entsprechende indirekte Transfers über eine Öffnung der staatlichen Bildungssysteme für die Weiter- und Fortbildung zu bezahlen sein, sondern muss indirekt über veränderte Arbeitszeitregelungen, welche die Einrichtung von Arbeitszeitkonten und verstärkt auch Teilzeitarbeit ermöglichen, aber auch über direkte finanzielle Eigenbeiträge finanziert werden. Zudem werden auf diesem Hintergrund tarifvertragliche Regelungen immer wichtiger, damit die Kosten der Aus- und Fortbildung zur dauerhaften Beschäftigungsfähigkeit nicht allein vom Staat und den Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen.
Diese Aus- und Fortbildungsreform - die eigentliche zweite Bildungsreform! - ist ein konstitutives Element des neuen Gesellschaftsvertrages und zugleich im doppelten Sinne ein unverzichtbarer Teil einer wirksamen Strategie zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, da sie sowohl den Arbeitsmarkt entlastet als auch zugleich die Beschäftigungsfähigkeit fördert. Erstens ist die Organisation erwerbsloser Zeiten als Aus- und Fortbildungszeiten sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft allemal sinnvoller als Arbeitslosigkeit; und zweitens trägt die Requalifizierung zu einer höheren Beschäftigungsfähigkeit bei. Freilich ist diese Reform alles andere als billig. Bei abnehmenden verfuegbaren Masseneinkommen und einer anhaltenden Krise der Staatsfinanzen wird sich eine solche Bildungsreform nur sehr schwer finanzieren lassen, was wiederum zur Notwendigkeit einer neuen Gründerzeit zurückführt.
Darüber hinaus wird die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung die Aufgabe der Alterssicherung der Beschäftigten beider Arbeitsmärkte und ihrer gegenseitigen Durchlässigkeit berücksichtigen müssen, ebenso die Notwendigkeit der Dualisierung von Erwerbsleben und Aus- und Fortbildung, was wiederum die verstärkte Steuerfinanzierung der Rentenversicherung notwendig machen wird. In Zukunft werden viel stärker beitragsfreie und beitragsschwache Zeiten in der durchschnittlichen Rentenbiographie anfallen, als dies bisher beim männlichen Vollerwerbsarbeitsplatz der Fall war. Wenn diese verstärkte Erwerbsunsicherheit und Flexibilität nicht zum absehbaren Risiko der Altersarmut führen soll, wird der Bedarf nach einem steuerfinanzierten Ausgleich und/oder nach einer zweiten Finanzierungssäule zunehmen. Auch ein auf die Realitäten des neuen Arbeitsmarktes ausgerichtetes solidarisches Rentensystem wird also ein erhebliches Finanzierungsproblem aufwerfen.
In der aktuellen deutschen Debatte wird sehr häufig der amerikanische Arbeitsmarkt mit seinen grossen Beschäftigungserfolgen als positives Vorbild angeführt. Nun soll hier gar nicht weiter auf die Details der Unterschiede zwischen beiden Arbeitsmärkten eingegangen werden, aber es ist offensichtlich, dass sich beide nur sehr unzureichend miteinander vergleichen lassen, da ihre Bedingungen einfach zu unterschiedlich sind. Der kontinentale Arbeitsmarkt der USA ist weder quantitativ noch qualitativ mit dem der EU oder gar Deutschlands zu vergleichen, die gewachsenen historischkulturellen Unterschiede wurden bereits erwähnt. Selbst wenn man das hohe Mass an Flexibilisierung des amerikanischen Arbeitsmarktes nicht aus moralischen, sozialen und politischen Gründen ablehnt, lässt sich eine ähnliche Deregulierung und Senkung von Löhnen, Arbeitsbedingungen, sozialer Sicherung und dem Abbau sozialstaatlicher Netze auf Deutschland kaum übertragen. Dasselbe gilt für die massenhafte Verarmung der unteren Einkommensschichten, die zur Arbeitsaufnahme nahezu um jeden Preis zwingt.158 Dadurch ist faktisch in den USA neben dem alten und dem neuen Arbeitsmarkt bereits ein dritter Arbeitsmarkt entstanden, nämlich die arbeitende industrielle Reservearmee der working poor. Ohne diesen de facto dritten Arbeitsmarkt ist das amerikanische Beschäftigungswunder nicht erklärbar, und dieser wurde nur durch eine massive Abwertung des Faktors Arbeit und eine weitgehende Zerstörung der sozialstaatlichen Netze gegen die Armut erreicht.159 Die entscheidende Frage, die sich aus dieser Analyse ergibt, ist, ob dieses Jobwunder im unteren Einkommensbereich nur nach der amerikanischen Methode, also ausschliesslich zu Lasten des Faktors Arbeit geht, oder ob es auch hier eine solidarische Alternative gibt, die nicht zugleich an den Grenzen ihrer Finanzierbarkeit scheitern muss.
