Die ökologische Herausforderung oder Wieviel muss Energie kosten?
Angesichts der endemisch gewordenen Massenarbeitslosigkeit und dem Wohlstandsvorbild des Westens für den Rest der Welt scheint gegenwärtig nur noch ein Thema zu zählen, nämlich Wirtschaftswachstum um fast jeden Preis. Dennoch fehlt es am Wachstums- und Fortschrittsoptimismus der fünfziger und sechziger Jahre, der damals beiden verfeindeten Systemen in Ost und West zu eigen war. Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt verhiessen die beste aller Welten, seien sie nun kapitalistisch oder sozialistisch organisiert gewesen. Heute sind die Ziele weitaus pragmatischer angelegt: Über windung der Massenarbeitslosigkeit und Verteidigung des erreichten Wohlstands im Westen, Anschluss an das westliche Wohlstandsniveau in Osteuropa und in den Schwellenländern, Verhinderung der schlimmsten Katastrophen in den ärmsten Ländern. Vom utopischen Über schwang der früheren Wachstumseuphorie findet man kaum noch eine Spur. Und was Wunder auch, denn selbst die kritiklosesten Apologeten eines schrankenlosen Wirtschaftswachstums haben angesichts der Erfahrung der ökologischen Krise ihre unschuldige Naivität verloren. Wirtschaftswachstum verkörpert eben nicht mehr nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern weltweit weiss man mittlerweile, dass es sich dabei um ein Danärgeschenk des Projekts der Moderne handelt. Warum? Weil ein dynamisches Wachstum, beruhend auf dem Verbrauch endlicher Ressourcen, in einem begrenzten, selbst nicht wachsenden Ökosystem irgendwann dessen Grenze erreichen und dann überschreiten muss.
Diese Erkenntnis der ökologischen Grenze griff, parallel zur ersten Ölpreiskrise, zu Beginn der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts um sich und ersetzte den naiven Fortschritts- und Wachstumsoptimismus durch ein ökologisches Krisenbewusstsein. Waren nun 1972, im Erscheinungsjahr der die Welt verändernden Studie von Dennis Meadows über "Die Grenzen des Wachstums", diese vor allem noch theoretischer Natur, so stellt sich mehr als ein Vierteljahrhundert später die Frage der weltweiten Umweltzerstörung angesichts jener doppelten Globalisierung der ökonomischen Globalisierung mit ihren gewaltigen Wachstumsschueben und der ökologischen Globalisierung der weltweiten, von Menschen verursachten Emissionen an klimaverändern den Gasen und der von ihnen ausgehenden Veränderung des Weltklimas - wesentlich praktischer und dramatischer. Nach dem Erscheinen von Meadows Studie war die zweite, umweltpolitisch herausragende Zäsur die UNCED (United Nations Conference on Environment and Development)-Konferenz, der sogenannte "Erdgipfel", vom 3.-14. Juni 1992 in Rio. Dort wurde von mehr als 170 Nationen ein verbindliches Dokument verabschiedet, die "Agenda 21", bei der es sich nach einer Selbsteinschätzung der UN um "eine Blaupause für Massnahmen in allen Bereichen für eine nachhaltige Entwicklung des Planeten von jetzt an bis in das 21. Jahrhundert" 166 handelt. Vom Geist von Rio ist angesichts der Globalisierung, des langen Wirtschaftsaufschwungs in den USA, der anhaltenden Krise in der EU und Japan und einer neoliberalen Umwertung des Zeitgeistes in den wichtigsten Ländern fast nichts übrig geblieben. Zwar haben mittlerweile mehrere Folgekonferenzen, u.a. in Berlin und Kyoto, stattgefunden, aber diese haben angesichts der massiven wirtschaftlichen Globalisierung in der harten Realität der Weltwirtschaft kaum politische Spuren hinterlassen. Dennoch besteht zu Mutlosigkeit und Resignation kein Anlass, denn wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum ohne Rücksicht auf seine Nachhaltigkeit erweist sich auch und gerade ökonomisch als eine äusserst kurzsichtige Strategie, die ihr Scheitern von Anbeginn in sich trägt. Südostasien musste bereits diese bittere Erfahrung machen.
Die wachstumsbedingte Umweltzerstörung, global wie regional und sektoral, wird eine der grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden, denn die negativen Folgen der Überlastung der Umwelt lassen sich zwar längere Zeit vergessen, verdrängen und technisch hinauszögern, aber unerbittlich wird die Zerstörung der Natürlichen Lebensgrundlagen die Erfolgsbasis jedes Wirtschaftswachstums selbst ruinieren. Die Verdrängung der globalen Umweltzerstörung auf der Zeitachse ist verantwortungslos, bestenfalls naiv, da man um die extrem langen Bremswege bei der Veränderung von Ökosystemen weiss, und sie macht deren Auswirkungen nur um so schlimmer. Die Globalisierung hat die weltweiten ökonomischen Wachstumsprozesse stark beschleunigt und dadurch auch deren negative ökologische Folgewirkungen. Über setzt man den anhaltenden Trend zur globalen Umweltzerstörung in makroökonomische Kategorien, so haben wir es tatsächlich mit einer gewaltigen Fehlallokation von Kapital und Ressourcen zu tun. Leider denkt der Mainstream der ökonomischen Theorie völlig anders, denn ganz entgegen der herrschenden Lehre von der alleinseligmachenden Kraft des Marktes und seiner Preise tauchen in den geheiligten Marktpreisen eben nicht die wirklichen Kosten der Umweltzerstörung auf. Damit aber ist, streng nach marktwirtschaftlicher Theorie, die Fehlsteuerung programmiert, da die Preissignale in die falsche Richtung weisen: Sie signalisieren Über fluss, wo sie im Gegenteil Knappheit anzeigen müssten. Die Weltwirtschaft leistet sich heute immer noch das ökologische Bewusstsein eines Kindergartens, in dem eine wachstumsverliebte Kinderschar munter die Umweltzerstörungen wegtheoretisiert und wegsubventioniert, um sich damit das suesse Naschwerk eines kurzfristigen Konsumsegens zu leisten, während sich die tatsächlich immensen Folgekosten in den Preisen nicht widerspiegeln und damit in die Zukunft hinein verlagert werden. Diesen Tatbestand nennt man schlicht "Marktversagen".
"Das exponentielle Wachstum der Bevölkerung und des Kapitals, des Ressourcenabbaus und der Umweltverschmutzung hält noch ständig an. Als Triebkräfte wirken die Bemuehungen, menschliche Probleme zu lösen, von der Arbeitslosigkeit und Armut bis hin zu dem gewichtigen Drang nach Status, Macht und Selbstbestätigung. Das exponentielle Wachstum kann sehr rasch Grenzen überrennen. Wenn man die Grenze überwindet, stösst es bald darauf gegen die nächste. Durch die Wirkung von Rückkoppelungen mit Verzögerungen tendiert das globale Wirtschaftssystem zur Grenzüberziehung und zur Erodierung der langfristigen Existenzgrundlagen. Einige der für die Weltwirtschaft wichtigen Quellen und Senken sind bereits überlastet. Die Technologie und der Markt funktionieren nur mit zeitlichen Verzögerungen und sind auf unvollständige Informationen angewiesen; diese Elemente stellen selbst negative Rückkoppelungen mit Verzögerung dar und fördern die Tendenz der Wirtschaft zur Grenzüberziehung. Die Technologie und der Markt reagieren entsprechend dem Wertsystem in der Gesellschaft bzw. deren führender Schicht. Wenn das vorherrschende Ziel Wachstum ist, wird, so lange wie möglich, das Wachstum gefördert. Sind jedoch soziale Gerechtigkeit und langfristige Existenzfähigkeit vorherrschende Zielvorstellungen, dienen Technologie und Markt auch diesen Zielen."
Die ökonomische Globalisierung zieht mit ihrer weltweiten Dynamik nolens volens die Schlinge der Umweltzerstörung am Hals der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft, dem einzigen
Entwicklungsmodell für das 21. Jahrhundert, immer schneller zu, denn dieses Wachstumsmodell kuemmert sich in seiner enormen Expansivität nicht um die ökologischen Systemgrenzen. "Die Aufrechterhaltung des blossen Lebens eines jeden von uns Menschen erfordert eine mittlere Dauerleistung von 100 Watt, aufzubringen durch Nahrung. Die Gestaltung des Lebens erforderte für den Sammler und Jäger der vorgeschichtlichen Zeit im zeitlichen Mittel ca. weitere 100 Watt, für den Menschen im Mittelalter, als er die gotischen Dome fast ausschliesslich mit seiner menschlichen Arbeitskraft erbaute, im zeitlichen Mittel schon ca. 1000 W = 1 kW. Heute leistet sich der Mensch zum Unterhalt seines Lebensstils mittels maschinell vervielfachter Arbeitskraft in Deutschland,einem typischen Industrieland, im zeitlichen Mittel eine Leistung von 6 kW. Und der Menschen sind viele geworden. Und wir müssen des weiteren sehen, dass derzeit allein 2 bis 3 Mrd. Menschen in Südost- und Ostasien mit atemberaubender Geschwindigkeit ihre wirtschaftliche Produktivität im Rahmen einer neuartigen Industrialisierung steigern, ihren Bedarf an Energieleistung bislang im Mittel von nur etwa 1 kW pro Person innerhalb der nächsten Jahrzehnte auf 2 bis 3 kW pro Person steigern und auch decken werden, immer noch wenig im Vergleich zu unserem Bedarf von 6 kW pro Person. Der mittlere Leistungsbedarf von 6 kW pro Person in Deutschland entspricht einem jährlichen Bedarf an Primärenergie pro Person im Mittel von 6 t SKE (Steinkohleeinheiten). Vergleichsweise liegt derzeit der mittlere Bedarf an Primärenergie pro Person und Jahr in Industrieländern im Bereich von ca. 4 bis 11 t SKE, in Entwicklungsländern im Bereich von 0,3 bis 1 t SKE."
Darüber hinaus kommt Klaus Heinloth bei der Abschätzung der Entwicklung des weltweiten Primärenergiebedarfs von 1995 bis 2050 zu folgenden Zahlen: Für die OECD-Länder und die Staaten Osteuropas und der GUS setzt er einen stagnierenden Pro-Kopf- Verbrauch von 7 t SKE voraus, bei China eine Steigerung von 1,1 auf 2,5 t SKE (von 2200 Mio t SKE absolut auf 2500 - 4000 Mio t SKE!), für Indien, Lateinamerika u.a. von 1 auf 1,5 t SKE (von 1700 Mio t SKE auf 2500 - 4000 Mio t SKE) und für die ärmsten Länder in Afrika u.a. wieder eine Stagnation bei 1 t SKE (von absolut 700 Mio t SKE auf 1000 Mio t SKE). "... unter der weiteren Annahme stagnierenden Energiebedarfs sowohl in der Gesamtheit der OECD-Länder als auch der Länder der GUS und Osteuropas insgesamt (resultiert) ein weltweiter jährlicher Bedarf an Primärenergie um die Mitte des kommenden Jahrhunderts von etwa 17 bis 21 Mrd t SKE...[1995 13300 Mio t SKE], also eine Steigerung um etwa 30 bis 60 Prozent ... Diese Schätzungen reichen mit dem oberen Wert von + 60 Prozent etwa an die untere Grenze der Schätzung des kuenftigen weltweiten Bedarfs an Primärenergie seitens der Weltenergiekonferenz und des IPCC...heran. Dementsprechend resultieren aus der hier vorliegenden Schätzung auch relativ bescheidene Steigerungen des Pro-Person-Energie-Bedarfs in den heutigen Entwicklungsländern, dies nicht zuletzt zu ermöglichen durch beachtliche Steigerung an der Energieeffizienz."
So gleichermassen kurz wie klar lässt sich anhand des weltweiten Energieverbrauchs und seiner Verteilung die vor uns liegende Krise beschreiben. Die Konsequenz aus diesen nuechternen Zahlen heisst: Selbst wenn sich die internationale Staatengemeinschaft gewaltig anstrengen wird - wofür gegenwärtig leider so gut wie gar nichts spricht -, um ihren Primärenergieverbrauch in den kommenden fünf Jahrzehnten erheblich zu reduzieren und die Weltwirtschaft ökologisch neu auszurichten, wird das
Problem des 21. Jahrhunderts, nämlich der wachsende weltweite Primärenergiebedarf und die damit einhergehende Gefährdung des Weltklimas, nur reduziert, nicht aber wirklich gelöst werden können. Die Industrieländer sind nicht nur die Hauptverursacher dieses Problems, sondern von ihrem Verhalten wird auch ganz entscheidend dessen Lösung abhängen. Die Entwicklung spitzt sich dabei immer dramatischer zu, worauf das in Washington DC beheimatete Worldwatch Institute in seinem jüngsten "Bericht zur Lage der Welt" eindringlich hinweist. Darin wird eine tiefgreifende Steuerreform zur Rettung der Erde gefordert. Stärker besteuert werden müsse"der Ausstoss von Kohlendioxid, die Nutzung von Rohstoffen und sonstiges 1umweltschädlichesi Verhalten...Dagegen müssten Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuern sinken." Noch nie in der Weltgeschichte seien Konsum und Wirtschaft so stark gewachsen wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Weltweit seien zwischen 1990 und 1997 zusätzliche Güter und Dienstleistungen im Wert von fünf Billionen Dollar produziert worden. Der Wert sei so gross wie das Wachstum vom Beginn der menschlichen Zivilisation bis zum Jahr 1950. In den vergangenen Jahren sei der Holzverbrauch verdoppelt, der Wasser- und Getreidekonsum verdreifacht und die Verbrennung kohlenstoffhaltiger Substanzen fast verfünffacht worden. "Das konsumorientierte westliche Wachstum kann nach Überzeugung des (World Watch) Instituts nicht auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Zugleich müssten die wohlhabenden Nationen in Europa, Nordamerika und Asien stärker die Wind- und Sonnenenergie und in geringerem Masse die fossilen Brennstoffe nutzen. Die Unverträglichkeit des westlichen Wirtschaftsmodells mit den Lebensgrundlagen zeige sich am schärfsten in China. Wollten die Chinesen im Pro-Kopf-Vergleich soviel Auto fahren wie die Einwohner der USA, müssten jeden Tag 80 Millionen Barrel Erdöl mehr gefördert werden. Derzeit liege die Weltölproduktion bei 64 Millionen Barrel pro Tag."
