Das Ende des Sisyphos oder Die Krise der Arbeit
"Der Niedergang der Massenbeschäftigung wie der staatlichen Einflussnahme auf das Wirtschaftsleben erfordert eine grundsätzliche Neubestimmung der Grundlagen unserer Gesellschaft."
Jeremy Rifkin
Was ist eigentlich aus der Inflation geworden? Die wenigsten Menschen in den westlichen Volkswirtschaften wird diese Frage sonderlich interessieren, solange sie nicht von einer spürbaren Geldentwertung bedroht oder von einer öffentlichen Debatte um eine drohende Geldentwertung aufgeschreckt werden. Und dennoch verbirgt sich hinter dieser Frage eines der entscheidenden ökonomischen und politischen Geheimnisse der Globalisierung. Seit es den Kapitalismus gibt, gibt es auch dessen Krisen, gibt es Inflation und Deflation, Abwertung und Aufwertung des Geldes, denn dies sind die monetären Formen, in denen sich nicht nur die Entwicklung der Märkte, von Angebot und Nachfrage ausdrückt, sondern ebenso auch das jeweilige Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit in dem grundlegenden Verteilungskonflikt der kapitalistischen Volkswirtschaften. Das Wirtschaftswachstum in den kapitalistischen Marktwirtschaften verlief nicht linear aufsteigend, sondern unterlag zyklisch verlaufenden Auf- und Abschwüngen mit teilweise katastrophalen Folgen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Das theoretische Verständnis des Wirtschaftszyklus ("business cycle") sollte dazu beitragen, dessen katastrophale Auswirkungen durch ein angemessenes Handeln von Staat und Wirtschaft zu begrenzen und zu einem möglichst krisenfreien, verstetigten Wachstum führen. So dachte man zumindest bisher in der volkswirtschaftlichen Theorie und auch in der ökonomischen und politischen Praxis.
Freilich ging man bisher nicht von der Möglichkeit eines Verschwindens des kapitalistischen Krisenmechanismus
aus, es sei denn, man war Marxist. Denn genau darin lag das grosse historische Versprechen des Sozialismus/Marxismus, dass er durch die bewusste, vernünftige Planung des Wirtschaftsprozesses die chaotische Krisenanfälligkeit der Marktsteuerung überwinden könne. Dieses Versprechen erwies sich in der gesellschaftlichen Praxis dann als ein grandioser Irrtum. Es ist deshalb mehr als erstaunlich, jetzt erleben zu müssen, dass die Apologeten und Hohenpriester der Marktwirtschaft in den USA einem fast identischen Utopismus von einem angeblich krisenfreien Kapitalismus huldigen. Denn es ist exakt diese Grundannahme über die zyklische Entwicklung der kapitalistischen Marktgesellschaften, die dort in der politischwissenschaftlichen Diskussion des ökonomischen Prozesses nunmehr ins Wanken gerät. Utopien gelten jedoch nur für das Land Nirgendwo, nicht aber für unsere unvollkommene Welt, und sowenig die sozialistischkommunistische Utopie die berüchtigten "Realitäten" verschwinden lassen konnte, sowenig wird dies einem marktwirtschaftlichen Utopismus von der Krisenfreiheit des Kapitalismus gelingen. Ein solcher Utopismus ist eher Ausdruck eines zunehmenden intellektuellen
Realitätsverlustes, der sich meist als Vorbote einer schweren Krise in der harten Wirklichkeit einstellt.
In dieser Debatte über die scheinbar verschwundenen oder zumindest beherrschbaren Krisen des kapitalistischen Wirtschaftssystems und über ein von keinem Wirtschaftszyklus mehr unterbrochenes, fast inflationsfreies Wachstum geht es nur vordergründig um ein angeblich "inflationsfreies" Wachstum, ja sogar um das Verschwinden der Wirtschaftszyklen des Kapitalismus überhaupt mit ihrem Auf und Ab zwischen Rezession und Boom, Krise und Aufschwung, Abwertung und Aufwertung des Geldes und den damit einhergehenden politischen und sozialen Instabilitäten und Erschuetterungen. Diese öffentlich geführte Debatte unter Wirtschaftsprofessoren und Zentralbankiers ist, wie man bei näherem Hinsehen sehr schnell bemerken wird, alles andere als akademisch oder gar Ausdruck eines irrealen Wunschdenkens, sondern vielmehr hochpolitisch, weil sie in Wirklichkeit von den gegenwärtigen Machtverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit handelt, dem zentralen Gegenstand aller politischen Ökonomie.
Permanentes inflationsfreies Wachstum - dieser bisher lediglich fromme Wunsch aus dem kapitalistischen Utopia scheint das Land Nirgendwo verlassen zu haben und in den USA im Jahre 1997 Wirklichkeit geworden zu sein. Sollten die Befürworter dieser These recht haben, so hätte sich der Kapitalismus in der Tat in seiner Wesenslogik qualitativ verändert, denn von Anfang an gehörten Rezession und Krise ebenso zur kapitalistischen Wirtschaft wie Wachstum und Boom und deren zyklischer Wechsel. Sechs Entwicklungen in der modernen Ökonomie truegen zu einem Verschwinden des Wirtschaftszyklus bei, so der Politologe Steven Weber von der Berkeley Universität in Kalifornien: die Globalisierung der Produktion, Veränderungen im Finanzsystem, ein Wechsel in der Natur der Beschäftigung, eine andere Regierungspolitik, neu entstehende Märkte und die Informationstechnologie. Diese sechs Faktoren tendierten dazu, die Transaktionskosten zu reduzieren, Angebot und Nachfrage zu verstetigen, Ungleichgewichte der Produktion auszugleichen und Wachstum und Anpassungsprozesse besser abzustimmen. Steven Weber geht zwar weiter von der Existenz ökonomischer Schocks aus, die entweder von natürlichen oder politischen Ereignissen oder vom technologischen Wandel ausgelöst würden, denn diese fundamentalen Kräfte des Wirtschaftszyklus seien nicht verschwunden. In Zukunft allerdings seien sie in einer flexibleren und anpassungsfähigeren Wirtschaft von geringerer Bedeutung, da sich diese leichter solchen Schocks anpassen und demnach auch weniger schnell einen neuen Zyklus auslösen würde. "New Economy" nennt man dieses Traumbild vom krisen- und inflationsfreien Wachstum der Wirtschaft. Dem hält Paul Krugman die These entgegen, dass wir heute zwar wuessten, mit den Krisen und Zyklen der Vergangenheit umzugehen, nicht aber mit denen der Zukunft, und dass die Globalisierung die Gesetze des ökonomischen Wachstums der amerikanischen Volkswirtschaft mitnichten ausser Kraft gesetzt hätten. Und Krugman wird wohl recht behalten, denn die These vom Ende der Wirtschaftszyklen des Kapitalismus erinnert sehr stark an Francis Fukuyamas These vom "Ende der Geschichte", die sich, bedingt durch den plötzlichen Zusammenbruch der Sowjetunion, zuerst als überaus reizvoll und provokant, dann aber innerhalb kürzester Zeit als intellektueller Nonsens erwiesen hat. Im übrigen ist der krisenfreie Kapitalismus ein Widerspruch in sich, denn das System verlöre mit seiner Krisenanfälligkeit seinen grössten strategischen Vorteil, nämlich seine Dynamik. Von einer Kombination von permanenter Dynamik und maximaler Stabilität kann man zwar träumen, in der Wirklichkeit sind das aber zwei sich ausschliessende Ziele. Ein dynamisches System wird nicht nur immer krisenanfällig bleiben, sondern es muss diese Eigenschaft sogar erhalten, da die Krise eben ein wesentliches, wenn nicht gar das wesentliche Element seiner Veränderungsdynamik ausmacht. Spätestens mit der nächsten Rezession, die auch in den USA so sicher wie das Amen in der Kirche kommen wird, wird sich diese Debatte also ganz praktisch erledigt haben.
Interessant an dieser gelehrten Debatte über den "Business Cycle" ist etwas völlig anderes, das eher im Hintergrund dieser Kontroverse, gewissermassen auf einer zweiten Ebene, erörtert wird, nämlich die Frage nach den wirklichen Ursachen der tatsächlich langanhaltenden und zugleich nahezu inflationsfreien Konjunktur in den USA. Die Befürworter der These vom Ende des "Business Cycle" tun sich schwer mit empirischen Beweisen für deren theoretischen Kern, dass nämlich alle genannten Faktoren, vor allem aber die Kommunikationstechnologie, in Verbindung mit einer technologisch ermöglichten Feinsteuerung von Märkten und Volkswirtschaften, zu einem gewaltigen, gleichermassen nationalen wie globalen Produktivitätssprung geführt hätten, der die eigentliche Ursache für das Verschwinden des Zyklus wäre. Vieles spricht dafür, dass alle diese Faktoren eine Rolle für den langanhaltenden Aufschwung spielen, viel wichtiger allerdings, ja vermutlich sogar zentral scheint dafür aber die dauerhaft wirksame Blockade des ökonomischen Verteilungsmechanismus zwischen den beiden Faktoren Arbeit und Kapital zu sein - eine der Hauptursachen für inflationäre Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten -, und damit kommen wir zum eigentlichen politischen Punkt dieser scheinbar akademischen Kontroverse. Denn wenn sich ein Charakteristikum der gegenwärtigen Entwicklung als eine wirkliche Besonderheit herausarbeiten lässt, dann ist es die Tatsache, dass der Verteilungsmechanismus zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Löhnen und Gewinnen in den USA seit nunmehr zwei Jahrzehnten nur noch zugunsten des Kapitals funktioniert.86 Und dies gilt dort, mit einer entscheidenden Ausnahme, auf die noch zu kommen sein wird, für nahezu alle abhängig Beschäftigten.
Seit dem Ende der siebziger Jahre ist in den USA (und nicht nur da) ein eindeutiger Trend in der Einkommensentwicklung zugunsten von Kapitaleinkommen und zu Lasten von Arbeitseinkommen erkennbar. In den frühen siebziger Jahren betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Haushaltes der oberen 5 Prozent das Zehnfache eines Haushaltes aus den unteren 5 Prozent der Einkommenspyramide, heute ist es bereits mehr als das Fünfzehnfache. Und diesen Trend findet man in nahezu allen westlichen Industrieländern.87 Deutschland durchlief eine ähnliche Entwicklung, auch wenn hierzulande die Einkommensunterschiede noch nicht so krass auseinanderklaffen wie in den USA: "Von 1982 bis 1992 hat sich der Arbeit nehmeranteil am Gesamteinkommen in der alten Bundesrepublik von 74 auf 63 Prozent verringert. Die Nettöinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sind doppelt so schnell gestiegen wie die Nettöinkommen der Arbeitnehmer. Seit 1991 stagniert in Deutschland das Realeinkommen der Arbeitnehmer, während das private Geldvermögen sich um 35 Prozent erhöht hat. Zehn Prozent der Haushalte verfuegen über die Hälfte des gesamten Nettovermögens aller Haushalte."