Deutschland und die EU werden, bedingt durch die langfristigen Trends in der Wirtschaft und auf den Arbeitsmärkten, vor demselben Problem stehen, nämlich dass eine wachsende Zahl von Erwerbslosen, vor allem gar nicht oder falsch qualifizierte und ältere Arbeitslose, Arbeit sucht, die von den bestehenden Arbeitsmärkten allein nicht mehr absorbiert werden können. Selbst wenn man den Erfolg einer neuen Gründerzeit einmal unterstellt, der gewiss nicht einfach zu erreichen sein wird, und auch eine erfolgreiche Umsetzung der notwendigen Strukturreformen bei Steuern, Renten, Bildung, Kapital- und Finanzmarkt und ökologischer Erneuerung, so wird dies alles zusammen dennoch nicht die Vollbeschäftigung vergangener Tage wiederbringen können. Selbst die "Jobmaschine" USA, die mittlerweile wieder zu Vollbeschäftigung geführt hat, vermochte diese nur quantitativ, nicht aber qualitativ wiederherzustellen. Der amerikanische Weg, d.h. die Zerschlagung des sozialen Netzes bei gleichzeitiger dramatischer Absenkung der unteren Löhne bis unter das Existenzminimum, ist in Deutschland nicht gangbar. Auch die bisherige deutsche Methode, nämlich einen wachsenden Sockel von Arbeitslosigkeit mit staatlichen Mitteln zu finanzieren, wird aus Gründen der abnehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz und der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte nicht mehr allzulange praktizierbar sein. Hinzu kommen noch weitere, den zukünftigen Arbeitsmarkt zusätzlich belastende kulturelle Faktoren: erstens die Veränderung der Geschlechterarbeitsteilung und die Auflösungstendenzen der Kleinfamilie und zweitens eine wachsende Überalterung der Gesellschaft. Beide langfristigen Trends werden zu einer verstärkten Integration von Frauen und zu einer Notwendigkeit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit führen, wobei angesichts der dramatischen Zunahme der Zahl alter Menschen ein verstärkter Bedarf nach altenspezifischen Arbeitsplätzen entstehen wird, der einen schrittweisen Umstieg in ein dann erst später eintretendes Ruhestandsalter ermöglicht.