In den Industrieländern leben (Stand 1990) 1,2 Mrd. Menschen (22,1 Prozent der Menschheit bei 5,4 Mrd. Menschen), die 15,9 Mrd. t (72,2 Prozent) der weltweiten CO2-Emissionen verursachen, was einer Pro-KopfBelastung von 13,1 t CO2 entspricht. In den Entwicklungsländern leben 4,2 Mrd. Menschen (77,9 Prozent), die 6,1 Mrd. t (31,8 Prozent) CO2-Emissionen verursachen, was einer Pro-Kopf-Emission von 1,6 t entspricht. Bis 2050 müssen für eine erfolgreiche Klimaschutzpolitik die CO2-Emissionen der
Industrieländer auf jährlich 3,5 Mrd. t gesenkt werden, die der Entwicklungsländer werden auf 7,5 Mrd. t steigen, damit die 1990 bestehende globale Emissionsbelastung von 22 Mrd. t CO2 auf 11 Mrd. t halbiert werden kann.172 Angesichts dieser Vorgaben für einen erfolgreichen Klimaschutz ist ein Projekt wie die Erschliessung des Braunkohletagebaus GARZWEILER II im rheinischen Braunkohlerevier, dessen Abbau sich bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts hinein ziehen soll, schlicht nicht nachvollziehbar und zutiefst unvernuenftig. Die Braunkohle ist der fossile Energieträger mit dem grössten CO2-Gehalt und deswegen aus
Klimaschutzgesichtspunkten besonders fragwürdig. Aber auch die Vorstellung, dass eines der wichtigsten Industrieländer der Erde, die Bundesrepublik Deutschland, noch im Jahre 2020 von der Braunkohleverstromung im Grundlastbereich abhängig sein soll, ist angesichts der Fakten nur noch abenteuerlich zu nennen. Denn dies hiesse ja derart niedrige Energiepreise, dass eine anhaltende Verschwendung von Energie einen erfolgreichen Klimaschutz schlicht unmöglich machen würde. Steigen aber die Energiepreise, etwa durch eine Energiesteuer mit CO2-Komponente, dann wird die betriebswirtschaftliche Rentabilität der Braunkohleverstromung im Grundlastbereich in Frage gestellt werden, und genau dies wird eintreten.
Diese schlechte Nachricht enthält nun zugleich eine nutzbare Chance, denn sie wird die Politik zum Handeln zwingen. Früher oder später - so heisst allein die Frage. Politische Klugheit und die Erkenntnis eines wohlverstandenen Eigennutzes werden zu früherem Handeln führen, Dummheit und Ignoranz zu späterem. Die weltweite Jagd nach Wachstum um jeden Preis wird den Druck zur ökologischen Wende auch ökonomisch unabweisbar und damit immer attraktiver machen, denn mit wachsender Umweltzerstörung wird die globale Nachfrage nach ökologischen Alternativen erheblich zunehmen. Freilich wird dies nicht nur die Nachfrage nach Verzögerungstechnologien ("end of the pipe" - Technologien) steigern, sondern sehr schnell die Systemfrage selbst aufwerfen. Die quantitative Wachstumsgesellschaft als solche wird zur Disposition gestellt werden, und die Nachfrage nach qualitativen Alternativen einer nachhaltigen Entwicklung wird zunehmen. Wer sich dann am besten auf diesen neuen Märkten mit Systemalternativen, Technologien, Produkten und Dienstleistungen positioniert haben wird, wird auch zuerst die Geschäfte machen. Voraussetzung wird aber die
Ökologisierung der nationalen Volkswirtschaft sein, denn gerade die ökologischen Systemalternativen sind integrierte und vernetzte sozialökonomisch-technische Innovationen - etwa des Energie- oder Verkehrssystems oder einer nachhaltigen Landwirtschaft. Wie bereits gesagt, ökonomische Wachstumsstrategien gegen die Umwelt werden sich als kurzfristige Illusionen mit extrem teuren Folgewirkungen offenbaren, und insofern werden sich diejenigen Volkswirtschaften in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts als die Gewinner erweisen, die diesen grundsätzlichen Wandel hin zur Ökologisierung von Wirtschaft und Gesellschaft als Erste angegangen und energisch umgesetzt haben.
Auch beim ökologischen Umbau gilt, wie bei Investitionen in soziale Gerechtigkeit, dass kurzfristig die Kosten zwar höher sein, auf mittlere Sicht sich diese Mehrinvestitionen aber als überaus ertragreich erweisen werden. Welche Investitionsstrategie sich in einer Volkswirtschaft und Gesellschaft durchsetzen wird, ist nun nicht zuerst und vor allem eine ökonomische, sondern vielmehr eine politische Frage. Die Ökonomie definiert die Regeln und Gesetze des Wirtschaftens, die Ziele muss jedoch die Gesellschaft politisch setzen, und das bedeutet in einer Demokratie: die jeweiligen Mehrheiten.
Jede Strategie des ökologischen Umbaus, die eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung anstrebt, wird politisch vor allem eine Systementscheidung treffen müssen, nämlich die Internalisierung der realen Kosten von Umweltverbrauch und Umweltzerstörung in die Marktpreise, damit sich die Marktbedingungen und damit das Verhalten der Marktakteure - Unternehmen und
Verbraucher - grundsätzlich verändern. Diese Forderung klingt vernuenftig und sagt sich leicht, aber tatsächlich wird es sich dabei um den grössten Subventionsabbau in der modernen Wirtschaftsgeschichte handeln, der radikal verändernd in heute sehr mächtige Interessen und noch mehr in tiefverwurzelte Gewohnheiten von Unternehmen, Beschäftigten und Verbrauchern eingreifen wird. Wer sich das Elend des kaum vorankommenden Subventionsabbaus in einer demokratisch verfassten Marktwirtschaft wie in Deutschland aus der Nähe betrachtet, der wird ermessen können, welche Herkulesaufgabe diese Internalisierung der realen Umweltkosten in die Marktpreise tatsächlich bedeuten wird.
Am energischsten und schnellsten reagieren wir auf akute Gefahr, nämlich instinktiv mit Angst. Die Angst verleiht Flügel, sowohl den Beinen als auch dem Kopf. Angstgetriebene Veränderungen haben die grösste Dynamik, freilich können sie in hohem Masse politisch ausgebeutet werden und dadurch erst recht ins Debakel führen. Die Angst vor einer Katastrophe oder vor deren Folgen räumt urplötzlich alle Einwände und Hindernisse weg, alles scheint plötzlich möglich, nur um die Gefahr abzuwehren. Gerade die Geschichte der Umweltpolitik und der Umweltgesetzgebung ist deshalb eine Geschichte der Katastrophen und Unfälle, und fast steht zu befürchten, dass es sich bei der menschlichen Blindheit gegenüber langfristigen Risiken und Gefahren um so etwas wie eine anthropologische Konstante handelt. Um so wichtiger wird es dann aber sein, in einer Zeit, in der die menschlichen Gesellschaften durch die Folgen von Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum,
Umweltzerstörung und Risikotechnologien globale
Verantwortung für ihre gemeinsame Zukunft übernehmen müssen, dieses quasi anthropologische Defizit kulturell, zivilisatorisch und politisch auszugleichen. Das ist in offenen Gesellschaften nicht immer populär. Erst wenn eine Gefahr öffentlich wahrgenommen wird, wenn eine Umweltkatastrophe eingetreten ist und über sie berichtet wird, erst dann sind plötzlich ökologische Massnahmen mehrheitsfähig und können durchgesetzt werden.
An zweiter Stelle folgen die Menschen ganz offensichtlich dem Eigennutz. Hat etwas einen Wert, rentiert es sich, verheisst es Reichtum und Prestige, gewinnt es sofort an Bedeutung. Droht es um Nachteil und Verlust zu werden, wird es meistens aufgegeben. Der durch Gewinnimpulse angestossene ökonomische Strukturwandel ist gewiss nicht einfach durchzusetzen, im Verhältnis aber zum politischen Strukturwandel und zu Veränderungen, die gar Einsicht und Zustimmung voraussetzen, bewegt er sich wie ein Rennpferd im Verhältnis zu einer Schnecke. Auch aus diesem Grunde ist die Verknüpfung von ökologischer Erneuerung mit den Marktpreisen unerlässlich, weil allein die Dynamik des wirtschaftlichen Egoismus den ökologischen Strukturwandel jenseits von
Umweltkatastrophen voranbringen kann.
Schwieriger sind all diejenigen Veränderungen zu bewerkstelligen, die lediglich politische Gründe für sich anführen können, und am schwierigsten jene, die allein auf Vernunft und moralischen Gründen beruhen. In stabilen Gesellschaften ist dies die Domäne von gleichermassen gelehrten wie wirkungslosen Vorträgen und Sonntagsreden. Gerade die Ökologie - das Wissen um die endlichen Grenzen der Natur für unsere unendlichen materiellen Wünsche und Phantasien - hält keinerlei Erlösungsbotschaft bereit, keinerlei Utopie, nirgendwo eine Heilslehre. Sie bedeutet vielmehr im Gegenteil die Erkenntnis vom Ende all jener schönen Utopien, die sich die Moderne im Laufe der vergangenen drei Jahrhunderte erträumt hat. In der Ökologie artikuliert sich ein antiutopisches Krisenbewusstsein von den für uns Menschen unüberschreitbaren Grenzen des Ökosystems Erde. Insofern ist die Ökologie nicht buendnistauglich für Utopien, wohl aber für die Ökonomie, da diese, trotz all ihrer ideologischen Implikationen, letztendlich vom effizienten Umgang mit knappen Gütern handelt und dadurch der Ökologie wesensverwandt ist.
Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, hier auf einen in der Realität nur schwer auflösbaren Widerspruch einer Politik des ökologischen Umbaus hinzuweisen, nämlich dass der Wachstumsdruck zwar durch die aktuell überwiegend quantitative Ausrichtung des internationalen Wirtschaftssystems gewaltig verstärkt und beschleunigt wird, die eigentlichen Antriebskräfte dieser destruktiven Entwicklung jedoch tiefer liegen, nämlich in der Dynamik der faktischen Entgrenzung der Bedürfnisse der modernen Menschen, in dem materiellen Aufholbedarf von etwa 80 Prozent der Menschheit und in dem anhaltenden Wachstum der Weltbevölkerung selbst. Zudem erweist sich in den reichen Industrieländern jede Form von NullWachstum-Strategie oder gar einer Strategie negativen Wachstums als schlicht nicht mehrheitsfähig, weil die vorhandenen sozialen Widersprüche dadurch extrem zugespitzt würden. Solange die grundlegende Systemorientierung der westlichen Ökonomien am quantitativen Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist, wird jede politische Strategie, die auf negatives Wachstum zielt, zum Scheitern verurteilt sein, obwohl die globale Verteilungslage von Energie, Ressourcen und Lebenschancen zwischen armen und reichen Ländern genau ein solches Verhalten in den westlichen Industrieländern notwendig machen würde.
Anders gesagt: Solange materielles Wachstum (Veränderung von Atomen und Molekuelen also) und d.h. Wachstum von Energie- und Ressourcenverbrauch - der ökonomisch dominante Faktor bleibt, werden ökologische Krisen nur aufschiebbar, nicht aber wirklich verhinderbar sein, weil das quantitative Wachstum entlang der exponentiellen Kurve nur verzögert, nicht aber wirklich beendet wird. Eine Politik des Verzichts wird sich in den modernen, sozial nach Klassen und Einkommen geschichteten Massengesellschaften kaum durchsetzen lassen, und technische Fortschritte zugunsten der Umwelterhaltung werden meistens durch den Mechanismus der Mengenexpansion innerhalb kuerzester Zeit eliminiert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. Der ProKopf-Verbrauch oder die Pro-Kopf-Emission an Schadstoffen sinkt dann zwar, aber die absolute Anzahl der Köpfe nimmt um so mehr zu, zumal man ja fortan sein ökologisches Gewissen beruhigen kann. Die anhaltenden Zuwächse der Schadstoffemissionen, vor allem Stickoxide (NOx), des europäischen Automobilverkehrs ist für diese negative Rückkoppelung technischer Innovationen, die eigentlich die Umwelt entlasten sollten - geregelter Drei- Wege-Katalysator und bleifreies Benzin -, ein schlagendes Exempel.