Und folgende ernüchternde Zahlen über das Einkommenve rhältnis von Kapital und Arbeit in Deutschland (West) finden sich in einem Aufsatz des Aachener Wirtschaftswissenschaftlers Norbert Reuter: "Die Entwicklung der Einkommen aus unselbständiger Arbeit zeigt, dass die abhängig Beschäftigten sich in der Vergangenheit alles andere als einen zu hohen Anteil am Sozialprodukt erstritten haben. Die bereinigte Lohnquote, die eine grobe Messziffer für die Verteilung der gesamten Wertschöpfung auf die Faktoren Arbeit und Kapital darstellt, befindet sich mit weiter sinkender Tendenz auf einem historischen Tief. Zu ihren besten Zeiten lag sie bei immerhin 75,2 Prozent. Das war im Jahr 1975. Seitdem ist sie bis auf wenige Jahre beständig zurück gegangen: 1995 betrug sie noch 68,2 Prozent; für 1997 wird eine Quote von nur noch 67,7 Prozent erwartet. Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass die Verbesserung der Verteilungsposition, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den siebziger Jahren durchsetzen konnten, in den achtziger und neunziger Jahren nicht nur wieder verlorengegangen ist, sondern sogar noch unter den Stand der siebziger Jahre zurück gefallen ist............................................. Der Verlauf
der Gewinnquote spiegelt die Entwicklung der Arbeitseinkommen auf der einen und der Gewinneinkommen auf der anderen Seite wider. Mit Blick auf Westdeutschland legten die Unternehmensgewinne zwischen 1980 und 1993 (neuere Zahlen liegen nicht vor) brutto um 185 Prozent und netto sogar um 251 Prozent zu, während die Nettoarbeitseinkommen im gleichen Zeitraum gerade einmal um 63 Prozent stiegen, im Durchschnitt pro beschäftigtem Arbeitnehmer nur um 52 Prozent. Seitdem sind sie sogar leicht gefallen. Unter Abzug der Inflation stiegen die durchschnittlichen
Arbeitseinkommen im Zeitraum 1980 bis 1995 gerade einmal um 3,1 Prozent, was im Mittel eine Steigerung von 0,2 Prozent pro Jahr bedeutet. Steuerrechtsänderungen
haben in der Vergangenheit wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen Allein zwischen 1983 und
1993 ergaben sich als Folge von Steuerrechtsänderungen staatliche Mindereinnahmen in Höhe von insgesamt rund 240 Mrd. DM. Der Löwenanteil mit gut 170 Mrd. DM kam dem Unternehmenssektor zugute, während auf den Bereich der privaten Haushalte nur 70 Mrd. DM entfielen. Die Gewinnsteuerquote sank auf ein historisches Rekordtief, die Lohnsteuerquote stieg auf ein Rekordhoch." Die dramatisch zunehmende ungleiche Einkommensverteilung in den Vereinigten Staaten wird ja mittlerweile angesichts der Daten und Fakten von niemand mehr bestritten, nur spricht jetzt alle Welt über das amerikanische Jobwunder als positives Ergebnis dieser unschönen Einkommensentwicklung. Nun sind Statistiken in der modernen Welt zu deren Interpretation gewiss unverzichtbar, bisweilen aber erweisen sie sich schlicht als fauler Zauber. Indem man munter an den zugrundeliegenden Annahmen herumfingert, vermag man für den Laien und eine breitere Öffentlichkeit erstaunliche und meistens politisch gewünschte Ergebnisveränderungen herzustellen. Gerade die Arbeitslosenstatistik bietet für solch manipulative Praktiken ein beeindruckendes Beispiel gemäss der Devise: Lässt sich schon die Arbeitslosigkeit nicht senken, dann ändere wenigstens die Statistik. Zudem gibt es international kein einheitliches Bewertungsmuster bei der Aufstellung der Arbeitslosenstatistik, und insofern ist deren Vergleichbarkeit mit vielen Fragezeichen zu versehen. Was besagt zum Beispiel ein Vergleich der
Prozentzahlen der britischen mit der deutschen Arbeitslosenstatistik, wenn man nicht weiss, dass in Grossbritannien "nur ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung im klassischen Sinn vollbeschäftigt [ist] (in Deutschland sind es noch über 60 Prozent). Vor zwanzig Jahren waren es in beiden Ländern über 80 Prozent." 90 Aehnliches gilt auch für den Vergleich der Arbeitslosenzahlen zwischen den USA und den einzelnen europäischen Volkswirtschaften, zumal hierbei noch die tatsächlichen Grössenunterschiede zwischen der kontinentalen Volkswirtschaft USA und den wesentlich kleineren europäischen Nationalstaaten die Vergleichbarkeit angesichts höchst unterschiedlicher Dimensionen noch schwieriger gestalten. Dennoch verfuegt die US-Volkswirtschaft, im Gegensatz zu Deutschland und anderen EU-Ökonomien, zweifellos über einen positiven Arbeitsplatzsaldo, d.h. es wurden in den vergangenen Jahren tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen als abgebaut, allerdings um den Preis einer wachsenden Einkommensungleichheit zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen.
Der amerikanische Arbeitsmarkt ist fast leergefegt, die Nachfrage nach Arbeitskräften droht zu überhitzen, und dennoch - und dies ist das tatsächliche "Wunder" , das sich allerdings ganz diesseitig als das keineswegs wundersame Ergebnis harter macht- politischer Fakten erklären lässt - bleiben die Inflation und mit ihr einer ihrer beruechtigten Motoren, die sogenannte Lohn-Preis Spirale, nahezu verschwunden. Eigentlich müssten doch jetzt, bedingt durch die grosse Nachfrage nach Arbeitskräften, die Löhne steigen und damit die Inflation merklich zunehmen, aber nichts dergleichen geschieht. Und warum ist dies so?
Hat der Kapitalismus sein Wesen verändert? Gilt das altehrwürdige Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht mehr? Obwohl doch eigentlich nach dem Gesetz von sich verknappendem Angebot und steigender Nachfrage der Preis der Arbeit (d.h. die Löhne) zunehmen und demnach die Gewinne abnehmen müssten. Oder aber die höheren Arbeitskosten werden, sofern sie nicht durch Produktivitätsgewinne aufgefangen werden können, auf die Preise abgewälzt und treiben demnach die Inflation an. Zudem werden höhere Arbeitseinkommen in der Regel den Massenkonsum verstärken, und auch dies ist ein zusätzlicher Anreiz für Preissteigerungen und damit für ein Anwachsen der Inflation. Nichts davon lässt sich gegenwärtig in den USA feststellen, und das hat keineswegs mit einem "Wunder" , sondern schlicht mit dem zu tun, was Paul Krugman "Angst-Wirtschaft" nennt: die strategische Schwächung des Faktors Arbeit und dessen Vertretungsorgane in Gestalt der Gewerkschaften durch die Angst um den Arbeitsplatz und die Drohung der Arbeitslosigkeit.
Strategisch muss diese Schwächung deshalb genannt werden, weil es nicht nur politisch widrige Zeitläufe waren und sind oder nur vorübergehend verschlechterte Angebotsbedingungen, die den Faktor Arbeit schwächten und schwächen, was zweifellos in allen westlichen Ländern (und ganz besonders seit Reagan und Thatcher in den USA und Grossbritannien) der Fall war und ist, sondern weil sich darüber hinaus die Angebotsbedingungen für Arbeit aus vielerlei Gründen und in beeindruckender Gleichförmigkeit tiefgreifend, nachhaltig und damit strukturell verschlechtert haben. Jede Politik, die eine praktische Antwort auf die
Massenarbeitslosigkeit sucht, wird sich dieser Tatsache stellen müssen oder aber in einer kurzfristigen Finanzierungsfalle und in Illusionen scheitern. Es gibt kein OECD-Land, das von dieser strategischen
Verschlechterung der Angebotsbedingungen der Arbeit ausgenommen wäre oder das sich davon abkoppeln könnte, und insofern haben wir es mit einem internationalen Trend zu tun, der zu seiner Erklärung in Richtung der Globalisierung der westlichen Volkswirtschaften und damit auch der Arbeitsmärkte weist.
Die Krise der Arbeit in den westlichen Industrieländern ist eben nicht nur das Ergebnis politischer Faktoren, eines Organisationsversagens von Gewerkschaften oder, bedingt durch eine Rezession der Wirtschaft, eines vorübergehenden konjunkturellen Überangebots an Arbeitskräften, sondern der strukturelle Umbau der westlichen Volkswirtschaften seit den siebziger Jahren und vor allem deren Umbau bei gleichzeitiger massiver Globalisierung der Weltwirtschaft in den neunziger Jahren haben diese Krise hervorgebracht. Und genau deshalb ist es auch so schwer, diese strukturelle Krise der Arbeit zu beheben, exakt darin liegt auf mittlere Sicht deshalb ihre grosse politische Gefährlichkeit für die westlichen Demokratien begründet. In China Wünscht man seinem Feind, er möge in interessanten Zeiten leben. Sollte Ulrich Beck in Zukunft Recht behalten, so werden wir in der Tat in eben solchen "interessanten Zeiten" zu leben haben: "Der Kapitalismus schafft die Arbeit ab. Arbeitslosigkeit ist kein Randschicksal mehr, sie betrifft potentiell alle - und die Demokratie als Lebensform. Der globale Kapitalismus, der die Verantwortung für Beschäftigung und Demokratie abstreift, untergräbt so seine eigene Legitimität. Die Folge ist, dass die Zukunft der Demokratie neu begründet werden muss."
Freilich ist der Einwand von Beck nicht ganz richtig, denn der Kapitalismus schafft die Arbeit nicht wirklich ab, sondern gegenwärtig verlagert er sie, vor allem als Folge der Öffnung der Märkte und des Auftauchens neuer Märkte im Prozess der Globalisierung. Die Verlagerung der Arbeit durch die Globalisierung ist also vor allem ein Vorgang, der die reichen Industrieländer, die Arbeitsplatzmonopolisten der vergangenen Aera des internationalen Kapitalismus, betrifft. Wenn man sich gegenwärtig die Konzernbilanzen wichtiger multinationaler Unternehmen ansieht, so wird man der These vom Arbeitsplatzabbau wohl nur dann zustimmen können, wenn man diese lediglich auf einen nationalen Wirtschaftsraum bezieht. Betrachtet man das multinationale Unternehmen aber als Ganzes, so wird man meistens ein Anwachsen der Beschäftigtenzahl feststellen, nur dass die Unternehmen in der Regel eben nicht mehr innerhalb der traditionellen Standorte investieren.95 Gemeinsam mit der technologisch bedingten Produktivitätssteigerung führt dies zu der Krise der Arbeit in den westlichen Volkswirtschaften.
Es wurde ja bereits weiter oben erwähnt, dass der Prozess der Globalisierung, je nach regionalem und sozialem Standort der Betroffenen, zu höchst unterschiedlichen Bewertungen führen muss. Es ist jedoch eine Tatsache - und gerade die Krise der Arbeit in den westlichen Volkswirtschaften ist damit aufs engste verbunden -, dass für viele Länder Osteuropas, Asiens und Lateinamerikas dieser Prozess die fast einmalige Chance bietet, zu dem Club der reichen Industrieländer aufzuschliessen. Dieser Prozess findet alles andere als widerspruchsfrei statt, er vollzieht sich weitgehend in den brutalen Ausbeutungsformen der ursprünglichen Akkumulation, in denen "das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" zur Welt kommt (Karl Marx), wobei die doppelte und zugleich bittere Ironie für die westliche Linke in diesem historischen Prozess darin besteht, dass es gerade die noch überlebenden kommunistischen Diktaturen in Asien sind, vorneweg die Volksrepublik China, die besonders brutale Ausbeutungsbedingungen und die wirksamste Unterdrückung freier Gewerkschaften und der Menschenrechte garantieren. Aber der Prozess der Globalisierung wird diese Länder, trotz temporärer Rueckschläge, auf mittlere Sicht zum Westen ökonomisch aufschliessen lassen, was ihre Demokratisierung erzwingen wird.
Die Geschichte ist manchmal voller Ironie und Häme. Die westliche Linke hat sich die Entwicklung der Dritten Welt immer als ein Ergebnis von Politik, von politisch gerechter Verteilung der globalen Lebenschancen vorgestellt, und jetzt vollziehen die Märkte mit ihren Instrumenten und entlang ihrer egoistischen Gewinnrationalität diesen Entwicklungsprozess auf praktisch ungleich wirkungsvollere Art. Während sich die westliche Linke in anklagenden Sonntagsreden, die bekanntlich nichts kosten, für eine grössere globale Verteilungsgerechtigkeit aussprach, agierten werktags die globalisierten Märkte und verlagerten schonungslos entlang des Gewinnkalkuels Investitionen und damit Arbeitsplätze und Lebenschancen in die neuen Wirtschaftsregionen. Angesichts der unaufhaltsamen Globalisierung der Ökonomie wäre jedoch ein Rückfall in eine Renationalisierung linker Politik fatal. Eine Verengung der Perspektive auf Nation und Nationalstaat hiesse, eine Politik der Abschottung der westlichen Märkte gegen die Globalisierung und die neue Konkurrenz zu betreiben - und dies bedeutet die sichere Niederlage.
Es bedarf angesichts der ökonomischen Globalisierung vielmehr der Politik eines forcierten Internationalismus der Menschenrechte, einer Politik zur kooperativen Durchsetzung der Regulierung der globalisierten Märkte und eines neuen internationalen Systems, das der Sicherung gleicher Wettbewerbsbedingungen auf der Grundlage von Menschenrechten, Demokratie und Marktwirtschaft gerecht wird. Der Kampf um freie Gewerkschaften, für bessere Arbeits- und
Umweltbedingungen und für die Menschenrechte und deren internationale und nationale institutionelle Absicherung wird dabei ein dynamischer Teil der politischen Globalisierung sein müssen. Es wird in den kommenden zwei Jahrzehnten in der internationalen Politik vor allem um die Durchsetzung einer globalen Weltwirtschaftsordnung gehen müssen, die eine nachhaltige Entwicklung aller beteiligten Nationen im Wettbewerb zulässt und fördert. Sollte diese internationale Anstrengung nicht gelingen, dann wird der Prozess der Globalisierung zu hochgefährlichen internationalen Spannungen und Krisen bis hin zu regionalen Kriegen und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen führen. Ein Blick in die Geschichte kann dabei sehr lehrreich sein.