Mit der Schwächung sozialer Institutionen wie der Familie, durch das berufsorientierte Rollenverständnis der jüngeren Frauen und die Auflockerung sozialer Milieus bei wachsender innergesellschaftlicher Individualisierung entstehen eine Vielzahl von kleinräumigen sozialen Bedürfnissen, die bisher in den traditionellen sozialen Milieus und Institutionen gebunden waren. Diese bieten in Zukunft vor allem im kleinen, lokalen Dienstleistungsbereich zahlreiche Möglichkeiten sowohl für echte unternehmerische als auch freiwillig soziale oder selbstorganisierte Initiativen, die eine Mischung von beidem sind. Hier, in der Entwicklung eines dritten, eines "gesellschaftlichen Sektors" des Arbeitsmarktes, bietet sich die Chance, der Alternative zwischen "working poor" und Dauerarbeitslosigkeit eine solidarische Antwort entgegenzusetzen. Jeremy Rifkin definiert in seinem Buch "Das Ende der Arbeit" diesen dritten Sektor am Beispiel der USA als "Bereich der sozialen Verantwortlichkeit" und als Non-profit-Sektor: "In den USA existieren die Grundlagen für einen dritten gesellschaftlichen Sektor schon seit langem. Neben dem privaten und dem öffentlichen Sektor, auf die sich in der Moderne stehts die ganze Aufmerksamkeit gerichtet hat, gibt es hier einen Bereich, der als Geburtshelfer der Nation von besonderer historischer Bedeutung war und der heute zur Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages für das 21. Jahrhundert werden könnte. In diesem "Dritten Sektor", der auch als freiwilliger Sektor bezeichnet wird, herrschen nicht treuhänderische Strukturen, sondern gemeinschaftliche Bindungen vor. Man widmet seinen Mitmenschen Zeit, statt kuenstliche Marktbeziehungen mit ihnen einzugehen und sich und seine Dienste zu verkaufen."
Nun hat sich der soziale Sektor in der Geschichte der USA auf einem ganz anderen Hintergrund entwickelt, nämlich dem weitgehenden Fehlen des Staates während der Besiedelung des Kontinents durch überwiegend europäische Einwanderer und deren gegenseitiger Abhängigkeit von Nachbarschaftshilfe. Auf die europäische Tradition ist diese Erfahrung nicht ungebrochen übertragbar, auch wenn die amerikanische community-Tradition gewiss etwas ist, aus der die europäischen Gesellschaften mit ihrer ererbten Staatsfixiertheit sehr viel lernen und übernehmen können, nämlich gesellschaftliche Selbstorganisation, Eigeninitiative, Nachbarschaftsverantwortung und ganz generell den Vorrang der Zivilgesellschaft vor dem Staat. Dahinter steckt auch eine urdemokratische Tradition, die es wert ist, nach Europa und vor allem nach Deutschland mit seinen weitaus flacheren demokratischen Wurzeln übertragen zu werden. Dies darf aber niemals als Alternative zur europäischen Staatstradition verstanden werden, sondern immer nur als deren Ergänzung und Modernisierung, weil ansonsten ein solches Projekt scheitern müsste. Denn Traditionen kann man nicht nach Gusto einfach auswechseln. Deshalb wird eine solche Über nahme von solidarischen Elementen aus der amerikanischen Tradition immer eingepasst werden müssen in die europäische Sozialstaatstradition, wenn sie nicht zur blossen Legitimation eines vom Neoliberalismus propagierten, weitgehenden Rückzugs des Staates aus seiner sozialen Verantwortung herhalten soll.
Hierbei geht es nicht um eine Aufwertung des Ehrenamtes als Antwort auf die Krise des Sozialstaates und des drohenden Rückzugs des Staates aus seiner sozialen, und d.h. armutsbekämpfenden Verantwortung, sondern hier wird der Begriff "dritter" oder "gesellschaftlicher Sektor" in einem weitergehenden Sinn verwandt, der sowohl NonProfit-Bereiche als auch kleinunternehmerische ProfitBereiche umfasst. Mit dem "gesellschaftlichen Sektor" wird hier also wesentlich mehr gemeint, nämlich ein echter dritter "alternativer" Arbeitsmarkt, nicht nur die private Organisation ehrenamtlicher Initiativen. In der hier verwendeten Definition mischt sich staatliche Arbeitsmarktpolitik mit wettbewerbsfähiger, kleinunternehmerischer Eigeninitiative und diese wiederum mit selbstorganisierten Initiativen und ehrenamtlichen Aufgaben. In einem solchen Sektor macht dann auch eine transferfinanzierte staatliche Lohnsubvention zur Aufbesserung von Minimallöhnen und die steuerfinanzierte Aufstockung der Alterssicherung einen Sinn, während dieses arbeitsmarktpolitische Instrument der staatlichen Lohnsubvention auf den formellen Arbeitsmärkten wohl eher volkswirtschaftlich teure und unsinnige Mitnahmeeffekte auslösen würde. Eine Mischung aus Transferzahlungen direkter Art, wie z.B. Lohnsubvention, ABM, Ausund Fortbildung, oder indirekter Art, wie eine Teilfinanzierung aus Sozialhilfe/Grundsicherung, verbunden mit echter Wertschöpfung, auch mit ehrenamtlichen Initiativen, wird diesen Sektor ökonomisch tragen.