Erst die Transformation der postindustriellen Gesellschaft hin zu immateriellem Wachstum - Wachstum von Information, Kreativität, Ideen, Diensten, Lebensqualität, Gesundheit, Wohlbefinden und Sinn (Bits und Bytes, neurologische Signale, Gefühle, Erlebnisse, Wissen) - wird diesen Widerspruch wenigstens ansatzweise lösen können. Eine solche Veränderung der Makrosteuerung des Systems hin zu immateriellem Wachstum wird aber vor allem eines brauchen - sehr viel Zeit, Zeit nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten gerechnet. Wer also eine Politik des ökologischen Umbaus verfolgt, muss demnach einen langen Atem haben und sich von jedem "Sofort!" und "Gleich!" verabschieden. Dies ist nun alles andere als ein Plädoyer für eine Strategie des Vertagens und Verschiebens, im Gegenteil. Gerade der Aufbruch zu einem langen Weg muss energisch und ohne schuldhaftes Zögern angegangen und dann kraftvoll und voller Ausdauer beschritten werden. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft meint nichts geringeres als einen fundamentalen Wandel von Ökonomie und Gesellschaft, von Interessen und Werten, von Institutionen und Verhalten, der einfach sehr viel Zeit erfordern wird, wenn er demokratisch verlaufen soll. Autoritär wird er niemals funktionieren.
Dennoch wird eine Politik des ökologischen Umbaus, die sich an der Machbarkeit und Mehrheitsfähigkeit orientiert, immer auch von diesem Widerspruch zwischen Wachstumskritik und Wachstumsabhängigkeit geprägt sein, da sie, will sie nicht praktisch völlig erfolglos bleiben, bei ihrem Versuch der ökologischen Transformation noch lange eingebunden bleiben wird in die Logik des quantitativen Wirtschaftswachstums und den davon abhängigen, millionenfachen Interessen. Die entscheidende Frage, die sich nun daraus ergibt, lautet: Gibt es Weichen, die den Zug zwar nicht zum Stillstand bringen, wohl aber seine Richtung ändern können? Diese Weichen gibt es.
Die postindustrielle Gesellschaft ist heute noch eher ein Begriff als Realität. Mit der Transformation des Kapitalismus hin zur Informationsgesellschaft ist zwar ein erster und zugleich entscheidender Schritt zu ihrer Realisierung getan worden, aber eben nur ein erster Schritt. Die kommenden Jahrzehnte werden einen tiefgreifenden Veränderungsbedarf mit sich bringen, der sich, zumindest aus Sicht der reichen westlichen Länder, in dem Spannungsverhältnis der Ökologisierung industrieller Strukturen und der schrittweisen Durchsetzung postindustrieller Strukturen und
Verhaltensweisen auflösen wird. Der Veränderungs- und Anpassungsstress wird demnach für die meisten Menschen auf längere Sicht anhalten und eher zu- als abnehmen. Auch diese Perspektive verdeutlicht, wie wenig Zukunft eine Politik der Bewahrung des Status quo haben wird und wie gefährlich es für die demokratische Linke wäre, sich daran zu binden.
Die Erneuerung der Basisfaktoren einer Volkswirtschaft, vor allem der Infrastruktur und des Finanzsystems, ist eine originär politische Aufgabe. Wirtschaft und Politik verhalten sich bisher gegenüber der Massenarbeitslosigkeit und dem unabweisbaren Restrukturierungsbedarf von Wirtschaft und Gesellschaft als viel zu kleinmuetig. Angesichts seiner grossen Probleme und der Globalisierungsrevolution müßte Deutschland eigentlich mit einer "Infrastrukturrevolution" reagieren, d.h. der fundamentalen Erneuerung der Energie, Verkehrs-, Finanz- und Bildungssysteme. Die eigentliche strategische Herausforderung für die Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts wird, neben der Krise der Erwerbsarbeit und der sich zuspitzenden Gerechtigkeitsfrage, eine Vermeidung der ökologischen Wachstumsfalle sein, in welche sich die Weltwirtschaft fast zwanghaft hineinentwickelt. Dies wird jedoch nur gelingen können, wenn die Senkung des Ressourcenverbrauchs, des Stoffdurchsatzes, des Energieverbrauchs und der Mobilität zunehmend selbst zum Gegenstand einer auf Nachhaltigkeit zielenden Wirtschaftsentwicklung gemacht wird. Diese Entwicklung wird unabweisbar sein, denn sie ist das direkte Ergebnis eines heute überwiegend zu Lasten der Umwelt organisierten Wirtschaftswachstums. Genau hier setzt nun die Infrastrukturrevolution des ökologischen Umbaus an.
Analog zur vorher erörterten Erneuerungsschwäche trifft man hier ebenfalls auf ein überwiegend mentales Problem, das natürlich mit der ganzen Schwerkraft mächtiger, überkommener Interessen und Gewohnheiten belastet ist. Es ist ja nur zu offensichtlich, dass die "produktive Zerstörung" bestehender Strukturen nicht nur eine ökologische, sondern vor allem auch eine ökonomischtechnische Revolution anstossen müsste, um eine neue, qualitativ andere Wachstumsphase einzuleiten. Merkwürdigerweise gilt in Deutschland eine strukturkonservative Wirtschaftspolitik, die genau diese alten, hoch erneuerungsbedürftigen Strukturen erhält, als "wirtschaftsfreundlich" , während die von Schumpeter geforderte "produktive Zerstörung" der traditionellen
Industriegesellschaften als "wirtschaftsfeindlich" gilt. Der ökologisch induzierte Strukturwandel wird als "Gefährdung von Arbeitsplätzen" verschrien und nicht als Investitionschance und neue Nachfrage begriffen - was aber seine tatsächliche, mittlerweile auch empirisch feststellbare Konsequenz ist.
Zu dem vor uns liegenden ökologischen Strukturwandel gibt es nur schlechtere Alternativen, weil er tatsächlich niemals aufzuhalten sein wird, sondern lediglich zu extrem hohen Folgekosten weiter hinausgeschoben werden kann. Kommt dieser Strukturwandel zu spät, so wird Deutschland nicht nur die negativen ökologischen Folgen dieser Verzögerung zu tragen haben, sondern ebenso die ökonomischen, da, wie bereits gesagt, die Zukunft der internationalen Märkte sehr stark durch diesen unabweisbar heraufziehenden ökologischen Strukturwandel bestimmt sein wird. Wer hier zu spät kommt, der wird in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts auch und gerade ökonomisch weit zurück fallen, mit fatalen Folgen für Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit, deren Verteilungsbasis von den wirtschaftlichen Erträgen im internationalen Wettbewerb erst erwirtschaftet werden muss. Wer demnach heute von der Erneuerungsschwäche der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Globalisierungsrevolution spricht, wird bei ihrer Über windung vom ökologischen Umbau nicht schweigen dürfen.
Weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass die ökologische Transformation der Marktwirtschaft an dem archimedischen Punkt der Internalisierung der realen Kosten hängt. Diese Ökologisierung der Marktpreise ist in der Tat die zentrale Weichenstellung des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, weil nur durch sie das betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalkül zugunsten der Umwelt verändert werden kann. Diese Grundsatzentscheidung zieht dann aber sofort drei weitere strategische Entscheidungen nach sich, ohne die eine solche Internalisierung der Kosten des Umweltverbrauchs in die Preise nicht gelingen kann, nämlich die ökologische Transformation des Energie-, des Verkehrs- und des Steuersystems. Eine ökologische Preisreform - exakt davon ist hier die Rede - hat aber sowohl ein anderes ökonomisches Verhältnis zu Energie und Mobilität zur Voraussetzung als auch einen entsprechenden Einsatz des staatlichen Steuersystems zur Durchsetzung dieser Preisreform.
An erster Stelle steht die Energiefrage, denn sie ist die Schicksalsfrage des Industriezeitalters, und deshalb kommt ihr bei dessen ökologischer Transformation eine überragende Bedeutung zu. Die Geburtsstunde der grossen Industrie war an die technische Umwandlung von Energie in Kraft mittels der Dampfmaschine gebunden. Erst mittels dieser technischen Innovation - später kamen noch der Verbrennungsmotor und der Elektromotor hinzu, welche die damals engen Grenzen "Natürlicher" Energieträger wie Wind und Wasser oder die noch bescheideneren Möglichkeiten tierischen und
menschlichen Energieeinsatzes überwanden - war eine arbeitsteilige Fabrikproduktion in einer bis dahin nicht gekannten Grössenordnung möglich. Alle vorindustrielle Arbeitsteilung und alle vorindustrielle Technik scheiterte letztendlich an der zu geringen Menge verfügbarer Energie, um wirklich im grossen Stile Stoffumwandlung betreiben zu können. Erst die Dampfmaschine sollte hier das Tor zu einem neuen Zeitalter aufstossen.
"Der Kapitalismus vollzieht einen radikalen Bruch mit allen der Menschheit bis dahin bekannten Energiesystemen. Mit ihm endet der Primat der biologischen Energiequellen und beginnt die Vorrangstellung der fossilen Energieträger. Dieser Bruch war nicht auf den prometheischen Geist Europas zurück zuführen, sondern stellte auch die Antwort auf die drängenden Herausforderungen dar, vor die sich die Alte Welt durch den fortgesetzten Mangel an Energie, an Land und Ressourcen gestellt sah Der entscheidende
Bruch...vollzieht sich als Flucht nach vorn in die technische Innovation und gipfelt in der Erfindung neuer technischer Energieumwandler. Die erste dieser Maschinen ist die Dampfmaschine; sie führt zu umwälzenden Veränderungen im Verhältnis der verschiedenen Energieträger und damit auch zu einem völlig neuen Verhältnis des Menschen zur Energie............................................. Die
Energie wird zur Sache der Investoren, Wissenschaftler und Ingenieure und verwandelt sich damit in einen unabhängigen, autonomen Sektor, der innerhalb der neuen Wirtschaft eine entscheidende Rolle spielt." Die Versorgung mit billiger, ausreichender und jederzeit verfügbarer Energie wurde zu der strategischen Machtfrage des Industriezeitalters, denn ohne die beständige Energieumwandlung ging und geht nichts in den Industriegesellschaften.
Auch die glückliche Zeit des westlichen Wohlfahrtsstaates, dem die Linke heute noch heftig hinterhertrauert, war auf billige Energie, auf Erdöl gebaut.
Die soziale Marktwirtschaft, die Konsumgesellschaft, der Wohlfahrtsstaat - all diese Herrlichkeiten des westlichen Kapitalismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründeten auf der scheinbar grenzenlosen Verfügbarkeit billiger Energie in Form von Erdöl und Kohle. Erdöl vor allem war der Schmierstoff dieser Entwicklung hin zum Massenkonsum und zum sozialen Kapitalismus gewesen, billiges Erdöl, das zudem oft mit alles anderem als demokratischen Mitteln vor allem im Nahen und Mittleren Osten durch die westlichen Mächte gesichert wurde. Nicht umsonst organisierte sich wirtschaftlich und gesellschaftlich diese Zeit in den westlichen Ländern um den Aufbau mächtiger Automobilindustrien und der für sie notwendigen Infrastruktur herum. Die Automobil- und Ölkonzerne gehören heute noch zu den grössten und mächtigsten Unternehmen der USA, Europas und Japans, in Deutschland ist die Automobilindustrie nach wie vor der wichtigste Beschäftigungsfaktor. Die massenhafte Entfesselung der individuellen Mobilität durch die millionenfache Motorisierung war nicht nur eine gewaltige infrastrukturelle Herausforderung für den Staat, nicht nur ein enormes Geschäft für das investierte Kapital, nicht nur die Grundlage für steigende Massenbeschäftigung und Massenkaufkraft, sondern die individuelle Massenmotorisierung setzte zugleich auch scheinbar grenzenlose Wunsch- und Traumkapazitäten frei. Das Automobil wurde zum gesellschaftlichen und kulturellen Status-, ja Freiheitssymbol quer durch alle sozialen Schichten hindurch.
Diese herrliche Zeit des westlichen Wohlfahrtsstaates - Wohlstand für alle! - war also zugleich das Zeitalter des Automobils und des billigen Öls. Erst die scheinbar unerschöpfliche und zugleich billige Energie des Öls liess den massenhaften automobilen Freiheits- und Fortschrittstraum Wirklichkeit werden. Die Energiepreise bestimmten und bestimmen den Lebensrhythmus der Industriegesellschaft, so wie dies die Kornpreise in den vorindustriellen Gesellschaften getan haben. Und was dort der Brotpreis für die Massen war, ist in der automobilen Gesellschaft der Benzinpreis geworden. Erneut müssen wir hier auf jenen Urknall der ersten Ölpreiskrise von 1973 zu sprechen kommen, denn es war diese globale Energiekrise, die das gesamte System wanken liess und ihm kulturell einen tiefen Schock versetzte: die dramatische Notstandssymbolik der leeren Autobahnen an den staatlich verordneten autofreien Sonntagen, die Explosion der Ölpreise, die damit einhergehende Erkenntnis von den Grenzen des Wachstums, der schockartige Zusammenbruch von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung und der Beginn der neoliberalen Revolution.