Ethan B. Kapstein zeichnet in seinem bemerkenswerten Essay "Workers and the World Economy" nochmals die wirtschaftsgeschichtlichen Ursachen für die Entstehung des auf Vollbeschäftigung und Teilung der Einkommenszuwächse zwischen Kapital und Arbeit beruhenden sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrages nach, der die vierzig Jahre des Kalten Krieges in den westlichen Ländern bestimmt hat. Erstaunlich sind dabei die Parallelen zwischen der heutigen Entwicklung und der klassischen Epoche des Laissez-faire-Kapitalismus, die mit der Aufhebung der britischen Corn Laws 1846 begann und definitiv mit der Weltwirtschaftskrise 1929 endete. Auch Kapstein zitiert Karl Polanyi und dessen Werk "The Great Transformation" : Nach Polanyi war es vor allem die vollständige Beseitigung von Regulierungen und Traditionen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes im 19. Jahrhundert gewesen, die einen solch gewaltigen sozialen und politischen Aufruhr im frühen zwanzigsten Jahrhundert verursacht hatte und der seinen Höhepunkt im Zusammenbruch der Weltwirtschaft und im Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkriegs fand. Polanyis Werk wurde 1944 veröffentlicht, im Jahr der Konferenz von Bretton Woods, auf der die Restrukturierung der Weltwirtschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgearbeitet wurde. Und das System von Bretton Woods, das eine dreissigjährige Epoche des sozialstaatlichen Kapitalismus im Westen einleiten sollte, war ganz offensichtlich durch diese historischen Erfahrungen und politisch-ökonomischen Einsichten geprägt worden. In der heutigen Zeit ist von einem ähnlichen Weitblick hingegen wenig zu finden.
Der aus den dramatischen Erfahrungen der schrecklichen ersten vier Jahrzehnte dieses Jahrhunderts hervorgegangene Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital und Arbeit, der Vollbeschäftigung, Massenkonsum, Sozialstaat und damit eine Neuverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in einem demokratisch verfassten, korporatistischen Kapitalismus zugunsten des Faktors Arbeit zum Gegenstand hatte97, endete abrupt mit den beiden gewaltigen ökonomischen Schocks der Ölpreiskrisen von 1973/74 (Jom-Kippur-Krieg) und 1978/79 (persische Revolution). Die in der konkurrenzlos billigen Energie Erdöl gleichermassen realisierte wie symbolisierte Monopolstellung der westlichen Wohlfahrtsund Wachstumsökonomien war in ihrem Kern erschüttert, ja zum Einsturz gebracht worden, wie die weiteren Ereignisse zeigen sollten. 1973 vervierfachte die OPEC ihren Richtpreis von 2.50 Dollar je Fass Rohöl auf 10.80 Dollar, und 1979 verdoppelte sich die mittlerweile auf 13 Dollar je Fass gestiegene Rohölnotierung auf 28 Dollar. 1981 erreichte der Rohölpreis seinen Höhepunkt mit 34 Dollar für langfristige Lieferverträge und 40 Dollar je Fass auf dem Spotmarkt. Danach ging die Preisentwicklung wieder zurück und pendelte bis heute unter einem Durchschnittsniveau von 24 Dollar, das selbst während des Golfkrieges nicht mehr überschritten wurde.
Die beiden Ölkrisen der siebziger Jahre brachten in den westlichen Volkswirtschaften ein neues Phänomen hervor, nämlich die sogenannte "Stagflation", das heisst: Bei geringem oder gar keinem Wachstum hielt der inflationäre Druck dennoch an. Angesichts eines dramatisch wegbrechenden Wirtschaftswachstums hätten eigentlich die Preise nachgeben müssen, selbst wenn man den enormen Preisdruck des stark gestiegenen Ölpreises in Rechnung stellen muss. Der Preisdruck des verteuerten Öls reicht zur Erklärung der Stagflation allein nicht aus, sondern es bedarf dazu noch einer weiteren Ursache: Die Stagflation machte ökonomisch klar, dass der bis dahin gueltige sozialstaatliche Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital und Arbeit mit seinem Verteilungsmechanismus zwischen Gewinnen, Löhnen, Steuern und Abgaben nicht mehr funktionierte, weil nicht mehr genuegend Verteilungsmasse vorhanden war, um den gesellschaftlichen Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit sozialstaatlich ruhigzustellen. Weiteres Wirtschaftswachstum fiel krisenbedingt und global ganz oder zumindest teilweise aus, die Zunahme der Massenarbeitslosigkeit verstetigte sich und erreichte seit langem nicht mehr gekannte Grössenordnungen. Die über Jahrzehnte im System eingespielte Verteilungsmechanik blieb aber trotz nicht oder kaum mehr vorhandener Zuwächse erhalten, und so entwickelte sich, als ökonomische Konsequenz dieser völlig veränderten Lage und verstärkt noch durch den dramatischen Kostenschub der extrem höheren Ölpreise, in den westlichen Wohlfahrtsökonomien die Verbindung von Stagnation und Inflation zur Stagflation.
Die Kapitalseite antwortete darauf mit der einseitigen Kündigung des geltenden Gesellschaftsvertrages, was in den wichtigsten Industrieländern des Westens dann in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren zu weitreichenden politischen Veränderungen und zum Beginn des bis heute anhaltenden Siegeszuges der wirtschaftsliberalen Revolution führen sollte. Wobei man unter "Kündigung" nicht einen grossen strategischen Plan verstehen darf, sondern schlicht die Reaktion des Kapitals auf die abnehmenden Erträge und die sich aus dem weggebrochenen Verteilungsspielraum ergebenden Handlungsnotwendigkeiten entlang der eigenen Interessen. Die westliche Linke hat diesen Prozess bis heute kaum wirklich in einer strategischen Debatte aufgearbeitet, geschweige denn eine andere als defensive Antwort gefunden. Denn exakt in den seit den beiden Ölpreiskrisen nicht mehr ausreichend vorhandenen Verteilungszuwächsen liegt die eigentliche Ursache der Veränderung des Zeitgeistes - weg von Sozialstaat und Kompromiss und hin zu Marktradikalismus und Konfrontation - und ihrer langanhaltenden machtpolitischen Schwäche begründet, weil dadurch das gesamte Politikmodell der reformerischen Linken in den kapitalistischen Gesellschaften seine Grundlage verloren hatte. Denn ohne kräftige jährliche Wachstumsraten und die sich daraus ergebenden sozialstaatlichen Verteilungsspielräume war dieses Modell erledigt.
Wenn es also eine Ursache für die Niederlage der westlichen Linken in den achtziger und frühen neunziger Jahren gegeben hat, dann ist es das Ende des sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrages durch die beiden Ölpreiskrisen der siebziger Jahre. Allein diese Tatsache macht auch den Rückgriff auf die
staatsinterventionistischen Instrumente zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche der sechziger und siebziger Jahre so überaus fragwürdig, denn die Bedingungen für ihre erfolgreiche Implementierung in den Wirtschaftskreislauf sind einfach nicht mehr gegeben. Die westliche Linke setzte damals zur Bewältigung der Krise vor allem auf forcierte Staatsintervention durch schuldenfinanzierte Beschäftigungsprogramme, die allerdings nur dann hätten funktionieren können, wenn diese Strategie vom Kapital im Konsens mitgetragen worden wäre (was in Kriegszeiten regelmässig geschieht, aber auch die extreme Staatsverschuldung der USA in der Aera Reagan als Ergebnis einer gewaltigen Aufrüstung wurde von der Kapitalseite klaglos mitgetragen). Bei den schuldenfinanzierten Beschäftigungsprogrammen als Antwort auf die Ölpreiskrisen war aber ein Konsens nicht zu erreichen, sondern die Kapitalseite hatte einen sehr klaren Blick für die durch die Ölpreiskrisen dramatisch und dauerhaft verengten Verteilungsspielräume und kündigte einseitig den bis dahin gültigen sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrag. Damit war die tragende Konstruktion erfolgreicher demokratisch-linker Politik im westlichen Kapitalismus strukturell weggebrochen, denn sie war nicht nur von den durch anhaltendes Wachstum erzielten Verteilungsspielräumen abhängig, sondern stützte sich auch auf die Konsens- bereitschaft der Kapitalseite.
Die strategische Lage hatte sich also in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre grundlegend geändert, ohne dass die westliche Linke dies wirklich verstanden und daraus Konsequenzen gezogen hätte, aber vermutlich war dies in der damaligen Situation auch kaum möglich. Ganz anders agierte jedoch die Gegenseite, die wusste, dass eine Beibehaltung des westlichen Gesellschaftsvertrages bei dauerhaft abnehmendem Wirtschaftswachstum zwingend einen Umverteilungsmechanismus zu Lasten der Gewinne und damit der Kapitalrendite in Gang setzen musste, und das durfte nicht sein. Die Antwort war die bis heute anhaltende wirtschaftsliberale Revolution mit ihrem diametral entgegengesetzten Umverteilungsmechanismus zu Lasten des Faktors Arbeit. Politisch fand diese historische Zäsur ihren Ausdruck in den Wahlsiegen von konservativen Mehrheiten Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre unter Thatcher in Grossbritannien, Reagan in den USA und Kohl in Westdeutschland, und auch die französischen Sozialisten unter Mitterrand passten sich nach zwei Jahren, in denen sie mit einer sozialistischen Politik wirtschaftspolitisch fast gescheitert wären, dann ab 1983 um so energischer den neuen Gegebenheiten an.
Die Strategie eines schuldenfinanzierten Staatsinterventionismus zur Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen trägt heute noch weniger als damals, da er kaum mehr als extrem teure ökonomische Strohfeuereffekte hervorbrächte99, zudem von den Finanzmärkten, die heute weitaus mächtiger sind als in den siebziger Jahren, nicht getragen, sondern vielmehr bestraft würde und so zugleich einer erfolgreichen Agitation der Wirtschaftsliberalen gegen die hohe Staatsverschuldung, zu hohe Steuerlasten und für einen ausgeglichenen Haushalt Tuer und Tor öffnete. Insgesamt also ist die Politik eines schuldenfinanzierten Staatsinterventionismus zur Wiedergewinnung von Vollbeschäftigung angesichts der radikal anderen Verhältnisse heute in den westlichen Demokratien eine sichere politische Verliererstrategie, die entweder zu gebrochenen Wahlversprechen führen oder am Widerstand der Finanzmärkte scheitern wird. Und dies würde noch um ein Vielfaches mehr für dieselbe Politik gelten, die statt der Schuldenfinanzierung von Beschäftigungsprogrammen diese durch eine Wiederbelebung des Umverteilungsmechanismus durch eine wesentlich höhere
Besteuerung (und wesentlich höher müßte diese Besteuerung schon sein, wenn sie genügend Finanzmasse aufbringen sollte) zu Lasten von Kapitalerträgen und Vermögen finanzieren wollte. Einer Reminiszenz linker Politik der siebziger Jahre wäre durch die Reaktion der Finanzmärkte, durch den sicheren Absturz des Wechselkurses der Währung und durch eine abzusehende scharfe innenpolitische Gegenreaktion, die den sicheren Mehrheits- und damit Machtverlust nach sich ziehen würde, ein schnelles Ende beschieden. Man hätte es in diesem Fall also lediglich mit einer "beschleunigten" Verliererstrategie zu tun, was intellektuell durchaus kurios sein mag, politisch wäre eine solche Vorgehensweise einer linken Mehrheit allerdings ein gelungener Suizid.
Freilich ist die Schwäche der westlichen Linken nicht zuerst und vor allem Ausdruck eines subjektiven Versagens, sondern seit den beiden Ölpreiskrisen haben sich die strukturellen Bedingungen in der Tat dramatisch zu Lasten des Faktors Arbeit und damit auch der Linken verschlechtert. Wie soll, ja wie muss eigentlich der sozialstaatliche Gesellschaftsvertrag im Kapitalismus ohne oder sogar bei negativem Wachstum aussehen? Darauf gab und gibt es bis heute keine überzeugende Antwort. Die Linke hätte damals im Kopf radikal umschalten müssen, von der Verteilung auf die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums, auf Investitionen und Gewinn also, um so erneut Verteilungsmasse zu erwirtschaften, hätte also gewissermassen wie der allgemeinwohlorientierte, ideelle Gesamtkapitalist denken und handeln müssen, aber dies scheiterte an den Realitäten. Zu sehr war man an die überkommene Arbeitsteilung gewöhnt, dass das Kapital für die
Reichtumsproduktion verantwortlich zeichnete, während die Linke für Verteilungsgerechtigkeit und die soziale und ökologische Rahmengestaltung stand.
Hätte es, post festum betrachtet, damals wenigstens theoretisch eine linke, gemeinwohlorientierte Alternative zur neoliberalen Mobilisierung der Produktivitäts- und Reichtumsreserven der westlichen Gesellschaften als Antwort auf die grossen ökonomischen Schocks der siebziger Jahre geben können? Eine linke Alternative zum notwendigen "Reengineering" der westlichen Ökonomien jenseits des radikalisierten Besitzindividualismus? Drei Antworten auf die Krise boten sich ganz unmittelbar an: Die erste Antwort war für die Linke nicht akzeptabel, denn sie hiess in den vorhandenen Eigentumsformen Verzicht auf weitere Verteilungsgerechtigkeit und statt dessen ein fast ausschliesslicher Vorrang für Investitionen, was eine dramatische Bevorzugung der Interessen des Kapitals heissen musste, um so dessen Gewinnerwartung bei Investitionen unter den radikal veränderten Bedingungen wieder zu verbessern. Die zweite mögliche Antwort war und ist unter den bestehenden Machtverhältnissen schlicht irreal, nämlich der Vorrang der Verteilungsgerechtigkeit bei mässigem bis keinem oder gar negativem Wachstum mit der Konsequenz einer Schmälerung der Kapitalerträge und einer anhaltenden Einkommensnivellierung in der Gesellschaft. Also entschied sich die westliche Linke, mehr instinktiv als bewusst und getrieben durch das Schwergegewicht von Tradition und Machtverhältnissen, mangels Alternative für den Mittelweg, dafür, so weiterzumachen wie bisher, nur eben unter erschwerten Bedingungen, und das hiess, fortan ausschliesslich defensiv zu spielen und sich in einer wirtschafts- und sozialpoitischen Abwehrhaltung einzuigeln.