Freilich wird dieser Sektor nur zu Teilen in der Lage sein, zu den marktueblichen Bedingungen zu arbeiten und zu konkurrieren, weshalb dort teilweise besondere Tarif- und Arbeitsbedingungen notwendig sein werden. Damit stellt sich aber sofort die Frage des Wettbewerbs und damit auch die Abgrenzungsfrage von den ausschliesslich nach Wettbewerbsregeln funktionierenden Teilen der Wirtschaft, vor allem dem Handwerk und anderen kleinen Dienstleistern. Staatliche Beschäftigungspolitik darf selbstverständlich nicht wettbewerbsverzerrend wirken, da sie dadurch in ihrer Wirkung widersinnig würde. Demnach wird es einer klaren Definition der Abgrenzung zwischen der formellen Wirtschaft und dem gesellschaftlichen Sektor und innerhalb dieses Sektors zwischen sozialer Aufgabe und wettbewerbsorientierter Wertschöpfung kommen müssen, auf dessen Grundlage dann die
Förderung stattfinden kann. Staatliche Beschäftigungspolitik wird dabei immer zum Ziel haben müssen, einen möglichst hohen Eigenertragsanteil auf Wertschöpfungsbasis anzustreben und damit eine Eingliederung von Unternehmen und Beschäftigten in den ersten Arbeitsmarkt und in die formelle Ökonomie zu ermöglichen.
Ein zusätzlich wichtiger Faktor zur Überwindung der Arbeitslosigkeit ist sicherlich eine weitere Verteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens auf mehr Köpfe, aber auch diese Strategie ist in ihrer Wirkung begrenzt. Denn angesichts des mittlerweile mehrjährigen Abwärtstrends der verfügbaren Einkommen ist die Akzeptanzschwelle für weitere Arbeitszeitverkuerzungen ohne vollen Lohnausgleich bei den Beschäftigten dramatisch gesunken. Nicht nur, dass jede weitere schematische Verkuerzung der Wochenarbeitszeit unter die 35 Stunden das Problem von steuerlich und sozialversicherungsrechtlich nicht erfasster Zusatzarbeit (610-DM-Jobs oder direkte Schwarzarbeit) angesichts abnehmender Realeinkommen verstärken wird, sondern viele Erwerbstätige werden ihre Zusatzfreizeit aus leicht nachvollziehbaren Gründen auch deshalb zu zusätzlicher Erwerbsarbeit nutzen wollen, um so ihren Lebensstandard wenigstens etwas verbessern zu können.