Man wollte in der Folgezeit im Westen um nahezu fast jeden Preis unabhängig vom Ölimport aus den OPEC- Staaten werden, indem neue Lagerstätten in politisch günstigerer Lage (Nordsee) erschlossen wurden und indem man auf die nachdrückliche Beschleunigung und Verstärkung des bereits vor der Ölpreiskrise begonnenen Ausbauprogramms der Atomkraft setzte. Die komerzielle Nutzung der Atomkraft zur Erzeugung von Elektrizität begann in Deutschland, wie in den meisten Ländern, so recht erst in den siebziger Jahren.Der Ausbau der zivilen Nutzung der Atomenergie zur Produktion von Elektrizität war lediglich ein Abfallprodukt der enormen staatlichen Investitionen in die militärische Erforschung und Nutzung der Atomkraft. Von Anfang an war klar, dass die notwendigen Investitions- und Entwicklungskosten von einer an kostendeckenden Preisen orientierten privaten Stromwirtschaft niemals hätten aufgebracht werden können, sondern dass diese allein vom Staat zu tragen waren. Der Staat tat dies vor allem aus strategischen und machtpolitischen Gründen, denn die Basics der Nukleartechnologie wollten selbst jene Länder zur Verfügung haben, die zwar auf eigene Atomwaffen verzichtet hatten, sich durchaus aber eine technische Option offenhalten wollten. Auch in Deutschland spielte dieser Aspekt eines nationalen Atomprogramms in der politischen Diskussion der 50er und 60er Jahre eine zentrale Rolle. Nukleartechnologie und Staatswirtschaft sind also, jenseits aller Risikoabschätzung und moralischen Bewertung, zwei Seiten derselben Medaille - "hinter der Kernkraft ... steht immer der Staat" -, und diese Tatsache wird bei einer marktwirtschaftlichen Neuordnung des Energiesystems, vor allem der leitungsgebundenen Energie, von allergrösster Bedeutung sein.
Zudem verweist auch gerade die völlig neue Risikodimension der Atomenergie auf ihre militärischen und machtpolitischen Wurzeln. Die Atomenergie verursacht kurz- und langfristige Risiken, die sich einer marktwirtschaftlichen Risikoabdeckung durch private Versicherungen schlicht verschliessen, weil sie jeglichen wirtschaftlichen Rahmen sprengen. Deswegen hat ja auch der Staat die Haftung für mögliche atomare Grossunfälle und die langfristigen Risiken der Atomenergie - vorneweg das völlig ungelöste Endlagerproblem für radioaktive Abfälle - übernommen. Fiele die "Sozialisierung" der
atomaren Risiken weg, wäre diese Form der Energieerzeugung sofort jenseits aller Wirtschaftlichkeit angekommen und damit für die Stromproduktion erledigt. Der langfristige, sichere Ausschluss von radioaktivem Müll aus der Biosphäre übersteigt schlicht menschliche Vorstellungs- und erst recht administrative
Handlungsdimensionen, denn es geht hier um Tausende von Jahren.185 Im Falle eines schweren Unfalls in einer Atomanlage und der unkontrollierten Freisetzung grosser Mengen radioaktiven Inventars handelt es sich eben nicht um ein schweres industrielles Unglück, sondern um eine internationale Katastrophe, die alle sonstigen grosstechnischen Risiken bei weitem übersteigt. Die Stromproduktion als nationales und gar internationales Risiko ist in der Tat eine neue Qualität von Energiepolitik!
Seit einer der Reaktorblöcke des Atomkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl havarierte und es dort zu einer Kernschmelze mit der Freisetzung einer atomaren Wolke kam, die weite Teile Europas kontaminierte, wurde aus dem atomaren Risiko Gewissheit: "An jenem 25. April 1986 sind die so oft geleugneten Gefahrenmomente Wirklichkeit geworden, hat sich v.a. gezeigt, welch hohes Risiko mit der Atomkraft verbunden ist. Der Industriekapitalismus hatte die Menschen an die Eskalation technischer Unfälle gewöhnt. Doch die Kernenergie bringt etwas grundsätzlichNeues herein. Zum klassischen Unfall durch mechanische Schäden, zum schweren Zwischenfall in der chemischen Industrie z.B., tritt der Ungluecksfall von bisher nicht geahnten Dimensionen, der nicht nur am Ort der Katastrophe, sondern noch Tausende von Kilometern entfernt zur Gefahr für alles Leben wird und neben den Opfern des
Augenblicks auch noch deren Nachkommenschaft bedroht. Ein Unheil, dessen Auswirkungen mit Verspätung auftreten und in der Anonymität der Statistiken untergehen." Ein vergleichbarer schwerer atomarer Unfall im dichtbesiedelten Mitteleuropa hätte noch weitaus schlimmere Folgen für die betroffene Bevölkerung und für die Umwelt gehabt. Die Atomenergie hat sich aus all diesen Gründen als nicht verantwortbar und als nicht beherrschbar erwiesen, aber sie wird sich auch als viel zu teuer und als ein Innovationshemmnis für eine ökologische, marktwirtschaftlich organisierte Energiewirtschaft erweisen. Spätestens dann, wenn die Risiken des Atomstroms in seinen Marktpreisen quantifiziert auftauchen werden, wird es vorbei sein mit dem Atomzeitalter in der Elektrizitätswirtschaft, und zwar sehr schnell. Und ein weiteres kommt hinzu: "Zur Erreichung des Klimaschutzziels [der Bundesregierung, d.V.] ist die Kernenergie auf Dauer nicht notwendig. Ein Ausbau der Kernenergie (und dies trifft auch für grosse Kohlekraftwerke zu) dürfte hingegen gerade die angebotsorientierten Strukturen unserer Energiewirschaft stabilisieren, die ein Haupthemmnis für die zur Erreichung des Klimaschutzziels unabdingbare Effizienzverbesserung darstellen." Die oberste Bundesbehörde UMWELTBUNDESAMT zeigt sich hier mit dieser Yusserung politisch als überaus mutig, denn sie erteilt hier der weiteren Nutzung und vor allem dem Aus- und Zubau bei der Atomenergie wie dem Ausbau der Braunkohleverstromung, wie mit GARZWEILER II geplant, eine kaum verhüllte Absage.
Doch zurück zur allgemeinen Entwicklung von Wirtschaftswachstum und Energiebedarf in Deutschland.
"Der Bedarf an Primärenergie hat sich in Deutschland (Alte Bundesländer) im Zeitraum 1960 bis 1990 verdoppelt...Abgesehen von kleineren Fluktuationen (z.B. Ölpreis-1Krisei 1973) stieg der Bedarf ständig bis nahe 1980, blieb danach weitgehend konstant, dies trotz weiteren Wirtschaftswachstums. Bei dieser augenscheinlichen Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Bedarf an Primärenenergie wird allerdings nicht berücksichtigt, dass im Verlauf der letzten 1 bis 2 Jahrzehnte energieaufwendige Erzeugung von z.B. Roheisen, Aluminium, Zement und Zellstoff in zunehmendem Masse ins Ausland verlegt wurde: Insgesamt ist auf diese Weise derzeit (1994) netto - Import minus Export - ein Primärenergie-Einsatz in Höhe von ca. 7 Mio t SKE (entsprechend Kohlendioxidemissionen in Höhe von jährlich ca. 17 Millionen Tonnen) ins Ausland verlagert worden, dies mit steigender Tendenz von ca. 0,4 Mio t SKE (entsprechend ca. 1 Mio t CO2) pro Jahr ..."
Bis zur ersten Ölpreiskrise von 1973 war der Anstieg von Bruttoinlandsprodukt und Primärenergieverbrauch in einer synchronen Kurve verlaufen, seitdem und vor allem seit der zweiten Ölpreiskrise von 1979 ist eine merkliche und zudem bis zu Beginn der neunziger Jahre immer grösser gewordene Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Primärenergieverbrauch festzustellen, das heisst, das Bruttoinlandsprodukt ist schneller gewachsen als der Primärenergiebedarf.189 Interessant ist dabei auch die Veränderung der Verbrauchsstruktur von Endenergie, die einen erheblichen Rückgang bei der Industrie - Umstrukturierung, verbesserte Effizienz und Einsparung - und einen grossen Zuwachs beim Verkehr ausweist.190 Diese Entwicklung ist nicht nur das Ergebnis des ökonomischen Strukturwandels in Deutschland, der alte und energiefressende Grundstoffindustrien hierzulande unrentabel machte und vertrieb, sondern mit der Bewältigung der Ölpreiskrisen begann auch eine ökonomisch-technologische Entwicklung, die mittels des durch die Energiepreisschocks ausgelösten Zwangs zur Energieeinsparung und der Entwicklung grundsätzlicher Alternativen führte. Diese Entwicklung hat zu zahlreichen Fortschritten bei der Umweltsanierung, etwa der Rauchgasentschwefelung und -entstickung von Grosskraftwerken geführt, zu Recycling- und Energieeinsparerfolgen, zu Effizienzsteigerungen und einem umweltbewussteren Verhalten von Unternehmen und Verbrauchern. Dennoch ist der wirkliche Durchbruch zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung ausgeblieben, weil bis heute die Internalisierung der realen Umweltkosten - siehe Kernenergie -in die Marktpreise nicht gelungen ist. Diese Aufgabe wird einer ökologischen Steuerreform bedürfen.
In der Umwelt- und Energiepolitik wurde mittlerweile fast alles gedacht, aufgeschrieben und diskutiert, was zu tun ist. Es gibt hier kein Theorie-, wohl aber ein massives Praxisdefizit. Im Laufe der Jahre sind ganze Bibliotheken an Umweltliteratur entstanden, an detailliert ausgearbeiteten, machbaren Alternativkonzepten, die allzuoft parteiübergreifend Zustimmung finden. Solange man mit ihrer praktischen Realisierung nicht Ernst zu machen gedenkt, besteht kein Mangel an Zustimmung. Dies gilt ganz besonders für die Neuorganisation einer umweltgerechten und nachhaltigen Energiewirtschaft.192 Der ökologische Umbau zielt faktisch auf eine Wirtschaftsreform oder gar -revolution auf marktwirtschaftlicher Grundlage, und insofern müßte diese ökologische Transformation eigentlich nicht zuerst und vor allem ein politisches, sondern vielmehr ein unternehmerisches Projekt sein, da sie neue Nachfrage, neue Märkte für Produkte und Dienstleistungen schaffen wird.
Zudem gibt es eine eindeutige positive Korrelation zwischen Ökologisierung und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Es ist global nicht ein Fall bekannt, wo eine Volkswirtschaft durch zuviel Umweltschutz ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren hätte, im Gegenteil. Der ökologische Fortschritt konnte generell zur Stärkung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit beitragen und erwies sich zudem auch als ertragreiche Investition. Wohl aber gibt es jede Menge Beispiele, wo Volkswirtschaften aus Ignoranz der Umwelt gegenüber und durch deren Zerstörung ökonomisch zurück gefallen sind. Vermutlich ist es aber gerade der überwiegend politische Ansatz der Umweltbewegung gewesen, der dann zu einer gewissen administrativen Einseitigkeit bei der Umsetzung von umweltpolitischen Reformen geführt hat - Verbote, Restriktionen, Gesetze, Ausführungsbestimmungen, Kontrollen, Bürokratie. Andererseits gab es gerade hier grosse gesetzliche Regelungs- und Vollzugsdefizite, die abgearbeitet werden mussten. Allerdings wurde dabei über viele Jahre hinweg die wirtschaftspolitische Seite des ökologischen Umbaus sträflich vernachlässigt, und gerade die Energiepolitik ist dafür ein hervorragendes Beispiel.
In der Energiepolitik verbuenden sich heute zwei völlig konträre Denkschulen, nämlich eine klassisch neoliberale und eine ökologische, die sich ansonsten politisch und ideologisch wie Feuer und Wasser zueinander verhalten. Dieser Vorgang ist so ungewöhnlich, dass er einer vertieften Betrachtung bedarf. Wie kommt es eigentlich, dass wesentliche Teile einer marktgesteuerten, z.B. die Strommonopole aufbrechenden Energiepolitik, die vor allem in den USA und Grossbritannien aus eindeutig neoliberalen Privatisierungsgründen durchgesetzt wurde, zugleich Vorbild für eine ökologische Neuorientierung der Energiewirtschaft werden konnten, wie sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in einem Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag formuliert haben?193 Anders gefragt: Warum findet sich der Alptraum einer in Grossstrukturen erstarrten Energiepolitik gerade in Frankreich mit seinem nationalen Strommonopol oder, etwas abgeschwächt, in Deutschland mit seinen regionalen Gebietsmonopolen, und nicht in den Mutterländern des neoliberalen Kapitalismus, Grossbritannien und USA? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Verbindung von Staat und Energiewirtschaft bildet unter ökologischen Erneuerungsgesichtspunkten ganz offensichtlich die strukturkonservativste, ja reaktionärste und veränderungsresistenteste Organisationsform der Energiewirtschaft, und gegen dieses letzte Bollwerk des realexistierenden Staatskapitalismus entstand dann jenes denkwürdige "antimonopolistische Buendnis" zwischen Ökologen und Neoliberalen, zwischen Nachhaltigkeit und Markt, Umwelt und Wettbewerb.