Seitdem haftet der westlichen Linken das öffentliche Image des Strukturkonservativismus an, während die Konservativen als die Zertrümmerer alter Strukturen und die wahrhaften Revolutionäre erscheinen. Denn die Kapitalseite entschied sich ohne Wenn und Aber für die erste Alternative, da nur so ihr zentrales Interesse an der Erhaltung der bestehenden Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum und Macht - und dies ist der eigentliche und mächtigste Strukturkonservativismus in den westlichen Gesellschaften - gesichert zu sein schien. Dies führte in der Folge auch zu einem ideologischen Paradigmenwechsel in der ökonomischen Theorie: Keynes war out und die Angebotstheorie in, denn zukünftig ging es in der ökonomischen Theorie nicht mehr vorrangig um die Gestaltung des sozialstaatlichen Klassenkompromisses zwischen Kapital und Arbeit, sondern im Gegenteil um dessen Auflösung zugunsten der Kapitalseite und um die Durchsetzung verbesserter Kapitalerträge in einem radikal veränderten ökonomischen Umfeld.
Angesichts der dramatischen Krise der siebziger Jahre hatten Kapitalertrag und damit rentierliche Investitionen nahezu unbedingten Vorrang vor Verteilungsanspruechen zu haben, und für die privaten Investitionen mussten demnach die optimalen "Angebotsbedingungen" definiert und durchgesetzt werden: Sozialer und ökologischer Minimalstaat, weitgehende gesetzliche Deregulierungen, umfassende Privatisierung, radikale
Einkommensumverteilung von unten nach oben, Steuerentlastung für die Wohlhabenden und
Transferkuerzungen für die unteren Einkommen, Haushaltsausgleich, d.h. weitgehende Sozialkürzungen, umfassende Individualisierung und Privatisierung der Lebensrisiken, ausschliessliche Orientierung der Ökonomie am Gewinn auf das eingesetzte Kapital. Konfrontation geht vor Konsens und wird somit zum neuen gesellschaftlichen Organisationsprinzip.
Die westliche Linke hat es Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre nicht vermocht, in ähnlicher Radikalität wie die Kapitalseite bei der zukünftigen Verteilung des Bruttosozialprodukts weg von der Verteilung und hin zu einem nahezu unbedingten Investitions- und Innovationsvorrang umzudenken - denn dies wäre damals (und ist es noch heute!) angesichts der Radikalität der Krise die unverzichtbare Bedingung für ihren Erfolg gewesen -, nur dass sie dies eben nicht entlang eines radikalisierten Besitzegoismus des privaten Kapitals hätte tun duerfen, sondern unter Einsatz des öffentlichen Sektors und des staatlichen Teils der Volkswirtschaft. Eine umfassende Modernisierung und Dynamisierung des gesamten öffentlichen Sektors in seiner ganzen Breite - Staatsmodernisierung, Infrastruktur, öffentliche Unternehmen und Unternehmen im öffentlichen Eigentum, Steuersystem, Bildungssystem, Gesundheitssystem, Renten und Pensionen,
Privatisierungen auf breiter Vermögensgrundlage und ein klarer Vorrang für Investitionen vor Konsumsteigerungen unter Fuehrung des öffentlichen Sektors - wäre damals die, zumindest theoretisch, einzig erfolgversprechende Antwort auf die neoliberale Revolution gewesen, denn die notwendige und unabweisbare Neuorganisation der westlichen Ökonomien nach den beiden grossen Ölpreisschocks wäre dann entlang anderer normativer Vorgaben verlaufen. Der öffentliche Sektor hätte auf diese strategische Veränderung ausgerichtet und seine Produktivität und Beweglichkeit und damit seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem privaten Sektor so nachdrücklich gesteigert werden müssen, dass er eine echte Systemalternative zur radikalen Privatisierungsideologie der heraufziehenden neoliberalen Revolution hätte werden können. Dazu ist es heute allerdings zu spät, denn die Privatisierung des industriellen Vermögens der meisten westlichen Nationalstaaten hat hier völlig veränderte Fakten geschaffen. In der Antwort auf die wachsende Massenarbeitslosigkeit als dem strategischen Kernproblem der zukünftigen Entwicklung der westlichen Gesellschaften trennte sich der Weg der angelsächsischen Welt von dem des westlichen Kontinentaleuropas. Grossbritannien und vor allem die USA haben auf diese Krise mit Preisanpassungen der Arbeit nach unten (gleich massive Reallohnsenkungen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen mit einem positiven Saldo beim Schaffen neuer Arbeitsplätze) reagiert, die westeuropäischen Volkswirtschaften mit Mengenanpassungen (also anhaltende und zunehmende Massenarbeitslosigkeit mit einem negativen Saldo beim Entstehen neuer Arbeitsplätze). Lester C. Thurow weist auf diesen negativen Saldo in Europa hin: "Das Problem in Europa ist nicht durch den Abbau von Arbeitslätzen entstanden. In den achtziger Jahren wurden in den Vereinigten Staaten monatlich 2 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet, während in Europa nur 0,4 Prozent verlorengingen. Das Problem in Europa besteht vielmehr darin, dass es zu keiner Erweiterung des Arbeitsmarktes kam. Im Saldo entstanden in Europa von 1973 bis 1993 keine zusätzlichen Arbeitsplätze. In den Vereinigten Staaten aber wurden während dieses Zeitraums unterm Strich 33 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen."
In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union addiert sich gegenwärtig die Zahl der Arbeitslosen zu der erschreckend hohen Zahl von über 18 Millionen.101 Die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes ist für die Arbeitslosigkeit in der EU durchaus beispielhaft: "Das Jahr 1974 markiert eine historische Wende auf dem Arbeitsmarkt. Seit diesem Zeitpunkt ist es nicht mehr gelungen, die Arbeitslosigkeit nach einem rezessionsbedingten Anstieg im folgenden Aufschwung wieder auf das Ausgangsniveau zurück zuführen. In der zweiten bundesdeutschen Rezession stieg sie bis 1975 auf 1,1 Millionen Arbeitslose und sank im darauffolgenden Aufschwung bis 1979 nur auf 876 000, was immer noch ein Plus von 603 000 Arbeitslosen gegenüber der Situation vor der zweiten Rezession bedeutete. Die nächste Rezession begann dann bereits auf einem hohen Anfangssockel und übertraf in der Folge zum ersten Mal wieder die hohen Arbeitslosenzahlen der unmittelbaren Nachkriegszeit: Die Arbeitslosigkeit schnellte bis 1985 auf 2,3 Millionen registrierte Arbeitslose hoch und sank - für Westdeutschland - bis 1991 trotz Einigungsbooms bei einer Arbeitslosenquote von 6,3 Prozent auf nur 1,7 Millionen. Nach kurzer Beruhigung stieg sie danach weiter dramatisch an; 1996 waren in Deutschland durchschnittlich bereits knapp 4,0 Millionen Frauen und Männer (davon 2,8 Millionen in den alten Bundesländern) als arbeitslos registriert, was einer Arbeitslosenquote von 11,5 Prozent entsprach (altes Bundesgebiet: 10,1 Prozent; neues Bundesgebiet 16,7 Prozent)..." 102 1997 erreichte die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland dann die einmalige Höchstmarke seit Bestehen der Bundesrepublik mit 4,5 Millionen und wird im Jahresdurchschnitt 1998 auf dem Niveau von 4,4 Millionen verharren.
Die eigentliche Krise des westeuropäischen Sozialstaats liegt in der anhaltenden und wachsenden Massenarbeitslosigkeit, in einer Beschäftigungskrise also, zu deren Lösung es bis heute keine überzeugende ökonomische und zugleich soziale Antwort gegeben hat. Diese Beschäftigungskrise ist keineswegs nur Ausdruck von politischem Versagen einzelner Regierungen, denn sie findet sich in allen westeuropäischen Industrieländern nahezu gleichermassen. Diese Beschäftigungskrise ist vorwiegend struktureller und nicht konjunktureller Natur, und sie ist keineswegs regional beschränkt. Zugleich liegt in ihr die eigentliche Ursache für die strukturelle Überforderung der öffentlichen Haushalte und sozialen Sicherungssysteme und der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation. In der Zeit nach 1990 hatte etwa die Bundesrepublik Deutschland den höchsten Beschäftigungsstand in ihrer Geschichte bei gleichzeitig anhaltend hoher Arbeitslosigkeit. Die strukturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit sind im wesentlichen das Ergebnis von drei langfristig wirkenden Faktoren: der Produktivitätsrevolution, der Veränderung der
Geschlechterrollen und der Globalisierung der Märkte.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der weltweiten Übernahme der kapitalistischen Marktökonomie als alleinigem und konkurrenzlosem Modell wurde zudem das weltweite Angebot an Arbeitskräften, vor allem an gering qualifizierten Arbeitskräften, dramatisch vermehrt, und dadurch erhält die Krise der Arbeit in den westlichen Industrienationen noch eine ganz andere und für die längerfristige Perspektive wesentlich bedrohlichere Dimension. Denn parallel zur Produktionsrevolution in den Ökonomien der Ersten Welt, die vor allem in den traditionellen Beschäftigungssektoren wie der Automobilindustrie unqualifizierte Arbeit durch Technik ersetzt, findet gegenwärtig eine neue Aufteilung der Märkte und damit der Investitionsentscheidungen in der globalen Weltwirtschaft statt: Ostasien, Südostasien, Lateinamerika und Osteuropa werden langfristig die ökonomischen Gewichte zu Lasten der alten westeuropäischen und nordamerikanischen Standorte verschieben und damit zu Arbeitsplatzgewinnern werden, wohingegen die alten Zentren des Kapitalismus sich mit neuen Arbeitsplätzen zu den dort vorhandenen Angebotsbedingungen für Arbeit sehr schwertun werden. Zwar wird es auf mittlere Sicht einen Angleichungsprozess bei Löhnen, Arbeits- und allgemeinen Marktbedingungen zwischen den alten und neuen Märkten geben, aber die Bedingungen für gering bis nicht qualifizierte Arbeit in der Ersten Welt werden durch diese Entwicklung erheblich nach unten gedrückt werden. Je geringer die Wertschöpfung einer Arbeit und einer Investition in der Ersten Welt, desto mehr werden die neuen globalen Marktbedingungen deren Preis und Rendite abwerten.
"Der Importdruck auf arbeitsintensive Produktionsbereiche geht in neuester Zeit vor allem von den Reformländern Mittelund Osteuropas und den Entwicklungsländern aus, während die spätindustrialisierten Länder schon seit den siebziger
Jahren hier als Wettbewerber auftreten..... Für die Zukunft
ist damit zu rechnen, dass sich der Importdruck auch bei den kapital- und wissensintensiv hergestellten Gütern verstärken wird. Insbesondere die spätindustrialisierten Länder und die mittel- und osteuropäischen Reformländer werden hier als Wettbewerber auftreten. Dies wird vor allem für "mobile Schumpeter-Industrien" gelten, also für solche Industrien, bei denen sich Forschung und Produktion leicht voneinander trennen lassen. Hierzu gehören die Chemische Industrie, die Gummiwarenindustrie, die Büromaschinenindustrie, die Datenverarbeitung und die Elektrotechnik. Während die Forschung in den Industrieländern erfolgt, wird die Produktion, insbesondere dann, wenn sie leicht standardisierbar ist, in den Schwellenländern durchgeführt werden."
Für die europäischen Arbeitsmärkte wird es also besonders für niedrig- und unqualifizierte Arbeitskräfte in Zukunft verstärkt das amerikanische Problem eines gespaltenen Arbeitsmarktes geben: je geringer die Qualifikation und je geringer die Wertschöpfung einer Tätigkeit sein wird, desto stärker werden die Verluste an Einkommen, sozialer Sicherheit und gesellschaftlichem Prestige sein. Die grossen Massenproduktionen der klassischen Kernindustrien, die Millionen von gering bis nichtqualifizierten Beschäftigten nach dem Zweiten Weltkrieg eine stabile Lebensperspektive bei steigendem Wohlstand gesichert haben, fallen in dieser Funktion mehr und mehr aus, denn gerade in diesem Bereich sind die dramatischsten Beschäftigungseinbrüche zu verzeichnen. Und die grossen Verwaltungen - Banken, Versicherungen, Firmenverwaltungen inklusive der Verwaltungen des
Staates auf allen Ebenen - werden diesem Trend zum Beschäftigungsabbau folgen. Dadurch entsteht ein Überangebot an nichtqualifizierter, gering oder falsch qualifizierter Arbeit, das die Löhne in diesem Sektor des Arbeitsmarktes stark abwertet und noch mehr abwerten wird. Die bekannte Alternative heisst dann Preis- oder Mengenanpassung, wachsender Niedrigstlohnsektor (USA) oder wachsende Massenarbeitslosigkeit (EU).