Eine Neuorganisation der Arbeitszeit ist andererseits für eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unverzichtbar, aber die Lösung liegt hier erstens in einer Arbeitszeitordnung, die Teilzeit in den Unternehmen und im öffentlichen Dienst auf allen Hierarchieebenen durchsetzt. Teilzeit darf nicht als Lohndrückerei und Mittel zur Umgehung von Sozialversicherungsbeiträgen im unteren Lohngruppenbereich eingesetzt werden, sondern muss vor allem als ein zusätzliches Angebot zur Verbindung von Familie und Beruf und von Requalifizierung und Beruf verstanden werden. Dies ist jedoch nicht nur eine Frage an den Gesetzgeber und nach der gesetzlichen Arbeitszeitordnung - gesetzlicher Anspruch auf Teilzeit, Förderung von Teilzeit durch sozialversicherungsrechtliche materielle Anreize (BonusMalus- Systeme gestaffelter Beiträge je nach Anteil von Teilzeit in einem Betrieb), gesetzlich garantierte Arbeitszeitkonten, etc. - und den sich daraus ergebenden versicherungsrechtlichen Konsequenzen, sondern diese Frage betrifft vor allem auch die Tarifpartner und die Haltung von Personalchefs, Betriebsräten, Vorgesetzten und Kollegen in den Unternehmen. Die Inanspruchnahme von Teilzeit darf, gerade in den Aufstiegsebenen der Betriebshierarchie und beim Fuehrungsnachwuchs, nicht als Karrierehemmnis, sondern muss als eine betriebliche Selbstverständlichkeit begriffen werden. Dies würde auch wesentlich mehr begabten jungen Frauen den Aufstieg in die höheren Hierarchieebenen ermöglichen, als dies heute der Fall ist. Gerade in der frühen Familienphase, solange die Kinder noch klein sind, könnte hier eine kulturelle Werteveränderung in den Unternehmen und im Kollegenkreis gleichermassen zu einem ganz erheblichen Fortschritt bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf führen und zugleich zu einer positiven Entlastung des Arbeitsmarktes beitragen.
Zweitens muss eine Neugestaltung der Arbeitszeit vor allem an der Jahres- und Lebensarbeitszeit in Verbindung mit Arbeitszeitkonten der Beschäftigten und der Förderung von Aus- und Fortbildung ansetzen. Die Beteiligung an Aus- und Fortbildung muss nicht nur umfassend ermöglicht werden, sondern wird, wenn diese Voraussetzung gegeben ist, dann auch zunehmend als individuelle Verpflichtung eingefordert werden müssen. Hier lassen sich durchaus positive Anreizsysteme innerhalb des staatlichen Systems von Transferleistungen denken, die bei entsprechender Fortbildungsleistung eines Erwerbstätigen nach oben gestaffelte staatliche Transfers ermöglichen. Freilich setzt eine solche Verpflichtung zuerst ein entsprechendes Fortbildungsangebot voraus und dessen Integration in die Bedürfnisse des ersten Arbeitsmarktes, da ansonsten eine solche Massnahme einen quasi Strafcharakter bekäme und demnach in ihrer beschäftigungsfördernden Wirkung völlig verpuffen würde. Bezogen auf die Aus- und Fortbildung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf macht eine intelligente Politik weiterer Arbeitszeitverkuerzung ohne vollen Lohnausgleich grossen Sinn, nicht aber, wenn es lediglich zu einer schematischen weiteren Verkuerzung der Wochenarbeitszeit kommt.
Auch ein anderer Gesichtspunkt wird bei der gesetzlichen Neuorganisation der Arbeitszeit geregelt werden müssen: eine stärkere Zeitsouveränität der Erwerbstätigen als Ausgleich für ihre fast universelle Verfügbarkeit in den Unternehmen. Es kann nicht sein, dass aus Wettbewerbsgründen und wegen der rentableren Auslastung von in Maschinen und Technik investiertem Kapital die Arbeitszeitbarrieren in der Nacht und am Wochenende zunehmend niedergerissen werden, ohne dass die Erwerbstätigen nicht einen Zugewinn an individueller Zeitsouveränität bekommen. Dies ist keine
Frage der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und hat wenig mit dem Abbau von Arbeitslosigkeit zu tun, sondern ist zuerst und vor allem eine Gerechtigkeitsfrage. Im Prinzip wurde dieser Grundsatz Zeitflexibilität gegen Zeitsouveränität von der Kapitalseite akzeptiert, in der betrieblichen Wirklichkeit hinkt der Faktor
Zeitsouveränität allerdings noch weit hinter der Flexibilität hinterher. Auch hier muss der Gesetzgeber klare Rahmenvorgaben machen - gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung von Arbeitszeitkonten, Sabbatjahr, gesetzliche Garantie von angesparter Arbeitszeit etc., damit die tarifvertraglichen Vereinbarungenauch in ihrem zweiten Teil die notwendige Dynamik erhalten.
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