Das Stromkartell war ganz offensichtlich nicht durch die Umweltpolitik zu knacken, dazu war diese trotz bester Argumente politisch zu leichtgewichtig, sondern allein durch eine wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik, die das ganze Schwergewicht ökonomischer Interessen ins Gefecht führen konnte. In der Schlacht um die Entmonopolisierung des Stromsektors steht ökonomisches Interesse gegen ökonomisches Interesse, geht es um mehr Markt, Markt überhaupt und nicht in erster Linie um Fragen der Nachhaltigkeit, sondern um Grundsätze des Wettbewerbs gegen Monopole und Monopolpreise im Stromsektor. Die Vermachtung der Energiewirtschaft war für den europäischen Nationalstaat im Zeitalter der Industrialisierung und Motorisierung - ebenso wie die der Eisenbahn und von Post und Fernmeldewesen - eine militär-strategische Frage, die über Sein oder Nichtsein in einem allfälligen Krieg entscheiden konnte. Der Versorgungsgesichtspunkt dominierte, Kosten kamen erst an zweiter Stelle, ökologische Gesichtspunkte kannte man nicht. Die Atomenergie hat diese Vermachtung der Energiepolitik noch weiter eskaliert und verstärkte den Trend zur Erstarrung in mächtigen Kartellen, die darüber hinaus in hohem Masse mit der Politik durchwoben sind. Politisch garantierte Preise, nie versiegende Gewinne aus dem gesetzlichen Strommonopol, Verfilzung von politischen, gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen bis hin zur Pfruendenwirtschaft, Innovationsfeindlichkeit, Wettbewerbsunfähigkeit - all dies waren und sind die Eigenschaften der grossen Stromkartelle. Eine nachhaltig wirkende Energiepolitik zu verfolgen, hiesse für diese Monopole und politischwirtschaftlichen Interessenkartelle, sich selbst in Frage zu stellen und existentiell zu gefährden, und das wäre zuviel an christlicher Nächstenliebe verlangt.
Die Erfahrung bei der Deregulierung der Strommonopole lehrt uns: Der ökologische Umbau ist vor allem in der Verbindung von Umwelt- und Finanzpolitik voranzubringen. Allein ein Bündnis zwischen ökologischen und wirtschaftlichen Interessen, zwischen Nachhaltigkeit und Markt, kann genuegend Macht mobilisieren, um mächtige, strukturkonservative Kartelle in der Wirtschaft aufzubrechen und die notwendige Umsteuerung in Richtung Nachhaltigkeit vorzunehmen. Anders gesagt: Für die Umweltbewegung und die Umweltpolitik, die eher in der klassischen Entgegensetzung von Markt und Umwelt denken und agieren, sollte fortan verstärkt der Markt zur entscheidenden Arena der Auseinandersetzung werden, denn die strategische Auseinandersetzung des ökologischen Umbaus findet um die Marktpreise und die Internalisierung der Kosten des Umweltverbrauc hs statt. Dies wird freilich eine gewisse "Entstaatlichung" des Denkens in der Umweltpolitik voraussetzen, freilich ohne die Rolle der Politik und des Staates aufzugeben oder über nach wie vor bestehende Interessenwidersprueche und unterschiedliche Verantwortlichkeiten hinwegzusehen. Damit wird aber auch die Notwendigkeit neuer Buendnisse der strategischen Akteure in dieser Arena deutlich. Das heisst: Unternehmer und Unternehmen und deren Interessen, die die Chancen einer ökologischen Transformation nutzen, werden bei der ökologischen Transformation eine entscheidende Rolle spielen müssen.
Im Grunde sind es fast immer die beiden identischen Fragen, die bei der Organisation vom Wettbewerb in begrenzten Netzen beantwortet werden müssen: Wie kann man in einem Netz, egal ob Strom, Telefon oder Eisenbahn, möglichst vielen Wettbewerbern die gleichen Zugangsbedingungen ermöglichen? Voraussetzung dafür ist die Öffnung des Netzes, das heisst: Die erste Aufgabe besteht darin, das Eigentumsmonopol am Netz muss aufgebrochen werden - sei es direkt, indem das Netz von der Erzeugung getrennt wird, sei es indirekt, indem das Netz gegen Kostenerstattung von jedem Zugangsberechtigten zu gleichen Bedingungen genutzt werden kann. Der staatliche Regulierungsbedarf besteht in der Öffnung des Netzes und in der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen. Dann erfolgt der Wettbewerb.
Die zweite Aufgabe des Staates bleibt die politische Aufsicht über die Energiewirtschaft, d.h. die Gestaltung der allgemeinen energiewirtschaftlichen Ziele - Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Wettbewerb - und damit die energiepolitische Gestaltung der Rahmenbedingungen des Elektrizitätsmarktes. Privatisierung des Strommarktes heisst nicht Rückzug von Staat und Politik aus ihrer energie- und umweltpolitischen Verantwortung, im Gegenteil. Der Ersatz staatlich regulierter Monopole durch echte Marktstrukturen bei leitungsgebundener Energie stellt einen ordnungspolitischen Instrumentenwechsel dar, nicht mehr, aber auch nicht weniger, keineswegs aber eine Verantwortungsübertragung der Energieaufsicht von der öffentlichen Hand auf private Anbieter. Ziel des Wettbewerbs ist es vor allem, dezentrale Energieerzeugung, mehr Energieeffizienz und Energieeinsparpotentiale zu mobilisieren und neuen, umweltverträglicheren Verfahren und Technologien zum Einstieg in den Markt zu verhelfen und gleichzeitig kleinen und mittelständischen Elektrizitäts- und Wärmeerzeugern einen zukunftsfähigen Markt zu bieten.
Nach welchen energiewirtschaftlichen und ökologischen Vorgaben organisiert der Staat die Zugangsbedingungen zu diesen Netzen? Dies ist die eigentliche, politisch zu beantwortende Frage nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen eines liberalisierten Strommarktes. Will man vor allem Wettbewerb, um lediglich den Strompreis zu senken? Oder will man Wettbewerb auch aus Innovations- und Nachhaltigkeitsgründen? Welche Energiepreispolitik - Niedrig- oder Hochpreispolitik? - ist dann aber notwendig? Genau an der Beantwortung dieser Frage endet jenes denkwürdige antimonopolistische Bündnis zwischen Ökologen und Neoliberalen, denn letztere wollen nur eines - niedrige Energiepreise. Und welche Energieträger sollen bevorzugt, welche begrenzt oder gar aus der Erzeugung herausgenommen werden? Welche neuen Technologien und Dienstleistungen sollen gefördert und zu speziellen Bedingungen in den Markt eingeführt werden? Durch welche Instrumente werden die realen Kosten in die Marktpreise elektrischer Energie internalisiert? All diese Fragen müssen in einem offenen Strommarkt von der Energiepolitik beantwortet werden und als Rahmenbedingungen in die Gestaltung des Strommarktes einfliessen. Allerdings wird dies nicht mehr über die heute noch gueltige, direkte gesetzliche Preisgestaltung geschehen dürfen, sondern man wird sich statt dessen des Instruments einer Energiesteuer bedienen müssen.
Die Monopolunternehmen beherrschen Erzeugung, Transport und Verkauf in ihrem Monopolgebiet, und das macht ihre unanfechtbare wirtschaftliche Machtstellung aus. Damit ist aber auch ihr oberstes Geschäftsinteresse definiert, nämlich die Verteidigung der nie versiegenden, weil gesetzlich garantierten Monopolgewinne, und dieses Interesse wird weiter durch die hohen Kapitalinvestitionen in den Kraftwerkspark und das Leitungsnetz des Unternehmens bestimmt. Diese hohen Investitionen in die
Stromproduktion mittels der Grosskraftwerke und in das Netz erzwingen eine mengenorientierte Verkaufspolitik, da mit jeder verkauften Kilowattstunde elektrischen Stroms sich die Rendite der getätigten Investition vergrössert. Technische Alternativen zu den vorhandenen Grosskraftwerken oder gar die Mobilisierung von Einsparpotentialen schädigen deshalb direkt das Geschäftsinteresse eines Strommonopols, das durch die Struktur seiner getätigten Investitionen ein überragendes Interesse an einem expansiven Absatz von elektrischer Energie hat - und nicht an deren Einsparung. Solange diese Monopolstruktur in der Elektrizitätswirtschaft unangetastet bleibt und Erzeugung, Transport und Verkauf von elektrischer Energie unterne hmensrechtlich durch den Gesetzgeber nicht entflochten werden, wird deshalb weder eine Ökologisierung noch eine echte Marktöffnung der Stromwirtschaft möglich sein, und genau aus diesem Grund muss die kartellrechtliche Deregulierung der Strommonopole für eine ökologische Energiepolitik oberste Priorität geniessen.
Ein weiterer Aspekt kommt noch hinzu, denn die Monopolstruktur blockiert auch den notwendigen wirtschaftlichen Strukturwandel. In der Marktöffnung und Ökologisierung der Stromwirtschaft liegt eines der grossen Innovationspotentiale für die deutsche Volkswirtschaft. Die Marktöffnung bei gleichzeitiger ökologischer Rahmengestaltung wird einen Wettbewerb von neuen Technologien und Dienstleistungen auslösen, ja zu einer regelrechten Gründerzeit mit erheblichen Investitionen führen. Marktöffnung setzt allerdings gleiche Marktzugangsbedingungen voraus, und d.h., dass diese Harmonisierung auch für ausländische Stromlieferanten gelten muss, bevor sie zu dem geöffneten Markt für elektrische Energie zugelassen werden. Monopolgeschütze Dumpingpreise, teilweise sogar über den Staatshaushalt subventioniert, würden ansonsten jede Marktöffnung in ihr Gegenteil verkehren. Allein jene kleine Verbesserung der gesetzlichen Einspeisevergütung für Windenergie durch den Deutschen Bundestag von 1991 hat in Deutschland seit Beginn der neunziger Jahre zu einem regelrechten Investitionsboom geführt und zudem zu einem beachtlichen Gewinn an Arbeitsplätzen in der beteiligten Industrie. Daran kann man erkennen, was erst eine grosse Reform der Energiewirtschaft in der Verbindung von Ökologisierung undMarktöffnung an Innovationen, Investitionen und Arbeitsplätzen bewegen und entwickeln würde.
Die Debatte über die mangelnde Wirtschaftlichkeit von erneuerbaren Energieträgern, allen voran die Sonnenenergienutzung, ist so lange eine müssige Debatte, solange man diesen neuen Ansätzen und Technologien nicht politisch eine wirkliche Chance in einem innovationsfreundlichen energiewirtschaftlichen Umfeld einräumt. Es ist richtig, dass sich gegenwärtig der Anteil der erneuerbaren Energieträger am deutschen Primärenergiebedarf im Promillebereich bewegt. Aber wie sollte dies angesichts einer Energiepolitik auch anders sein, die ganz überwiegend die bestehenden Strukturen konserviert und Veränderungen nur äusserst zaghaft anzupacken wagt. Verbesserte Energieeffizienz, Energieeinsparung und erneuerbare Energieträger heisst der energiewirtschaftliche Dreisatz des 21. Jahrhunderts. Angesichts der bekannten Fakten ist die grundlegende energiewirtschaftliche Systementscheidung in diese Richtung tatsächlich bereits gefallen, denn dieGlobalisierung der Weltwirtschaft wird zu einer anhaltenden Nachfrage nach Primärenergie führen, die mit den heute überwiegend eingesetzten Primärenergieträgern, seien sie nun fossiler oder nuklearer Art, mit den vorhandenen Technologien und deren geringer Effizienz direkt in eine globale Krise führen müssen. Um so wichtiger wird der technologische Durchbruch zu einer sonnenenergiegestuetzten globalen Energiewirtschaft werden. Auch hier versagt die gegenwärtige staatliche Politik - sowohl in der Forschungs- als auch in der Energiepolitik - völlig.