Ein staatlich finanzierter zweiter Arbeitsmarkt wird dieses riesige Problem nicht lösen können, weil er in dieser Grössenordnung schlicht nicht finanzierbar ist, sondern er wird lediglich immer nur eine die grössten Härten dämpfende und die negativen persönlichen Folgen für die Betroffenen mildernde Anpassungshilfe für strukturelle und konjunkturelle Veränderungen des ersten Arbeitsmarkts sein können. Der zweite Arbeitsmarkt finanziert sich nicht aus Marktentscheidungen und Kapitalrenditen, sondern ist steuern- und
abgabenfinanziert und wird demnach politisch entschieden. Er hängt also nicht von der Nachfrage von Märkten ab, sondern von der politisch-öffentlichen Akzeptanz seiner Kosten. Kommt es zu einer Überforderung des zweiten Arbeitsmarktes, indem man versucht, ihm angesichts der immer grösser dimensionierten Krise der Arbeitslosigkeit mit der Abwehr von deren unerwünschten Folgen zu überlasten, so wird man diesen sozial und ökonomisch unverzichtbaren und leistungsfähigen zweiten Arbeitsmarkt in seiner Akzeptanz und damit in seiner Kernfunktion der "weichen Anpassung" des ersten Arbeitsmarktes an Strukturwandel und Konjunkturzyklen gefährden. Und wenn manche Linke die so sehnsüchtig vermisste sozialistische
Gegenmacht im Kapitalismus im ausschliesslich von politischen Entscheidungen und Transfers abhängigen zweiten Arbeitsmarkt zu erkennen glauben, den man deshalb unter Einsatz von immer mehr Steuermitteln und höheren Abgabenlasten ausbauen müsse, so werden sie angesichts der Radikalität des ökonomischen Strukturwandels in Europa erneut ein bitteres Erwachen erleben, denn der zweite Arbeitsmarkt hängt von der Finanzkraft der öffentlichen Haushalte ab, und diese wiederum von der Ertragsstärke der Wirtschaft. Die Entwicklung des ersten Arbeitsmarktes wird also auch weiterhin den zweiten Arbeitsmarkt bestimmen und nicht umgekehrt. Das ist und bleibt so im Kapitalismus.
Man sieht, die Wachstumsfrage gewinnt bei einer genaueren Analyse der Krise der Arbeit eine überragende und dabei doch alles andere als unproblematische Bedeutung. Denn selbst wenn man ein dynamisches Wachstum der europäischen Volkswirtschaften über mehrere Jahre hinweg und oberhalb von 3 Prozent des BIP (Bruttoinlandsprodukt) annimmt, was allgemein neben den notwendigen strukturellen Reformen des Arbeitsmarktes als eine unverzichtbare Voraussetzung zum Anstieg der Beschäftigung behauptet wird, wird der Arbeitsmarkt sich weiter qualitativ verändern: weg von gutbezahlten Tätigkeiten in den industriellen Kernunternehmen hin zu mehr oder weniger prekären Beschäftigungsverhältnissen in mittleren und kleinen, ja kleinsten Unternehmen im Dienstleistungssektor. Der qualitative Strukturwandel des Arbeitsmarktes ist allerdings weitgehend wachstumsunabhängig und eine direkte Folge der Grosstrends von Globalisierung, Individualisierung und Tertiarisierung.
Diese Entwicklung lässt sich an dem Verhältnis von Norm- zu Nicht-Normarbeitsverhältnissen verdeutlichen: "Von 1980 bis 1995 (sank) der Anteil von abhängig Beschäftigten in Normarbeitsverhältnissen von 80 Prozent auf etwa 68 Prozent. Noch Anfang der siebziger Jahre standen einem Nicht-Normbeschäftigten fünf
Normbeschäftigte gegenüber. Anfang der achtziger Jahre lag das Verhältnis bei eins zu vier, Mitte der achtziger Jahre bereits bei eins zu drei. Mitte der neunziger Jahre lag es bei eins zu zwei. Bei Fortschreibung dieses Trends wird das Verhältnis von Norm- und Nicht
Normarbeitsverhältnissen in fünfzehn Jahren bei eins zu eins liegen. Nur die Hälfte der abhängig Beschäftigten hätte dann noch dauerhafte arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Vollzeitarbeitsplätze." Diese nüchternen Zahlen offenbaren das ganze Ausmass des qualitativen Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft, der sich in den kommenden Jahren eher noch beschleunigen denn verlangsamen wird, und in diesem langfristigen Wandel des Arbeitsmarktes hin zu Nicht-Normarbeitsverhältnissen liegt, neben der demographischen Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, auch eine der drei Hauptursachen für die Krise des öffentlichen Rentensystems begründet.
Da also nennenswerte Zuwächse des Beschäftigtenpotentials in der Grossindustrie nicht zu erwarten sind, sondern vielmehr das genaue Gegenteil, bleibt demnach allein der tertiäre Sektor und der Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, der Beschäftigungszuwächse verspricht. Allein die weitere Öffnung des Marktes für die sogenannten kleinen Dienstleistungen mit geringfügig bezahlten und meistens prekären Beschäftigungsverhältnissen scheint demnach neben Qualifizierungserfolgen eine Alternative zur Langzeitarbeitslosigkeit sein zu können. Aber auch diese Entwicklung birgt für die europäischen Gesellschaften, neben erheblichen sozialpolitischen und moralischen Einwänden - Lohndumping und arbeitende Arme, deren Verdienst unter dem Existenzminimum liegt -, ein nicht unerhebliches strukturelles Risiko. Wenn Lester C. Thurow mit seiner pointierten These auch nur in Ansätzen recht behält - und alle Fakten sprechen dafür -, dass in Zukunft in einer globalisierten Welt auch in den reichen westlichen Volkswirtschaften "Arbeitnehmer, die über Fertigkeiten der Dritten Welt verfügen, Löhne der Dritten Welt verdienen", dann werden die europäischen Arbeitsmärkte ein zusätzliches politisches Problem hervorbringen, das das solidarische Selbstverständnis der verschiedenen europäischen Nationalgesellschaften erheblich erschüttern wird.
Die Massenarbeitslosigkeit verursacht ökonomische Stagnation und erreicht die Akzeptanzgrenzen der staatlichen Finanzierbarkeit, ein wachsender Niedrigstlohnsektor allerdings wird in Europa ein dauerhaftes politisches und demokratisches
Stabilitätsproblem hervorbringen. Die Europäer werden mit den Mitteln staatlicher Finanzierung den hier beschriebenen Trend des Arbeitsmarktes nicht wirklich umkehren können, und deshalb bleibt die alles entscheidende Frage, ob Europa mit einer Politikmischung aus marktnäherer Qualifizierung, verstärkter Teilzeit und Kombilöhnen für Langzeitarbeitslose (bestehend aus der Kombination von Lohn und Sozialtransfers) diesen Trend zum Niedrigstlohnsektor sozialverträglicher als die USA gestalten kann. Ohne jeden Zweifel wird eine solche Politik teurer werden als die blosse Privatisierung des individuellen Anpassungsrisikos an veränderte Märkte, wie es in den USA geschieht, und auch deshalb wird der Frage der Finanzkraft des Staates und damit dem Wachstum der Wirtschaft, auf der diese Finanzkraft strukturell beruht, eine entscheidende, angesichts der absehbaren ökologischen Wachstumsfolgen allerdings hochproblematische Bedeutung zukommen.
Esentwickelt sich unausweichlich eine wachsende globale Konkurrenz der Arbeitsmärkte, verstärkt noch durch Währungsungleichgewichte und die Besonderheiten regionaler Märkte, die immer mehr Unternehmen zu marktnahen Investitionen, d.h. zu Kapitalexport statt dem Export von Gütern und Dienstleistungen veranlassen. Die Produktion zieht den neuen Märkten hinterher, und diese Tatsache wird auf die Arbeitsmärkte in der Ersten Welt in Zukunft noch verstärkt negative Auswirkungen haben. Die Zeit der exportorientierten verlängerten Werkbank Westeuropa für weite Teile der Welt geht langsam zu Ende, denn unter dem Druck der Faktoren Marktnähe, Kostenkonkurrenz und Währungsrisiken globalisieren alle grossen Unternehmen, d.h. aber, sie bauen kontinuierlich Arbeitsplätze in erheblichen Grössenordnungen in den alten Märkten zugunsten der neuen Märkte ab. Spätestens seit 1989/90 droht daher das westeuropäische Modell der Mengenanpassung der Arbeit mit der staatlichen Finanzierung hoher Arbeitslosigkeit an der Finanzierungsschere in die Knie zu gehen, denn die Arbeitslosenzahlen laufen den staatlichen
Finanzierungsmöglichkeiten der Arbeitslosigkeit davon.
Die Einnahmeseite der gesetzlichen Versicherung gegen Arbeitslosigkeit bricht weg, mit den Steuereinnahmen geht es ebenso, und gleichzeitig nimmt die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld und anderen Transferzahlungen, die zur Milderung der individuellen Folgen von Arbeitslosigkeit dienen, dramatisch zu. Die Defizite der öffentlichen Haushalte explodieren angesichts der Schere von wegbrechenden Steuereinnahmen und zunehmenden Transferzahlungen für die beständig wachsende Zahl von Arbeitslosen. Blosse Umbuchungen innerhalb der öffentlichen Haushalte tragen dabei nur zur Kosmetik des Defizits einer staatlichen Ebene und Kasse zu Lasten einer anderen bei, denn die Menschen ohne Einkommen verschwinden ja nicht. Die Einschränkung der Bezugszeiten von Arbeitslosengeld etwa führt so bei einem anhaltenden Anstieg der Massenarbeitslosigkeit nicht zu einer Entlastung der öffentlichen Haushalte, denn jeder Arbeitslose, der nicht mehr aus der Arbeitslosenversicherung finanziert wird, bezieht fortan Sozialhilfe und wird demnach nur auf eine andere Kostenstelle in einem anderen öffentlichen Haushalt umgebucht. An der dramatisch anwachsenden gesamtstaatlichen Belastung der öffentlichen Haushalte ändert dieser Vorgang überhaupt nichts.
Die mit den Ölpreiskrisen der siebziger Jahre begonnene lange Phase des "Reengineering" , des Umbaus der westlichen Volkswirtschaften, hat darüber hinaus noch andere Folgen für das Verhältnis von Kapital und Arbeit: Die mit einem technologischen Quantensprung einhergehende Produktivitätsrevolution erschüttert die Rolle der Erwerbsarbeit im Wirtschaftsprozess und damit auch in der Gesellschaft. Zudem entwickelt sich in allen westlichen Volkswirtschaften immer stärker der Trend hin zur Wissensgesellschaft, das heisst: Es findet eine zunehmende Verlagerung der Wertschöpfung auf die symbolische Ebene des Wissens und der ideellen Kreativität statt, und dieser Trend wird die Krise der traditionellen Erwerbsarbeit noch weiter verschärfen.
Die Entnationalisierung des Kapitals durch die Globalisierung zerbricht die jeweilige nationale Klammer zwischen Kapital und Arbeit zuerst ökonomisch und dann auch gesellschaftlich. Robert Reich beschreibt jene, bis in die achtziger Jahre hinein geltende traditionelle Auffassung, "dass wir alle in einem grossen Boot namens Volkswirtschaft sitzen. Natürlich gibt es auf dem Boot oder Schiff verschiedene Einkommenshöhen - einige Passagiere bewohnen geräumige Einzelkabinen, während andere sich auf dem Zwischendeck drängeln -, doch alle zusammen steuern wir in die gleiche Richtung. Die Yrmsten und Reichsten und alle, die sich dazwischen befinden, erfreuen sich der Wohltaten einer blühenden Volkswirtschaft ebenso, wie sie unter den Folgen einer volkswirtschaftlichen Flaute zu leiden haben................ Die
Metapher lässt sich auch auf andere Boote übertragen: auf die japanische, die deutsche, die südkoreanische und jede andere Volkswirtschaft der Welt." Aber Robert Reich kommt angesichts der jüngsten Entwicklung hin zur Globalisierung zu der Schlussfolgerung: "Die Klarheit und Eingängigkeit dieser Vorstellung sind deren einzige Tugenden. Das Problem ist: Sie stimmt hinten und vorne nicht".
Die Bevölkerungen der jeweiligen nationalen Volkswirtschaften sitzen im Zeitalter des Globalismus eben nicht mehr in demselben nationalen "Boot" . Eine neue Zweiteilung der westlichen Gesellschaften nimmt zunehmend Gestalt an, denn der soziale Konsens der nationalen Volkswirtschaften droht durch die Globalisierung auch deshalb verlorenzugehen, weil sich nicht nur das Kapital, sondern auch die Träger dieses Prozesses, die sozialen "Gewinner" -Schichten und - personen dieser Entwicklung, internationalisieren und von ihrer jeweilige nationalen Grundlage abzulösen beginnen. Aus unterschiedlichen Klassen in einer Gesellschaft drohen verschiedene Gesellschaften zu werden, die zwar noch in demselben Land, in derselben Region und in derselben Stadt leben und arbeiten, aber kulturell und normativ in völlig unterschiedlichen Zeit- und Raumdimensionen zu Hause sind und zunehmend auch unterschiedliche politische Loyalitäten entwickeln werden.