"Ein CO2-Reduktionsziel für die Industrieländer von ca. 80 Prozent bis zur Mitte des kommenden Jahrhunderts erscheint auf den ersten Blick kaum erreichbar, wenn man sich nur die Entwicklung der letzten Jahre vor Augen führt. Man muss jedoch auch betonen, dass die Vorstellung, diese Entwicklung könnte sich bis weit ins nächste Jahrhundert fortsetzen, unrealistisch ist. Die Fortsetzung der gegenwärtigen Emissionstrends würde zwar noch etwa 25 Jahre scheinbar 1guti gehen, dann aber würden Klimaveränderungen einen solchen drastischen Minderungszwang erfordern, dass unter den dann vorherrschenden gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen kaum Technologien vorstellbar sind, die diese radikalen Minderungen erbringen könnten ..." Folgt man dieser Einschätzung des
UMWELTBUNDESAMTES (UBA), immerhin die fachlich zuständige oberste Bundesbehörde, dann ist die Frage, ob die Energiewirtschaft im frühen 21. Jahrhundert einen Quantensprung zur Nutzung der erneuerbaren Energieträger, vor allem der Sonnenenergie, machen muss, bereits heute angesichts dieser absehbaren Entwicklungen entschieden. Es gibt dazu keine Alternative. Allein die Fragen nach dem wann, wer und zu welchem Preis sind noch offen. "Je eher die Menschheit mit der CO2 Minderung beginnt" , so das UBA weiter, "um so mehr Freiheitsgrade bestehen für die Gestaltung einer nachhaltigen Energienutzung." Und beginnen müssen vor allem die grossen Energieverbraucher, die reichen Volkswirtschaften des Westens und Japan, denn nur sie haben auch das Kapital und das technische Knowhow, um eine Energiewende hin zu einer globalen Sonnenenergiewirtschaft zu finanzieren und zu organisieren.
Privates Investitionskapital ist genügend vorhanden, das zeigt das kleine Beispiel Windenergie, unternehmerischer Wagemut ebenfalls, und Technologien und Verfahren stehen zur Verfügung oder sind in der Entwicklung. Die Energiewirtschaft ist hierzulande ein exzellentes Beispiel, wie die Verhinderung des notwendigen ökonomischen und ökologischen Strukturwandels funktioniert und wie verhindert wird, dass tatsächlich neue Industrien, Dienstleistungen, Gewinne und Arbeitsplätze in jenen Grössenordnungen entstehen können, wie dies zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit notwendig wäre. Es fehlt allein an den politischen Voraussetzungen, an der Bereitschaft, am Mut und an der Entschlossenheit der Politik, mit den starren, erneuerungsfeindlichen
Machtstrukturen des Stromkartells Schluss zu machen. Exakt dies ist das eigentliche Thema der sogenannten "Standortdebatte" , die wirkliche Krise des Standorts Deutschland. Und da weiter oben die These formuliert wurde, dass das Scheitern der Deutschland AG beim Aufbau Ost sichtbar wird, so trifft dieses präzise auch auf die Energiewirtschaft zu. 1990 wurde, noch einer Monat vor der staatlichen Einheit, in einem Stromvertrag zwischen der letzten DDR-Regierung und den drei grössten westdeutschen Strommonopolen - RWE Energie, Preussen-Elektra und Bayernwerk - Ostdeutschland die westdeutsche Monopolstruktur übergestuelpt! Damit war jede Chance für eine modernere, wettbewerbsfähigere und ökologischere Energiepolitik in Ostdeutschland vertan.
Eine Marktöffnung für leitungsgebundene Energie bedeutet erstens eine Entmachtung der Energiewirtschaft und führt damit sofort zu einer ökonomischen Neubewertung der Stromproduktion aus Atomkraftwerken, denn, streng betriebswirtschaftlich gerechnet, wird sich deren Kilowattstunde aufgrund der hohen Sicherheits- und Entsorgungskosten als zu teuer erweisen, vor allem wenn weitere Anbieter mit neuen Energieträgern und Technologien ebenfalls zum Zuge kommen. Demonopolisierte Strommärkte sind deshalb ein extrem schwieriges Pflaster für Atomkraftwerke, nicht aber für erneuerbare Energieträger und Einspartechnologien. Zweitens lässt die unternehmerische Trennung von Erzeugung, Transport und Verkauf von leitungsgebundener Energie nicht nur der Mobilisierung dezentraler Kraft-Wärme-Erzeugung einen ganz anderen Raum, sondern die Verkaufsunternehmen haben plötzlich ein ganz anderes betriebswirtschaftliches Interesse an dem
Verkauf von Energiedienstleistungen und nicht mehr nur von Strom. Ein Energieversorger, der seine Elektrizität nicht selbst produziert, sondern sie an einer staatlichen Strombörse von Stromproduzenten kaufen muss und von einem unabhängigen Netzbetreiber gegen Gebühr geliefert bekommt, wird sehr kuehl rechnen, ob sich für ihn zusätzlicher Strom aus dem Netz oder nicht vielmehr der Handel mit Energieeinspartechnologien oder
Technologien zur rationelleren Energienutzung besser rechnen. Es wird diesem Unternehmer also nicht mehr zuerst um die Expansion seines Stromverkaufsgehen, da er diesen Strom nicht selbst erzeugt, sondern um den Verkauf von Energiedienstleistungen. Da er keine Investitionen in Kraftwerke getätigt hat, die sich amortisieren müssen, fällt die Entscheidung entlang einer betriebswirtschaftlichen KostenNutzen-Kalkulation, die einer "Negawatt statt Megawatt" -Strategie des Energiesparens eine echte Chance einräumt. Dies gilt um so mehr, wenn die staatliche Energiepolitik mittels einer Ökosteuer die makroökonomischen Daten noch in die Richtung einer nachhaltigen Entwicklung stellt.
Die Rationalität der Verwendung von Energie sagt sehr viel über die Rationalität einer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und ihrer Kultur aus, und die gegenwärtige Energieverschwendungswirtschaft zeugt demnach von wenig Rationalität. Dies gilt noch um ein Vielfaches mehr, wenn man einen weiteren zentralen Aspekt der Energiepolitik untersucht, nämlich die Mobilität in einer Gesellschaft. Die Mobilitätsfrage ist nun alles andere als nur eine rationale Frage, sondern sie ist zugleich zutiefst emotional geprägt, weil sie den Aktionsradius und die persönlichen Erlebnisund Kommunikationsmöglichkeiten von zahllosen Menschen betrifft. Elektrizität wird gebraucht, Mobilität aber geniesst man auch. In einer Demokratie entscheiden die Mehrheiten über Lebens- und Überlebensfragen. Für die Mehrheit der Bevölkerung wird die Energiefrage und damit die ganz praktische Auseinandersetzung mit der ökologischen Krise und den erreichten Belastungsgrenzen des Ökosystems weder an den Energieträgern als solchen noch an einer spezifischen Energieform wie Elektrizität nachvollziehbar, solange diese im Bedarfsfalle vorhanden ist und es zu keinen anhaltenden Versorgungslücken kommt. Wessen Herz hängt denn schon am elektrischen Strom? Und wer hat sich schon, von einigen Technofreaks abgesehen, in einen bestimmten Primärenergieträger - ob fossil, atomar oder regenerativ - verliebt? Es dürfte da kaum jemand zu finden sein. Wohl aber ist das Automobil und alles, was direkt oder indirekt an ihm hängt, hoch emotionalisiert und bis hin zum echten Drama aufgeladen.
Die moderne Gesellschaft hat sich an
"Selbstverständlichkeiten" gewöhnt, die von aussen betrachtet jedoch alles andere als selbstverständlich sind. So akzeptieren wir, trotz aller Anstrengungen für mehr Verkehrssicherheit, jedes Jahr eine verkehrsbedingte Todes- und Verletztenrate, die an Kriegsverluste erinnert - 8500 Tote und eine halbe Million Verletzte im Jahr 1997. Wir akzeptieren gewaltige volkswirtschaftliche Schäden, akzeptieren wie selbstverständlich riesige Investitionen in den PKW-Bestand, der dann als "ruhender Verkehr" die Strassen säumt. Wir akzeptieren zunehmende Schadstoff- und Lärmemissionen, immer länger werdende Staus, einen wachsenden verkehrsbedingten Flächenverbrauch und vieles mehr, und dennoch verbinden sich mit dem Automobil ein tief sitzendes, nur utopisch zu nennendes Freiheitsversprechen und sehr viel Prestigedenken. Die gesamte Siedlungs- und Beschäftigungsstruktur wurde mittlerweile entlang der automobilen Bedürfnisse und Fähigkeiten ausgerichtet, und die Bedeutung der Automobilindustrie als volkswirtschaftlicher Faktor Nummer 1 wurde bereits erwähnt. Die individuelle Mobilität mittels des Automobils ist wohl eine der ganz grossen Erfolgsgeschichten der Moderne, und genau an ihrem Erfolg droht die automobile Gesellschaft zu scheitern. Denn es ist gerade der Erfolg des Automobils, die weltweit weiter wachsende Massenmotorisierung, die die automobile Gesellschaft gegen die Grenzen des Wachstums fahren lässt. Gerade Deutschland, als einer der weltweit wichtigsten Automobilproduzenten und - exporteure, wird deshalb auch aus höchst eigennuetzigen Gründen die Grenzen des automobilen Wachstums ernst nehmen und über Konsequenzen beizeiten nachdenken müssen. Seine hohe Abhängigkeit von der Automobilproduktion zwingt dazu.
Da nicht davon auszugehen ist, dass angesichts der Massivität der weltweiten Entwicklung hin zum motorisierten Individualverkehr der Trend zur Motorisierung in absehbarer Zeit gebrochen oder gar umgekehrt werden wird, wird erstens alles auf eine bessere Energieeffizienz des Automobils ankommen, zweitens auf einen verringerten Ressourceneinsatz, drittens auf eine erhebliche Reduktion der Schadstoffemissionen, viertens auf den Einsatz von umweltverträglicheren Verkehrsalternativen und fünftens auf die Vermeidung überfluessiger Verkehre. Eine solche Politik liegt übrigens auch und gerade im Interesse der
Automobilindustrie selbst, denn der ökologische und ökonomische Crash ist ohnediese nachhaltig wirkenden Massnahmen absehbar. Zudem trägt dieses verkehrspolitische MassnahmenBündel zur anhaltenden Innovation in der Automobilindustrie und damit auch zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit bei. Es stellt sich beim motorisierten Strassenverkehr ebenfalls die Frage nach der Internalisierung der Kosten, und zwar nicht nur aus direkten umweltpolitischen Gründen, sondern auch, um eine in Preisen ausgedrückt faire Wettbewerbssituation zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern zu schaffen.
Für den Erfolg all dieser Strategien einer nachhaltigen Verkehrswende wird der kuenftige Treibstoffpreis von entscheidender verkehrspolitischer Bedeutung sein: "...der Verteuerung des Kraftstoffes (kommt) eine Schlüsselrolle bei der erforderlichen Verkehrsvermeidung und - verlagerung zu. Die bisherigen Erhöhungen des Mineralölsteuersatzes auf Kraftstoffe haben den sich über Jahrzehnte vollziehenden realen Preisverfall bei Treibstoffen bei weitem nicht kompensieren können, in dessen Folge der reale Benzinpreis 1995 immer noch um rund 40 Prozent unter dem Benzinpreis von 1960 lag. Angesichts der ehrgeizigen Ziele einer nachhaltigen Mobilität...und des Einflusses der Treibstoffpreise auf die Verkehrsentwicklung ist eine deutliche, in vorhersehbaren Stufen sich vollziehende Mineralölsteuererhöhung insbesondere auf Kraftstoffe unverzichtbares Element einer ökologischen Finanzreform, das flankiert werden muss durch den Ausbau der Alternativen zum Kfz- Verkehr und die Verschärfung der Umweltanforderungen an Kfzs. Die Mineralölsteuer für PKWs sowie die fahrleistungsbezogene Schwerverkehrsabgabe für LKWs (road pricing) müssten mindestens die nicht gedeckten externen Kosten des Verkehrs auffangen." 200 Gerade auch beim Kfz-Verkehr wird die Internalisierung der Kosten in die Marktpreise der entscheidende strategische Hebel sowohl für eine Verkehrswende in Richtung Nachhaltigkeit als auch für eine Freisetzung von Innovationen und Investitionen sein.
Wer beim Automobilverkehr über die Internalisierung der realen Kosten von Umwelt- und Energieverbrauch und über den Klimaschutz spricht, darf zum Benzinpreis und den diesen in seiner Höhe ganz wesentlich bestimmenden Satz der Mineralölsteuer nicht schweigen. Dies ist angesichts der recht hitzig geführten öffentlichen Debatte offensichtlich zuerst und vor allem eine emotionale Frage. Dennoch muss auch hier vernuenftig argumentiert und entschieden werden, zumal am Benzinpreis wesentlich mehr als öffentliche Emotionen hängen. Seine zukünftige Höhe wird für das Erreichen der klimaschutzpolitischen Ziele der Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung sein. Aber auch die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie wird von einem hohen Benzinpreis positiv abhängen, auch wenn diese These auf den ersten Augenblick erstaunlich klingen mag. Doch zunächst zum Klimaschutz. Der von der Bundesregierung berufene "Rat von Sachverständigen für Umweltfragen" hat in seinem Gutachten aus dem Jahr 1994 zur Sache bereits Klartext geredet: "Die langfristig anzustrebende Höhe der Mineralölsteuer ist an den gesetzten umweltpolitischen Zielen zu orientieren, vor allem an dem CO2- Minderungsziel der Bundesregierung. Um einen wirksamen Beitrag zur Erreichung des CO2- Ziels zu leisten, müssten die mittleren Kraftstoffpreise (für Otto- und Dieselkraftstoff) nach Schätzungen der Prognos AG bis zum Jahre 2005 auf 4,60 DM angehoben.
werden...Um die Inflationsrate bereinigt, würde dies bereits für 1990 einem Kraftstoffpreis von 2,28 DM entsprechen. Die jährliche Preiserhöhung würde nominell 20 Prozent des realen Preises von 1990 betragen, also rund 23 Pfennig. Als Erfolg einer solchen Verteuerung des Kraftstoffs wird von Prognos mit einem Rückgang der verkehrsbedingten CO2-Emission um 7 Prozent der Werte von 1987 bis zum Jahre 2005 gerechnet." Die Sachverständigen fordern darüber hinaus aus Gründen der Effizienz eine den Energieverbrauch insgesamt belastende, möglichst europaweite Steuer oder CO2-Abgabe.
Die Kraftstoffpreise sind heute, dies wurde bereits weiter oben zitiert, immer noch unverantwortlich niedrig. Deswegen, und keineswegs nur wegen technischer Probleme, tut sich die Automobilindustrie mit dem 3 Liter Auto auch so schwer, weil angesichts der realen, d.h. inflationsbereinigten Kraftstoffpreise so recht die Nachfrage nach dem Sparauto nicht zu sehen ist. Eine politisch durchgesetzte, auf mehrere Jahre angelegte Erhöhung der Mineralölsteuer in der von den Experten der Bundesregierung benannten Grössenordnungen würde sofort zu einem völlig veränderten Verbraucherverhalten bei der Anschaffung von Neuwagen führen, würde einen gewaltigen Innovationsdruck auf die Modellpolitik der Unternehmen ausüben und den Markt für das 3 Liter Auto öffnen. Niemand hängt an einem hohen Kraftstoffverbrauch, die meisten Autofahrer interessiert daran vor allem ihre finanzielle Belastung. Diese würde bei einem 3 Liter Auto, bezogen auf den heutigen durchschnittlichen Flottenverbrauch von 10 Litern und auf die heutigen Kraftstoffpreise, nicht einmal zunehmen. Von einer solch deutlichen Veränderung der Preissignale würde ein grosser technischer Innovationsschub für die nächste Generation von Automobilen ausgelöst, und in beidem läge ein grosser Vorteil für die betroffene Autoindustrie: erstens ein schnellerer Ersatz der heute vorhandenen Automobilflotte und zweitens ein absehbarer Quantensprung in Technik und Fertigung, der die internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen wird. Es ist schon ziemlich verrückt, dass aus arbeitsmarktpolitischen Gründen sogenannte "Abwrackprämien" aus Steuergeldern gefordert und in manchen europäischen Ländern auch gezahlt werden, um die Nachfrage der heimischen Automobilindustrie zu stüzen. Die beste "Abwrackprämie" wäre eine entsprechende Erhöhung der Kraftstoffpreise, die zu einem beschleunigten Flottenaustausch bei gleichzeitiger Entlastung der Umwelt und technischen Wettbewerbsvorteilen der Hersteller führt.
Wirtschaftlicher Strukturwandel schafft Arbeit, sagt man, aber dies ist nur dann richtig, wenn der Strukturwandel nicht nur abbaut, sondern zugleich auch Neues schafft. Dafür muss Politik die Voraussetzungen schaffen. Die Automobilisierung der Bundesrepublik Deutschland seit den späten fünfziger und den frühen sechziger Jahren ist ein sehr gutes Beispiel für die Bewältigung eines unabweisbaren gesellschaftlich-industriellen
Strukturwandels, denn damals wurde, parallel zum Aufbau der Automobilindustrie und der Massenmotorisierung, von staatlicher Seite ein gewaltiges Infrastrukturprogramm
namens Bundesfernstrassenbau und Landesstrassenbau aufgelegt. Der sich entwickelnde Automobilsektor war es damals gewesen (direkt mittels der stark expandierenden inländischen Automobilproduktion und indirekt durch Zulieferbetriebe Stahlindustrie, Strassenbau usw.), der die in der Landwirtschaft und in der schrumpfenden Montanindustrie freiwerdenden Arbeitskräfte aufnahm. Diese Entwicklung wurde durch den staatlich geförderten Strassenbau, von der Gemeinde über die Länder bis hin zum Bund, massiv gefördert. "Das Strassennetz wurde seit 1950 in grossem Umfang ausgebaut und qualitativ verbessert. Verlief der Ausbau in den fünfziger Jahren noch relativ bescheiden, wurde in den beiden folgenden Jahrzehnten das Strassennetz enorm verdichtet. In diesen beiden Jahrzehnten wurde es um jeweils etwa 50000 km verlängert. Das Schienennetz wurde hingegen abgebaut: Während es 1950 einschliesslich der privaten Bahnen noch rund 36600 km betrug, wuchs in den folgenden Jahren immer mehr Gras zwischen den Schienen: bis 1987 wurden 6100 km Schienen demontiert........................... Alleine das Netz
der Bundesautobahnen wurde von 2100 km im Jahre 1950 auf 8720 km (1989) ausgebaut. Der damalige Verkehrsminister Georg Leber formulierte seinerzeit die Zielsetzung: kein Bundesbuerger sollte es weiter als 25 km bis zur nächsten Autobahnauffahrt haben. 1988 wurde das Ziel praktisch erreicht: Eine Untersuchung...ergab, dass 94 Prozent der Bevölkerung nicht länger als dreissig Minuten bis zur nächsten Autobahnauffahrt benötigten."
Heute stehen wir vor der notwendigen Umkehr dieser Entwicklung, da sie ökologisch auf Dauer nicht durchzuhalten sein wird. "Die Ausschöpfung der derzeitigen technischen Möglichkeiten könnte ein
erhebliches Emissionsminderungspotential erschliessen. Bezueglich der Luftschadstoffe könnten einige.Ziele erreicht werden. Eine Reduzierung der CO2-Emissionen des Verkehrs ist mit den technischen Massnahmen allein nicht zu erreichen. Da der Verkehr weiter zunehmen wird, werden die CO2-Emissionen trotz erheblicher spezifischer Kraftstoffverbrauchsminderungen im Jahre 2005 und auch im Jahr 2010 über den Werten von 1990 liegen........................................................................... Eine
Politik der nachhaltigen Mobilität muss daher neben Massnahmen zur Verbesserung der technischen Effizienz auch Massnahmen zur Begrenzung des
Verkehrswachstums und zur Reduzierung der Verkehrsbelastung innerorts ergreifen." Und in seinem "Jahresbericht 1996" erwartet das UBA sogar "durch Zunahme von Autoabgasen statt der von der Bundesregierung angestrebten CO2-Reduktion um 25 Prozent bis 2005 sogar einen Anstieg des wichtigsten Treibhausgases um zehn Prozent zwischen 1996 und 2010 Der weiter anwachsende Strassenverkehr macht
alle Bemuehungen zunichte, den Ausstoss des Klimagases Kohlendioxid (CO2) zu verringern."
Dennoch kann man, bei allen gravierenden Fehlern, von der politisch-konsensuellen Anstrengung der damaligen Zeit für den ökologischen Umbau heute sehr viel lernen, denn vor Deutschland liegt eine vergleichbare, am Ende sogar noch grössere Anstrengung zur umweltgerechten Neuordnung seiner Verkehrsinfrastruktur im 21. Jahrhundert. Genau hierin, in dieser ökologischen Verkehrswende, gemeinsam mit einer Energiewende, liegt aber auch die grosse Chance für Investitionen und Arbeitsplätze. Im Energie- und Verkehrssektor ist der Mut zu jener "produktiven Zerstörung" namens radikaler Erneuerung der bestehenden Strukturen gefordert, die für jeden erfolgreichen ökonomischen Strukturwandel unerlässlich ist. Energie, Verkehr und Kommunikation sind die drei Sektoren, in denen eine Politik in gestaltender Absicht mit der Erneuerung der Infrastruktur die materielle Grundlage für einen neuen Wirtschaftszyklus und damit ein langfristiges Beschäftigungswachstum schaffen kann.
Die Verkehrswende wird den Abschied von der automobilen Gesellschaft bringen, wie wir sie heute kennen und wie sie viele regelrecht lieben. Gewiss wird das Automobil auch in einer nachhaltig organisierten Mobilität der Zukunft noch lange Zeit eine herausragende Funktion behalten, aber sowohl die Technik als auch die Funktion des Automobils werden sich ändern. Das Automobil wird wesentlich funktionaler auf die anderen Verkehrsträger abgestimmt und ein Faktor neben anderen in integrierten Verkehrssystemen sein, damit seine technischen und auch emotionalen Eigenschaften verändern und schliesslich seine fast absolute Dominanz verlieren. Freilich wird dieser kulturelle Bruch mit dem Kult des automobilen "Goldenen Kalbs" wohl der am schwersten zu bewältigende Teil einer ökologischen Verkehrswende sein.
Man stelle sich hypothetisch einmal vor, die emotionale Bindung an das Automobil würde aufgegeben zugunsten eines schlicht rationalen Umgangs mit dem Verkehrsträger Auto. Alles bliebe so, wie es heute ist, allein die Menschen hätten plötzlich zu ihrer geliebten Benzinkutsche ein ausschliesslich zweckrationales Verhältnis, so, wie wir es etwa zum elektrischen Strom haben. Das gesamte Mobilitätsverhalten des modernen Menschen würde sich radikal ändern, damit die Automobilindustrie, ihre Produkte und ihr Absatz, die nachgefragte Technik und die Bewertung und Nachfrage der verschiedenen Verkehrsträger. Immer dann, wenn ein Verkehrsträger alternativlos ist oder kostengünstiger und insgesamt vorteilhafter, würde er benutzt, ansonsten aber die jeweils anderen optimalen Verkehrsträger im Angebot: Wir würden allein durch eine solche Veränderung der Denkweise in den Köpfen, bei Beibehaltung aller anderen Faktoren, inklusive des heutigen Mobilitätsangebots, eine radikale Kulturrevolution der automobilen Gesellschaft erleben! Die Autos würden technisch massiv abgerüstet, ihr teurer Prestigecharakter ginge weitgehend verloren, der Kauf von Automobilen würde zugunsten von zeit- und zweckgebundenen Leihwagen stark zurück gehen und der Anteil der im Kfz zurück gelegten jährlichen Personenkilometer zugunsten anderer Verkehrsträger ebenfalls, und insgesamt würde das Mobilitätsverhalten einer wesentlich rationaleren Kosten- Nutzen-Rechnung unterzogen und damit begrenzt werden.
Angesichts der global massiv zunehmenden Verkehrsemissionen und eines massiven Trends zur weiteren Motorisierung wird an dieser Entwicklung, will man den Klimaschutz nicht ad acta legen, kaum ein Weg vorbeiführen, die Frage ist auch hier nur das Wann, Wie und zu welchen Kosten. Allerdings wird dies eine schrittweise Umstrukturierung des Nah- und Fernverkehrs für Personen und Güter voraussetzen. Und dies setzt die Bereitschaft zu grossen Investitionen in die anderen Verkehrsträger, vor allem in den öffentlichen Verkehr und in die Schiene im Nah- und Fernverkehr voraus.
Deutschland liegt zwischen Alpen und Nord- und Ostsee in der Mitte Europas. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenwachsen Europas ist Deutschland zum europäischen Haupttransitland für Personen und vor allem für Güter geworden, und diese Entwicklung wird sich mit dem erfolgrei- chen wirtschaftlichen Aufbauprozess in Osteuropa noch erheblich beschleunigen. Dies ist ein weiterer Grund für eine radikale Wende in der Verkehrspolitik hin zur Schiene, denn wenn dieser Transit von Personen und Gütern hauptsächlich auf der Strasse stattfinden wird, wie es sich gegenwärtig abzeichnet, dann wird es nur noch "Gute Nacht, Deutschland" heissen können.
Der Individualverkehr in den Ballungsgebieten wird zunehmend öffentlichem Verkehr weichen müssen, der schienengebun- dene Fernverkehr muss national und gesamteuropäisch zu einer echten Alternative ausgebaut werden, der Güterfernverkehr wird nicht länger die rollende Lagerhaltung auf den Strassen betreiben können und verstärkt den Verkehrsträger Schiene benutzen müssen. Aber angesichts der prognostizierten Verkehrszuwächse wird vor allem an der Verkehrsvermeidung kein Weg vorbeiführen. Dies ist vor allem eine Planungs- und eine Preisfrage, und insofern wird eine strukturelle Ökologisierung der Mobilität durch eine andere Siedlungsstruktur, durch die Neuorganisation des Verkehrs in den Ballungsgebieten und im ländlichen Raum und durch eine schrittweise Veränderung des Preisgefüges für Mobilität ebenfalls vor allem Zeit und sehr viel Zustimmung brauchen. Die automobile Gesellschaft ist in drei bis vier Jahrzehnten entstanden, ihre Ökologisierung wird nicht wesentlich schneller gehen, da die Transformation grosser, komplexer Strukturen und tief verwurzelter Verhaltensmuster - und damit hat man es bei einer Politik der Verkehrsvermeidung zu tun - nicht innerhalb weniger Jahre vor sich gehen wird. Schritt für Schritt also wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Ökologisierung des zentralen Faktors Mobilität vorangebracht werden müssen, und dies wird alles andere als billig werden, aber wir sprechen hier vor allem über Investitionen, über Gewinne und Arbeitsplätze mit Zukunft.