Die westlichen Gesellschaften und ihre Ökonomien teilen sich also wirtschaftlich mehr und mehr in einen globalisierten, internationalisierten Teil auf, der hochproduktiv, hochkreativ, hochbezahlt und sehr mobil ist, und in einen nationalen Teil, der unter dem Druck der globalen Standortkonkurrenz zunehmend wirtschaftlich zurück fällt bis hin in Dauerarbeitslosigkeit und wirkliche Armut. Dieser nationale Teil der sich globalisierenden westlichen Volkswirtschaften umfasst nahezu ausschliesslich die Modernisierungsverlierer, zu denen immer mehr auch Teile der kleineren Unternehmer und Selbstständigen gehören werden, und droht politisch zum Wählerpotential für rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien zu werden. Darin liegt besonders in Europa ein hochgefährliches Potential, das bei einem absehbaren Versagen der neoliberalen Modernisierung noch zu bedrohlichen Chaosreaktionen in der Lage sein wird, vor allem wenn sich in einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise Teile der gesellschaftlichen Mitte radikalisieren sollten. Robert Reich unterteilt nun den sich durch die Globalisierung strukturell verändernden Arbeitsmarkt der USA nicht mehr nach den tradierten Hauptberufsgruppen, sondern in drei neue Kategorien: "routinemässige Produktionsdienste", "kundenbezogene Dienste" und "symbolanalytische Dienste".Interessant dabei ist nun, dass sich die ökonomischen Gewinner unter den Erwerbstätigen auf dem sich globalisierenden neuen Arbeitsmarkt fast ausschliesslich im Sektor der Symbolanalytiker wiederfinden, während alle anderen Erwerbstätigen mehr oder weniger stark unter den Druck von Einkommens- und Statusverlusten geraten sind.
Diese Transformation des Arbeitsmarktes ist auch das Ergebnis tiefgreifender Veränderungen in der Organisation und Struktur der Unternehmen selbst, nicht allein von technologischen Umwälzungen. Die neuen Unternehmen sind in der Regel kleiner, flexibler und in weitaus "flacheren" Hierarchien organisiert, und auch die grossen Unternehmen der alten Industrien gehen mehr und mehr dazu über, ihre Konzerne in selbständige kleinere Einheiten zu zerlegen, die nur noch unter dem Dach einer Holding mit der Mutter zusammengefasst sind. Auch die wirtschaftlichen Führungseliten werden nach den neuen Erfordernissen in diesem neuen Unternehmenstypus ausgerichtet: "Das formelle Organisationsschema hat nur noch wenig Bezug zu den wahren Quellen der Macht im Qualitätsunternehmen. Diese hängt nicht von formeller Machtbefugnis oder Stellung ab (wie im Unternehmen der Massenproduktion), sondern von der Fähigkeit, dem
Unternehmensnetz einen Wertzuwachs zu bescheren. Problem-Löser, -Identifizierer oder Mittelsmänner üben Führerschaft aus, indem sie die Möglichkeiten schaffen, durch die auch andere zur Wertschöpfung beitragen können. Auf diese Weise bilden sich Führungskräfte heraus. Überall lässt sich dieser Prozess verfolgen: in den High-Tech-Firmen von Silicon Valley, den Unternehmenssuiten im Zentrum von Manhattan, den Filmstudios von Hollywood, den Werbeateliers in der Madison Avenue, in Anwaltskanzleien, Beratungsfirmen, Investmentbanken, Verlagshäusern, Ingenieurbüros, Rundfunksendern, Public-Relations-Agenturen, LobbyingFirmen und so weiter
An der Peripherie, wo sich früher nur wenige Fäden schnitten, entwickeln sich neue Netze um Gruppen herum, die am meisten Wert schaffen und die talentiertesten Mitarbeiter an sich ziehen." Der Arbeitsmarkt in den reichen westlichen Ländern durchläuft weitere qualitative Veränderungen, die zu einer beständigen Abnahme von Vollerwerbsarbeitsplätzen führen. Die Produktivitätsrevolution führt zu dem beständigen Ersatz von Arbeit durch Technik, d.h. der wirtschaftliche Aufschwung der reifen Industrien, die früher die grossen Arbeitsplatzbringer waren, wie in der Chemie, der Automobilindustrie, der Elektroindustrie, dem Maschinenbau etc., hat sich nicht nur seit längerem vom Arbeitsmarkt abgekoppelt, sondern ihre Rentabilität ist im Gegenteil mittlerweile negativ aneinander gekoppelt. Die Freisetzung von Arbeitnehmern durch permanente Produktivitätssteigerungen ist zur Voraussetzung ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit und ihrer Ertragsfähigkeit geworden. Diese negative Koppelung von
Produktivitätssteigerung und Arbeitslosigkeit wird in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs zwar gedämpft, schlägt aber in Phasen des Abschwungs regelmässig mit einem anwachsenden Sockel der Arbeitslosigkeit durch und wirkt, sofern bei kleinen und mittleren Unternehmen und in neuen Industrien oder Märkten nicht zusätzliche Beschäftigung geschaffen wird, anhaltend strukturell negativ auf die Volkswirtschaft.
Hinzu kommt eine erhebliche Steigerung der Nachfrage nach Arbeitsplätzen, denn das Aufbrechen der traditionellen Frauenrolle lässt immer mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen. Mit der voranschreitenden Gleichstellung der Geschlechter wird das de facto männliche Beschäftigungsmonopol der Vergangenheit in Frage gestellt und überwunden, was aber ganz praktisch zu einem vergrösserten Angebot an Arbeit führt. Auch wenn es immer noch vor allem gering qualifizierte Frauen sind, die die Hauptlast der konjunkturellen und strukturellen Beschäftigungseinbrueche zu tragen haben, so ist diese Entwicklung der Geschlechtergleichstellung in der Gesellschaft und damit auch auf dem Arbeitsmarkt unumkehrbar und wird sich bereits auf mittlere Sicht auch in den oberen Bereichen des Arbeitsmarktes durchsetzen. Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen auf allen Ebenen der Volkswirtschaft hat dadurch aber erheblich zu- und nicht abgenommen, und das wird langfristig auch so bleiben.
In der technisch und organisatorisch bedingten Produktivitätsrevolution verknüpfen sich die qualitativen und quantitativen Veränderungen des Arbeitsmarktes, d.h. neue Qualitäten von Technologie-, Material- und Personaleinsatz in der Wirtschaft führen zu einem Verlust an Arbeitsplätzen, so dass der vorhandene Bestand an Arbeitsplätzen durch diese Produktivitätsrevolution, sofern nicht in ausreichender Zahl neue Arbeitsplätze geschaffen werden und der Produktivitätsgewinn wenigstens teilweise in Form von Arbeitszeitverkürzungen weitergegeben wird, kontinuierlich abnehmen muss. Wenn dann noch die Nachfrage nach Arbeitsplätzen gleichbleibt oder gar steigt und zudem neue Standorte Beschäftigung durch Verlagerung von Produktionen und vor allem Investitionen abziehen, ohne dass diese neuen Märkte durch ihre Nachfrage einen entsprechenden Exportausgleich schaffen, so ist eine kontinuierlich sich vermehrende Zahl von Arbeitslosen die unabweisbare Folge, vor allem, wenn dieser Trend noch durch eine allgemeine technologisch-ökonomische und meist auch kulturell bedingte Erneuerungsschwäche verstärkt wird. Eine wirtschaftliche Produktivitätssteigerung muss dabei per se überhaupt nichts Schlechtes sein, sondern erhält meistens im Gegenteil durch die Marktkonkurrenz ansonsten gefährdete Arbeitsplätze. Erst in Verbindung mit der mangelnden Erneuerungsdynamik einer Volkswirtschaft, die keine neuen Märkte durchsetzt und folglich auch in einem negativen Saldo von verlorenen und neugeschaffenen Arbeitsplätzen hängenbleibt, wird aus der ökonomisch notwendigen Produktivitätssteigerung die Falle der strukturellen Massenarbeitslosigkeit. In genau dieser Lage befinden sich heute die meisten westeuropäischen Volkswirtschaften.
In Deutschland hat die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze allein in den wenigen Jahren von 1993 bis 1996 von 35,2 auf 34,5 Millionen Arbeitsplätze (Erwerbstätige) abgenommen, während die Zahl der nachgefragten Arbeitsplätze mit 41,8 Millionen (Erwerbspersonenpotential) konstant blieb. Die Grösse des Fehlbetrags an Arbeitsplätzen nahm demnach von 6,6 Millionen auf 7,3 Millionen zu (Arbeitslose, stille Reserve, Vorruhestand, Fortbildung und Umschulung).116 Das aktuelle Beispiel der deutschen Automobilindustrie wurde bereits weiter oben zitiert,117 die mit 4,7 Millionen produzierten Kraftfahrzeugen in 1997 fast ihren Höchststand von 1992 mit 4,9 Millionen wieder erreicht hat, nur dass sie mittlerweile 100 000 Arbeitnehmer weniger beschäftigt. Eine gleichbleibende oder gar abnehmende Zahl von Beschäftigten produziert dank der permanenten Produktivitätsrevolution immer mehr an Gütern und Dienstleistungen: "...die Arbeitsmenge, mit der das jeweilige Bruttoinlandsprodukt in Westdeutschland in den vergangenen 25 Jahren erstellt wurde, (ist) seit 1970 rückläufig. Mit rund 80 Prozent der Arbeitsmenge von 1970 konnte 1995 ein reales Bruttoinlandsprodukt von 165 Prozent (1970 = 100) erwirtschaftet werden. Alles spricht dafür, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird."
Die Produktivitätsrevolution in den westlichen Volkswirtschaften bringt allerdings nicht nur den Ersatz von Arbeit durch Technologie mit sich, sondern zugleich eine Neuorganisation des Einsatzes von Kapital und Arbeit in den alten Kernindustrien, deren Output durch die Mobilisierung vorhandener Produktivitätsreserven wesentlich effizienter gestaltet wird. Bisher hatten wir es bei der Analyse der Globalisierung und ihrer Auswirkung auf die Arbeitsmärkte der Ersten Welt vor allem mit dem ökonomischen Abstieg, dem "downsizing" des Faktors Arbeit zu tun. Die in den späten siebziger Jahren von
Japan ausgehende Neuorganisation der industriellen Arbeit, vor allem in der Massenfertigung hochwertiger Güter, bedeutete aber eine Aufwertung des Faktors Arbeit, auch wenn diese Aufwertung keineswegs mit einer Aufwertung des Preises und der makroökonomischen Rolle des Faktors Arbeit einherging. Angesichts der gegenläufigen Trends von Rationalisierung, ökonomischer Stagnation und eines anhaltenden, ja zunehmenden Über angebots an Arbeit hatte diese Aufwertung industrieller Arbeit für die betroffenen Beschäftigten nur den Vorteil des Erhaltes des Arbeitsplatzes, wenn überhaupt.
Dennoch ist diese qualitative Veränderung der Rolle des industriellen Arbeitnehmers im Produktivitätswettlauf der Märkte gesellschaftlich von sehr grosser Bedeutung, da sie einerseits den Arbeitsmarkt der westlichen Volkswirtschaften qualitativ radikal verändern wird und zugleich eine positive Antwort auf die strukturellen Veränderungen der Globalisierung in der Ersten Welt beinhalten kann. Wir werden später darauf zurück kommen. Die Neuorganisation der Arbeit in den alten Kernindustrien der zweiten industriellen Revolution, wie dem Maschinenbau, der Elektrotechnik und dem Automobilbau, hat nun in Verbindung mit der aus der Globalisierung hervorgehenden neuen Macht der Märkte die Rolle der abhängigen Arbeit im Kapitalismus und damit das Verhältnis von Kapital und Arbeit grundlegend verändert: "Der frühe Kapitalismus war auf Ausbeutung von Arbeit, der heutige ist auf Ausbeutung von Verantwortung ausgelegt. Früher mussten die Kollegen den Arbeitsgegenstand, jetzt müssen sie das Betriebsergebnis mitgestalten. Früher mussten sie nur mitarbeiten, jetzt müssen sie mitdenken und mitzittern.
Früher wurden sie dem Fertigungsprozess als weiteres Maschinenrad, jetzt wird der Fertigungsprozess ihrem Engagement untergeordnet. Die stets prekäre und Widerstand provozierende Fremdausbeutung wird durch das Abschöpfen von prinzipiell grenzenloser Selbstausbeutung ersetzt."
Diese Entwicklung ging Ende der siebziger Jahre von Japan aus, wo mittels neuer Management- und Organisationstechniken die Produktivität vor allem in der Massenproduktion hochwertiger Industrie- und
VerbrauchsGüter entscheidend gesteigert werden konnte, und zwar einerseits durch ein neues Verhältnis des Unternehmens zu seinen Mitarbeitern und andererseits durch eine Auslagerung ("outsourcing") zahlreicher Tätigkeiten aus dem Kernunternehmen zu Zulieferbetrieben bei gleichzeitigem Senken der Preise und damit Kosten durch den Quasi-Monopolabnehmer. Die traditionelle Arbeitsorganisation der Massenfertigung misstraute den Beschäftigten, reduzierte diese auf wenige Handgriffe, unterdrückte nahezu jegliche Eigeninitiative als systemwidrig und kontraproduktiv und errichtete zur Aufrechterhaltung dieser radikalen Arbeitsteilung ein teures Überwachungs- und Kontrollsystem von Aufsehern und Zeitnehmern. Unternehmen und Beschäftigte standen sich im industriellen Fertigungsprozess als Gegner gegenüber, und entsprechend waren die Fabriken organisiert. Die japanische Managementrevolution der siebziger Jahre machte mit dieser Aera der kapitalistischen Massenproduktion Schluss. Die Kreativität und Intelligenz auch der gering qualifizierten Mitarbeiter in den Fabrikhallen wurden als die entscheidende Produktivitätsund Qualitätsressource entdeckt und in den Mittelpunkt dieser Neuorganisation gestellt. Arbeit in der industriellen Massenfertigung wurde nun auch in einem qualitativen Sinne verstärkt zu "Humankapital". Die Bänder wurden aufgelöst, qualitätsorientierte Arbeitsgruppen traten an die Stelle stumpfsinniger Fliessbandarbeit, und von den Mitarbeitern wurde verlangt, dass sie nicht nur ihre körperliche Kraft und ihr handwerkliches Geschick auf Zeit dem Unternehmen gegen Bezahlung zur Verfügung stellten, sondern dass sie sich faktisch wie Selbständige, die für den eigenen wirtschaftlichen Erfolg arbeiten, gegenüber dem Unternehmen verhielten und damit auch ihr ganzes geistiges und intellektuelles Know-how zur Verbesserung des Outputs des Unternehmens zur Verfuegung stellten.
"Künftige Arbeiter haben nicht für Fleiss und Korrektheit, sondern für das Resultat einzustehen. An Stelle ihrer Arbeitskraft bieten sie die Früchte ihrer Arbeit an oder legen, wie Freiberufler oder Treuhänder, ihrem Auftraggeber über ihre Ergebnisse Rechenschaft ab. Ihre Arbeitszeit wird dem geschuldeten Arbeitsprodukt folgen, nicht mehr umgekehrt. Nach Überstunden wird nicht mehr gezählt, nur noch nach dem vertretbaren Abgaberhythmus. Noch der einfachste Arbeitnehmer wird zum Lieferantenbetrieb. Das mag für die meisten Lohnabhängigen noch Zukunftsmusik oder, besser gesagt, schrilles Zukunftsgetöse sein, aber das ändert nichts daran, dass es schon sehr laut herüberschallt." Die Transformation von der Arbeitnehmer- zur
"Unternehmergesellschaft" oder auch zur "unternehmerischen Wissensgesellschaft" kündigt sich an, auch wenn es sich dabei um eine recht merkwürdige Form von "Unternehmertum" handelt, nämlich um Unternehmer ohne Eigenkapital. "Das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge" wird allerdings nur das Leitbild einer sozialpolitischen Konterrevolution abgeben, wenn die Eigentumsfrage ausgeklammert bleibt. Unternehmertum ohne Eigenkapital ist nur eine mühselig kaschierte Form von nackter Ausbeutung.
Solange es Kapitalismus gibt - gleichgültig, ob er nun pur, staatskapitalistisch oder sozialstaatlich organisiert ist -, bleibt die Eigentumsfrage die entscheidende soziale Frage. Wem gehört der produzierte Reichtum? Und wie wird er verteilt? Der demokratische Sozialstaat hat auf die Verteilungsfrage im Kapitalismus eine Antwort gefunden, die "unternehmerische Wissensgesellschaft" steht hier noch im Obligo. Denn es gibt im Kapitalismus immer noch den entscheidenden Unterschied zwischen der "wirklichen" und der "scheinbaren" Selbständigkeit: Der Selbständige engagiert sich total mit all seinem Können und ohne Rücksicht auf seine Kräfte für seinen eigenen Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg.
Harte Arbeit bis hin zur Selbstausbeutung jetzt dient der Kapitalbildung, deren Erfolg morgen entsprechende Vermögenskompensationen für das Über mass an Anstrengung und Selbstausbeutung bringen soll. Für die "neue Selbständigkeit" in den Fabriken und Dienstleistungsunternehmen gilt meistens nichts dergleichen. So "zersetzt der Markt die alte 1Belegschafti und substituiert sie durch ein feingesponnenes, aber reissund schlagfestes Konglomerat von UnternehmerKonkurrenten".
In Japan gab es nun für die Belegschaften der exportorientierten Grossunternehmen quasi ein
Selbständigkeitsäquivalent. Dort basierte die Neuorganisation des Verhältnisses von Arbeit und Kapital in der grossen Industrie auf einem besonderen Vertrag, den es so nur in Japan gab: die lebenslange Beschäftigungsgarantie durch das Unternehmen. Faktisch wurden die Belegschaften durch diese Garantie lebenslanger Beschäftigung zu Teilhabern des Unternehmens, nur eben nicht in der Form von Kapitalanteilen, sondern durch die Arbeitsplatz- und damit Einkommensgarantie. Unter dem Druck der globalen Exporterfolge Japans in den achtziger Jahren wurde das japanische Produktivitätsmodell in allen westlichen Ländern übernommen, allerdings nur in seinem ersten Teil und ohne die lebenslange Beschäftigungsgarantie. Das japanische Modell hatte allerdings auch eine schlimme Schattenseite, nämlich eine gespaltene Volkswirtschaft, bestehend aus einer mit hohen Einkommen und hoher sozialer Sicherheit ausgestatteten, stark auf den Export ausgerichteten Erstweltökonomie und einer mit erbärmlichen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und kaum sozialen Sicherheiten arbeitenden Drittweltökonomie der kleinen und kleinsten Zulieferbetriebe. Das kostendrückende "outsourcing" ganzer Tätigkeitsbereiche aus den grossen Unternehmen fand vor allem in diesen Bereich hinein statt. Insofern erwies sich im japanischen Modell die
Beschäftigungsgarantie in den grossen Exportunternehmen zugleich als Ausschlussinstrument gegenüber den Beschäftigten im Sektor der Armutsökonomie, die kaum eine Veränderungsmöglichkeit hatten. Mittlerweile ist aber das japanische Modell insgesamt in eine strukturelle Krise
geraten, da bei sinkenden Erträgen und erheblich abgeflachtem Wachstum der japanischen Volkswirtschaft in den neunziger Jahren die lebenslange Beschäftigungsgarantie in der exportorientierten Erstweltökonomie nicht mehr durchzuhalten sein wird.
Von den USA ging nahezu parallel zu der japanischen Managementrevolution eine diametral entgegengesetzte Entwicklung auf den Arbeitsmärkten aus, die sich mit der von Japan herkommenden Veränderung allerdings in einem entscheidenden Punkt verband, nämlich im Vorrang einer neuen "Selbständigkeit" abhängiger Arbeit gegenüber dem traditionellen Lohnarbeitsverhältnis. Allerdings zielte die amerikanische Auflösung dieses Verhältnisses nicht zuerst auf eine Produktivitätssteigerung industrieller Arbeit (was faktisch ja eine Stärkung der verbleibenden industriellen Arbeit im Produktionsprozess qualitativ hochwertiger Massengüter bedeutet hätte), sondern vielmehr auf eine Steigerung der Kapitalproduktivität durch eine dramatische Verbilligung der industriellen Arbeit.
Diese Auflösung der traditionellen, korporatistisch durch Gesetze und Tarifverträge geschuetzten industriellen Arbeitsmärkte vollzog sich zu Beginn der achtziger Jahre am schnellsten und radikalsten in den USA und Grossbritannien. An Stelle des gut bezahlten, sozialversicherten und tarifvertraglich abgesicherten Dauerarbeitsplatzes in einem der grossen Unternehmen der Industrie oder in einer der grossen Verwaltungen traten die verschiedenen Formen von geringfuegiger Beschäftigung und Scheinselbständigkeit, von Teilzeit, Leiharbeit und Zeitarbeit. Und all diesen
Beschäftigungsverhältnissen ist das eine gemeinsam, nämlich dass sie meistens nicht dauerhaft sind, sozial zudem wenig bis gar nicht abgesichert und in der Regel erheblich geringer bezahlt werden. Parallel dazu vollzog sich der Abbau von Industriearbeitsplätzen und der Aufbau von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor, die meistens den oben dargestellten prekären und sozial ungesicherten Jobs entsprechen. Man kann angesichts des Umfangs und der Tiefe dieser Umwälzung des traditionellen Arbeitsmarktes deshalb zu Recht von einem "neuen Arbeitsmarkt" sprechen, der zwar den Flexibilitätserwartungen einer auf Höchstproduktivität und Höchstrentabilität ausgerichteten globalisierten Wirtschaft entspricht, zugleich aber die Risiken, die Lasten und die Kosten dieser Transformation im wesentlichen allein bei den Beschäftigten ablädt.
Die USA und Grossbritannien sind bei dieser qualitativen Veränderung des Arbeitsmarktes bereits sehr viel weiter als Kontinentaleuropa, aber auch in den kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften innerhalb der EU ist dieser Umwälzungsprozess hinzu einem neuen Arbeitsmarkt bereits voll im Gange. Der alte Arbeitsmarkt zeichnet sich nach wie vor durch dramatische Verluste an Arbeitsplätzen aus, während ein Zugewinn an Arbeitsplätzen im wesentlichen nur noch unter den Bedingungen des neuen Arbeitsmarktes zu verzeichnen ist. Diese Entwicklung hin zu einer gespaltenen Ökonomie und damit auch zu einem gespalte- nen Arbeitsmarkt wird unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus in den westlichen Ländern zunehmend zur Regel werden und dabei die Arbeitswelt und mit ihr die Gesellschaften tiefgreifend verändern. Die Erwerbstätigen der in der
Vergangenheit mehr oder weniger homogenen Arbeitsgesellschaften der zweiten industriellen Revolution werden "in einer bisher nicht gekannten Weise in Gewinner und Verlierer aufgesplittet werden. Parallel zur Demokratisierung des Kapitalistenstatus wird die (gewiss schon jetzt alles andere als homogene) Arbeitnehmerschaft endgültig zwischen aristokratisierenden und plebejisierenden Trends zerrissen."
Die sich globalisierenden Ökonomien der westlichen Welt entledigen sich also mehr und mehr der klassischen Lohnarbeit und damit auch jenes Gesellschaftsvertrages, der diesem Verhältnis seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugrunde liegt. Die Beschäftigten in diesem neuen Kapitalismus werden zunehmend als Unternehmer behandelt, d.h. sie werden aus der Sicherheit kollektiver Arbeitsverträge in die Vereinzelung des Wettbewerbs von scheinbar Selbständigen entlassen, nur dass sie dabei auf nahezu aussichtslose Wettbewerbsbedingungen treffen. Ihre lichte Zukunft erinnert dabei an die finsterste Vergangenheit, denn ihr Schicksal ähnelt dem jener leibeigenen und zugleich landlosen Bauern in Europa vor 200 Jahren, die nach ihrer gesetzlichen Freilassung ohne Land, Werkzeuge und Saatgut und mit nichts als ihrer Arbeitskraft dastanden und sich als Tagelöhner und später als ungelernte Lohnarbeiter in der entstehenden grossen Industrie der Städte verdingen mussten.
Statt Eigenkapital bleibt nach der modernen Entlassung des Lohnarbeiters in die Freiheit der Selbständigkeit nach wie vor nur die eigene Arbeitskraft, allein deren Rechtsform hat sich geändert. Diese "Scheinselbständigkeit" hilft den Unternehmen,
Lohnkosten und Sozialabgaben zu sparen, also Kosten zu Lasten des Sozialstaates zu senken, aber faktisch läuft diese Entwicklung meistens lediglich auf eine gesteigerte Form von Ausbeutung, nämlich auf die Selbstausbeutung ohne Chance zur Kapitalbildung hinaus. Der proletarisierte Unternehmer löst den Lohnarbeiter oder Angestellten ab, und dies ist kein Fortschritt und schon gar keine Emanzipation des Erwerbstätigen, sondern vielmehr ein gewaltiger Rückschritt. Damit taucht eine neue soziale Frage auf, nämlich ob diese Entwicklung in einer neuen Ausbeutungsform enden wird, oder ob, und wenn ja, wie und in welcher Form aus dieser Scheinselbständigkeit proletarisierter Unternehmer eine wirkliche
Selbständigkeit entstehen kann, d.h. eine wirkliche Vergesellschaftung der Unternehmerrolle.
Dies ist eine politische Frage und nur an zweiter Stelle eine Frage der Ökonomie. Denn ein Zurück zu dem alten Normarbeitsverhältnis als dem gesellschaftlich
dominierenden Arbeitsverhältnis wird es kaum geben, da dessen materielle Bedingungen in den westlichen Volkswirtschaften prekär geworden oder zum Teil schon völlig weggebrochen sind. Wenn man also einerseits an diesen neuen Entwicklungen des Arbeitsmarktes nichts wirklich Grundlegendes ändern kann, ohne nicht erneut und massiv in die Falle einer wachsenden strukturellen Arbeitslosigkeit zu geraten, und wenn man andererseits diesen neuen Arbeitsmarkt, angesichts der ihm innewohnenden geringen sozialen Absicherung und der sich daraus ergebenden beträchtlichen politischen Risiken, nicht einfach hinzunehmen bereit ist, so wird man den Kampf um die Durchsetzung wirklicher Selbständigkeit für die Masse der neuen Klein- und Kleinstunternehmer in der "unternehmerischen Wissensgesellschaft" aufnehmen müssen. Und die wirkliche Selbständigkeit fängt bei der Bildung von Eigenkapital an. Hier öffnet sich also ein völlig neues Kapitel sozialer Emanzipation unter den Bedingungen des sich globalisierenden Kapitalismus, und ihre erfolgreiche Durchsetzung wird ähnlich harter Kämpfe und eines vergleichbaren langen Atems bedürfen, wie es zur Herausbildung des demokratischen Sozialstaats der Arbeitsgesellschaft erforderlich war.
Die Krise der Arbeit in den westlichen Volkswirtschaften hat viele Facetten, und doch fokussiert sie sich in letzter Konsequenz immer auf die Auflösung jenes sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrages der kapitalistischen Arbeitsgesellschaften, der eine gesellschaftlich akzeptierte Verteilung des
erwirtschafteten Reichtums und seiner Zuwächse zwischen Kapital und Arbeit regelt. Und genau darin liegt das gewaltige Problem, das die Linke intellektuell normativ und politisch-praktisch mit der Globalisierung hat. Die Grundlage des sich auflösenden industriellen Gesellschaftsvertrages war eine Arbeits- und Unternehmenskultur, die auf dem männlichen Vollzeitarbeitsplatz in den klassischen Grossunternehmen beruhte, der einigermassen krisenfest war, gesetzlich und tarifvertraglich geschuetzt wurde und durch dessen wachsendes Lohneinkommen nicht nur ganz entscheidend die Finanzkraft des Staates bestimmt wurde, sondern darüber hinaus auch die gesetzliche Arbeitslosenversicherung, die gesetzliche Krankenversicherung und vor allem das gesetzliche Rentensystem. Dieser Vollzeitarbeitsplatz oder Normarbeitsplatz war und ist also das entscheidende
Fundament für die sozialen Sicherungssysteme und den Generationenvertrag und dessen umlagenfinanziertes Rentensystem, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland kennen. Er ist der archimedische Punkt, an dem nahezu ausschliesslich die Finanzierung des ganzen uns so wohlvertrauten Sozialstaatsmodells hängt, die, zumindest in den meisten Mitgliedstaaten der EU, nahezu ausschliesslich von den Arbeitseinkommen der Normarbeitsverhältnisse erbracht wird.
Wenn die Zahl der Beschäftigten in diesen möglichst ein ganzes Arbeitsleben dauernden Normarbeitsverhältnissen abnimmt - und exakt auf eine solche vierzigjährige Beitragsbiographie sind zum Beispiel die Beitragsberechnungen des umlagefinanzierten deutschen Rentensystems noch heute ausgelegt, obwohl diese langen Beitragsbiographien bereits heute in der Realität der Arbeitswelt kaum mehr die Regel verkörpern -, dann ist es nur eine Frage der kleineren Mathematik, bis die von diesen abnehmenden Beiträgen abhängenden sozialen Sicherungssysteme in eine schwere Finanzierungskrise geraten müssen. Wenn dann noch die rueckläufigen Rentenversicherungsbeiträge auf eine parallel dazu langfristig ansteigende Nachfrage nach den Leistungen dieser Systeme stossen, bedingt durch beschäftigungspolitisch gewünschte Frühverentungen und die allgemeine demographische Entwicklung, so muss diese Finanzierungskrise sehr schnell einen existenzbedrohenden Charakter annehmen. Die sich dramatisch öffnende Schere zwischen diesen beiden langfristigen Trends von sinkenden Einnahmen und wachsenden Ausgaben macht eine grundsätzliche Reform zur Abwehr einer politisch hochriskanten Krise des gesetzlichen Rentensystems unaufschiebbar. Bleibt man nun aus politischen Gruenden bei der notwendigen Reform angesichts dieser strukturellen Krisenkonstellation allein innerhalb des bestehenden umlagefinanzierten Rentensystems, so wird man in absehbarer Zukunft, ohne eine dramatische Vermehrung von beitragszahlenden Normarbeitsplätzen bei einem anhaltend hohen jährlichen Wirtschaftswachstum über mehrere Jahre hinweg, zwischen der Alternative Altersarmut oder übermässig hoher Beitragssätze wählen müssen. Diese Alternative wird sich allerdings für den zukünftigen Sozialstaat als die klassische Negativalternative zwischen Pest und Cholera erweisen, da beide Alternativen einen schweren Verteilungskonflikt zwischen den Generationen auslösen werden, und ein solcher Generationenkonflikt wird den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Sozialstaatlichkeit massiv in Frage stellen.
Der Zufall der Geschichte will es nun einmal so, dass die oben beschriebenen radikalen Veränderungen des Arbeitsmarktes mit einem erheblichen und langfristig anhaltenden Anwachsen des Rentneranteils an der Gesamtbevölkerung einhergeht, bedingt durch eine gestiegene Lebenserwartung und den absehbaren Renteneintritt der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge zwischen 1950-1968 in den westlichen Industrienationen. Erst in der Verbindung der strukturellen Ursachen der Krise der Arbeit und der demographischen Über alterung der westlichen Gesellschaften, ebenfalls ein langfristiger struktureller Faktor, wird das eigentliche Drama des klassischen Sozialstaats in seinem ganzen Ausmass sichtbar. Der Zusammenbruch des sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrags und die damit einhergehende Krise der Arbeit bedrohen ganz unmittelbar auch den sozialstaatlichen Generationenvertrag, denn der eine wird ohne den anderen dauerhaft nicht zu halten sein, weil mit dem Wegbrechen des Gesellschaftsvertrags auch die alles entscheidende Finanzierungsgrundlage des Generationenvertrags zertrümmert wird. Und genau deshalb führt die gegenwärtige Krise der Arbeit direkt in eine Krise der Renten und des Gesundheitssystems, denn in alternden Gesellschaften wird nicht nur der Anteil der Renten am jährlich zu verteilenden Kuchen des Bruttoinlandprodukts zunehmen, sondern auch die Gesundheitskosten für diesen stetig wachsenden Anteil der Ruheständler an der Gesamtbevölkerung werden steigen.
Wie werden also zukünftig die Lasten in einer überalternden Gesellschaft verteilt werden? Zu Lasten der Alten in Form von zukünftiger Altersarmut? Zu Lasten der Jungen durch zu geringe Investitionen in ihre Ausbildung und Zukunft? Zu Lasten der arbeitenden Generation durch zu hohe Beitragslasten für die Alten? Wird also der Verteilungskonflikt der Zukunft in den überalternden westlichen Gesellschaften der Konflikt zwischen den Generationen sein? Oder wird es statt dessen einen neuen Generationenvertrag geben, der diesen Konflikt vermeidet, indem er die absehbaren Lasten gerecht zwischen den Generationen verteilt und zugleich die Grundlage für eine umfassende Neugestaltung der Alterssicherung bildet? Von der Beantwortung dieser Fragen wird die Zukunft des westlichen Sozialstaats im 21. Jahrhundert ganz entscheidend abhängen. Eine positive Lösung der strukturellen Krise des sozialstaatlichen Rentensystems bedarf allerdings auch einer strukturellen Antwort, die angesichts der qualitativen Veränderungen der Arbeitsmärkte kaum mehr allein innerhalb des
bestehenden Rentenfinanzierungssystems zu finden sein wird. Diese tiefe Krise macht die Konstruktion eines neuen Gesellschaftsvertrags unabweisbar, der als eines seiner vordringlichsten Ziele die wirtschaftlichen Grundlagen zur Finanzierung dieses neuen Generationenvertrages sichern müsste, denn die Finanzierung des Generationenvertrages und damit eine neue Architektur der demographischen
Verteilungsgerechtigkeit bleibt der alles entscheidende politische Punkt.
Aufgrund der oben beschriebenen langfristigen Trends von Bevölkerungsentwicklung und Veränderungen des Arbeitsmarktes wird die Frage der Alterssicherung in Zukunft eine der sozial und machtpolitisch bedeutsamsten Fragen der alternden westlichen Gesellschaften werden - weitaus brisanter noch, als dies bereits heute der Fall ist -, denn an der Sicherheit der Renten und an dem diese garantierenden Generationenvertrag hängt nicht nur die Zukunft von zig Millionen heutiger und kommender alter Menschen, sondern dieser Vertrag macht den Kern des sozialstaatlichen Selbstbewusstseins der westeuropäischen Gesellschaften aus. Das Für einandereinstehen der Generationen, die demographische Solidarität, bedeutet für den Zusammenhalt der westeuropäischen Gesellschaften wesentlich mehr als nur die Grösse und die Sicherheit der gesetzlichen Rente, so wichtig diese gewiss auch immer ist. Im Generationenvertrag realisiert sich darüber hinaus vor allem das solidarische Grundprinzip des sozialstaatlichen Gesellschaftsentwurfs der westlichen Kontinentaleuropäer, und damit hängt an ihm die sozialstaatliche Systemfrage schlechthin. Ralf Dahrendorf hat auf die Bedeutung dieses nicht unmittelbar sichtbaren politisch-psychologischen Hintergrundtextes des Generationenvertrages zu Recht hingewiesen: "Nach meiner Auffassung ist eines der grossen Probleme der meisten kontinentalen Länder, dass in ihnen der Generationenvertrag als Prinzip ein Grundelement des sozialen Zusammenhalts ist. Wenn man das Prinzip aufgäbe, würde man damit viel mehr zerstören als sich ablesen lässt am Schicksal von Individuen. In Grossbritannien ist der Teil des Wohlfahrtsstaates, der am wenigsten eingeschränkt werden darf, ohne die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts zu riskieren, der nationale Gesundheitsdienst, also der Vertrag zwischen den Kranken und den Gesunden."
Die Beantwortung der Krise des Generationenvertrages durch seine nachhaltige Neugestaltung wird also nicht nur über dieAlterssicherheit der kommenden Rentnergenerationen entscheiden, sondern darüber hinaus über die Zukunftsfähigkeit des westeuropäischen Sozialstaates als solchem. Und an diesem hängt wieder ganz entscheidend die Stabilität des demokratischen Systems. Und da der Generationenvertrag unmittelbar mit den Arbeitseinkommen und deren zukünftiger Entwicklung verknüpft ist, wird sich die Krise der Renten ohne eine Lösung der Krise der Arbeit nicht bewältigen lassen. Und so schliesst sich der Kreis der Herausforderungen der westlichen Gesellschaften durch die Revolution der Globalisierung: Die sinkende Macht des Staates, die neue Macht der Märkte, die Krise der Arbeit und der sozialen Sicherung, der Verlust des alten Gesellschaftsvertrages und die Drohung eines neuen "alten" Klassenkampfes entlang der Eigentumsund Verteilungsfrage und eines neuen Generationenkampfes und damit einhergehend das grosse Risiko von politischer Instabilität, bedingt durch ein Zerbrechen des sozialen Grundkonsenses - diese gegenwärtig in allen westeuropäischen Gesellschaften feststellbaren Krisenphänomene, die sich zutreffend unter dem Begriff der "Globalisierungskrise" zusammenfassen lassen, machen das ganze Ausmass und den grundsätzlichen Charakter des strukturellen Erneuerungsbedarfs sichtbar. Ein weiteres Mal sei daran erinnert, dass wir uns mitten in einer Revolution befinden, die revolutionäres Handeln erfordert, ja erzwingen wird. Entweder handeln politische Mehrheiten, oder aber die Verhältnisse werden die Veränderungen gegen den Willen der Beteiligten erzwingen, freilich dann zu grösseren Kosten, Risiken und Opfern. In den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Antworten auf diese Krise wird sich entscheiden, ob die europäischen Nationalstaaten am Ende dieser Globalisierungsrevolution, in zwei Jahrzehnten etwa, ihre soziale Demokratie durch Anpassung und Neugestaltung an die globale Ökonomie und einen beschleunigten europäischen Integrationsprozess erhalten und verteidigen konnten oder ob dieser Kontinent ökonomisch und politisch zurück fallen und sich damit erneut in den Minenfeldern seiner selbstzerstörerischen Vergangenheit verirren wird.
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