Eine ökologische Verkehrswende muss jenseits der strukturellen Verkehrsvermeidung und einer rationalen Neubewertung des Faktors Automobil auf eine zweite Eisenbahnrevolution setzen. Die Möglichkeiten dieses Verkehrsträgers wie auch der Rad-Schiene-Technik sind mitnichten ausgereizt, weder im Nah- noch im Fernverkehr. Allerdings wird es hier grosser Aus- und Neubauanstrengungen bedürfen, neuer Technik auch und vor allem einer Organisation, die sich in Preis und Service als wettbewerbsfähig zu Strasse und Luftverkehr erweist. Warum soll es nicht auch hier einen wirklichen Abschied vom Monopol, die Trennung von Netzzugang und Netzbetrieb geben? Gewiss sind die Probleme hier komplexer als im Stromsektor, aber warum soll es nicht auch auf diesem Verkehrsträger verstärkt Wettbewerb geben? Private Speditionen etwa sollten die Möglichkeiten des Verkehrsträgers Schiene nutzen können, und ebenso ist Wettbewerb beim Personentransport denkbar. Es ist kein Naturgesetz, dass öffentliche Ver- kehrsmittel immer teurer, altmodischer, unflexibler und unsicherer sein müssen als das private Kfz, sondern diese Defizite sind in hohem Masse politisch gewollt. Eine Modernisierung des öffentlichen Verkehrs ist letztendlich allein eine Frage von Kreativität, Innovation, unternehmerischer Initiative und der dafür notwendigen politischen Rahmenbedingungen.
Energiewende und Verkehrswende setzen also die richtigen politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen voraus, damit es zu massiven Investitionen und damit neuen Arbeitsplätzen kommen kann. Dennoch bleibt ein Letztes und zugleich Entscheidendes, nämlich eine Veränderung der Preissignale. Normalerweise ist die Preisgestaltung in einer Marktwirtschaft die Aufgabe des Marktes, aber die Synchronisation von Marktpreisen und der knappen Ressource Umwelt gelingt mittels des Marktes nur höchst unzureichend, da die Marktpreise und der Umweltverbrauch auf verschiedenen Zeitebenen bewertet werden. Die Märkte reagieren kurzfristig, die Ökosysteme langfristig. Exponentielles Wachstum vollzieht sich im Quadrat, das heisst: Man kann lange nichts oder wenig merken, dann aber ereignen sich mit jeder weiteren Verdoppelung der Belastung die Dinge sehr schnell. Daraus folgt aber, dass ökologische Krisen aufgrund ihrer langen Verzögerungseffekte immer erst in ihrem Endstadium eine Reaktion der Marktpreise auslösen werden, also dann, wenn es eigentlich für eine angemessene, auch ökonomisch rationale Preisreaktion viel zu spät ist. Zudem sind die Bremswege sehr lang, wenn sich Ökosysteme bereits auf dem Crashkurs befinden und umzukippen drohen: Kurzfristig kann man hier nichts beheben. Dies ist eines der Hauptprobleme der Ökologisierung der kapitalistischen
Wachstumsgesellschaften, denn würde die Wirtschaft aus sich heraus zu einer Internalisierung der Kosten für Umweltverbrauch und -belastung kommen, dann wäre der ökologische Umbau heute das Programm der Arbeitgeberverbände und nicht das von Umweltgruppen, Ökoinitiativen und Verbänden. Dem ist aber nicht so, leider, und deshalb muss die Angleichung der Marktpreise an die realen Kosten von Umweltverbrauch und -belastung durch die Politik erfolgen. Und dies ist ein sehr schwieriges, gleichwohl alternativloses Unterfangen und zwingt zu einer ökologischen Steuerreform.
Kern einer ökologischen Steuerreform ist nicht die Mineralölsteuer, sondern die allgemeine Besteuerung des Energieverbrauchs, d.h. eine Verbrauchssteuer auf den Energiegehalt fossiler und atomarer Primärenergie und auf deren CO2-Emissionen (für die Atomenergie empfiehlt sich ein angemessener Risikozuschlag) für Unternehmen und private Haushalte.207 Sie verfolgt zwei Ziele: Erstens soll eine Verteuerung der Energie eine Annäherung der Marktpreise an die realen Kosten des Energieverbrauchs erreichen, zugleich entsprechende Effizienz- und Einsparpotentiale mobilisieren, darüber hinaus die technische Innovation in eine nachhaltige Richtung lenken und so insgesamt einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Umwelt leisten. Zweitens geht es aber auch um die fiskalische Zukunftssicherung des Staates, da sowohl aus Gründen des internationalen Standortwettbewerbs als auch einer langfristig abnehmenden Lohnsumme die direkten Steuern von Unternehmen und Beschäftigten zwar nicht verschwinden, in ihrer Bedeutung aber abnehmen werden, und sich deshalb die Steuerlast verstärkt in Richtung indirekter Steuern wird verschieben müssen. Auch eine nachhaltig organisierte Volkswirtschaft wird immer einen bestimmten Energie- und Ressourcenverbrauch benötigen, der sich allerdings erheblich unter der heute herrschenden Verschwendung bewegen wird. Seine Besteuerung wird dauerhaft sein und ist überaus sinnvoll, zumal die sozialen Sicherungssysteme eines neuen Gesellschaftsvertrags von einer wesentlich stärkeren Steuerfinanzierung abhängig sein werden. Eine Energiesteuer ist eben keine zweckgebundene Abgabe, wie z.B. die Abwasserabgabe, sondern es handelt sich bei ihr um eine neue Steuersäule im öffentlichen Finanzsystem.
Insofern verbinden sich in einer ökologischen Steuerreform zwei Systemelemente, nämlich ein ökologisches Vermeidungselement und ein fiskalisches Besteuerungselement, deren Verbindung zu einer fiskalischen Schwierigkeit führt. Das Vermeidungselement einer Energiesteuer muss zusätzlich Verbraucher und Unternehmen belasten, damit es wirkt, das Besteuerungselement aber wird schlicht zu einer Steuererhöhung ohne Vermeidungswirkung führen - und damit zu einer Erhöhung des Staatsanteils, wenn es nicht an anderer Stelle zu einer Steuerentlastung in entsprechenden Grössenordnungen kommt. Und Steuererhöhungen sind nicht gerade populär, heute weniger denn je zuvor, und somit würde man die politische Akzeptanz einer ökologischen Steuerreform sehr schnell gefährden. Gerät eine ökologische Steuerreform in den begründeten Verdacht, nur ein anderer Begriff für eine getarnte Steuererhöhung zu sein, wird sie politisch scheitern. Deshalb ist die Frage der Aufkommensneutralität fiskalisch und politisch die Schüsselfrage zur Durchsetzung einer ökologischen Steuerreform.
Steuern, Eigentum und die Zukunft des Sozialstaates
Was ursprünglich eher als eine Schwierigkeit der Energiesteuer erschien, erweist sich heute angesichts der nur noch absurd zu nennenden Fehlsteuerung der Steuern- und Abgabenlast in Deutschland als der eigentliche Charme dieser neuen Steuerart, denn in der Doppelgesichtigkeit einer Energiesteuer liegt ihre grosse Chance, die doppelte Krise von Umwelt und Arbeitsmarkt bekämpfen zu können - wenn sie insgesamt aufkommensneutral ist. Die Neujustierung von Belastungen und Entlastungen in beiden Bereichen ist die Hauptaufgabe einer allgemeinen Steuerreform, die in Deutschland nach wie vor aussteht. Die als Alternative zur Einführung einer Energiesteuer immer wieder diskutierte Erhöhung der Mehrwertsteuer, eine andere Form der Verbrauchsbesteuerung, hätte hingegen ausschliesslich fiskalische Wirkung und zudem negative Beschäftigungseffekte.
Das doppelte Dilemma von Umweltkrise und Arbeitslosigkeit besteht darin, dass in Deutschland der Umweltverbrauch innovationsfeindlich viel zu billig ist, während die Arbeit auf Grund zu hoher Bruttolohnkosten für Beschäftigungszuwächse viel zu teuer ist. Diese Fehlentwicklung ist vor allem politisch zu verantworten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Finanzierung der Kosten der Deutschen Einheit über die Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung diese beiden Bestandteile des Bruttolohns (inklusive Arbeitgeberanteile) stark nach oben getrieben und Arbeit so immer teurer gemacht hat. Damit wurde aber nur der Rationalisierungsdruck in den Unternehmen mit der Folge eines weiteren Beschäftigungsabbaus verstärkt. Gleichzeitig aber haben die zunehmende Massenarbeitslosigkeit, eine mehrjährige Lohnzurück haltung der Gewerkschaften in den Tarifrunden, die daraus folgende Lohnentwicklung unterhalb der Produktivitätssteigerungen und eine beständig wachsende Steuer- und Abgabenlast zu einer negativen Entwicklung bei den verfügbaren Einkommen geführt, das heisst: Die Masse der Bevölkerung hat weniger Geld für ihren täglichen Bedarf zur Verfügung. Damit wird aber der Anstieg der Arbeitslosigkeit aus zwei Gründen synchron vorangetrieben: Die Bruttolöhne steigen weiter, was den Rationalisierungsdruck und damit die Arbeitslosigkeit verstärkt, und zugleich haben die Beschäftigten immer weniger Geld in der Tasche, was die Binnenkonjunktur lahmen lässt - und dadurch wird erneut die Arbeitslosigkeit nach oben getrieben. Mit dieser selbstgestellten Doppelfalle der aktuellen Regierungspolitik erreicht die politische Fehlsteürung der makroökonomischen Entwicklung der deutschen Wirschaft einen nur noch grotesk zu nennenden Höhepunkt.
Wenn aber in Deutschland die Arbeit zu teuer und die Umwelt zu billig ist, stehen drei Alternativen zur Verfügung: Weitere Lohnsenkungen oder Kürzungen von Versicherungsleistungen, das heisst vor allem Rentenkürzungen, oder Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung der Senkung der Lohnnebenkosten sind die drei zur Verfügung stehenden Alternativen. Eine weitere Absenkung des Nettolohnniveaus, das heisst noch geringere verfügbare Einkommen der Erwerbstätigen, wäre ökonomisch unsinnig, konjunkturell schäd- lich, sozial äusserst ungerecht und deshalb hoch konfliktträchtig. Angesichts dieser Ausgangslage führt an einer Senkung der Versicherungsbeiträge, die in den Lohnnebenkosten enthalten sind, kein Weg vorbei, denn eine solche Absenkung wird sofort positiv auf die verfügbaren Einkommen durchschlagen, ohne falsche Konjunktursignale auszulösen. Die Alternativen dazu sind wenig überzeugend, denn sie bestehen entweder in entsolidarisierenden Leistungskürzungen - vor allem das Tabu der Rentenkürzung müßte dann gebrochen werden - oder in Steuererhöhungen. Eine Senkung der hohen Bruttolohnkosten wird nur durch Beitrags- kürzungen und damit durch Leistungseinschränkungen bei der gesetzlichen Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und/oder der gesetzlichen Krankenversicherung zu erreichen sein. Oder aber durch Steuererhöhungen, um versicherungs- fremde Leistungen, die diesen Versicherungsträgern vor allem einheitsbedingt aufgebürdet wurden, durch Steuergeld umzufinanzieren und somit zu Beitragssenkungen und damit auch zu einer Senkung der Bruttolohnkosten zu kommen. Exakt hier greift nun die zweite Komponente einer Energiesteuer, nämlich ihre fiskalische Ertragsfähigkeit. Energie wird in grossem Umfang verbraucht, das heisst: Auch bei einer massvoll beginnenden Energiebesteuerung hätte man es sehr schnell mit einem grösseren Steuervolumen zu tun, das zur Gegenfinanzierung einer Senkung der Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge eingesetzt werden könnte. Zudem wird eine Energiesteuer, verbunden mit einer stufenweisen, in akzeptabel massvollen Schritten vorgenommenen Mineralölsteuererhöhung, die Kostenstruktur und damit die Nachfrage ändern, neue Investitionsmöglichkeiten, Märkte und Beschäftigungsfelder erschliessen, kurz, eine innovative Wirkung auf Technik, Investitionen und Beschäftigung haben. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer hingegen würde kaum positive Folgewirkungen zeitigen, ausser dass die Steuereinnahmen erhöht und der Druck in die Schwarzarbeit beim Handwerk noch verstärkt würden. Man sieht: Die Einführung einer Energiesteuer ist nicht nur der entscheidende Hebel für die strategische Grundfrage des ökologischen Umbaus, nämlich der Internalisierung der Kosten des Umweltverbrauchs in die Marktpreise, sondern eine Energiesteuer löst auch das spezifisch deutsche Problem zu hoher Lohnnebenkosten. Angesichts analoger Probleme innerhalb der meisten anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union würde in absehbarer Zeit, wenn vor allem Deutschland seine bisher blockierende Haltung veränderte, sogar eine Energiesteuer auf europäischer Ebene möglich werden, aus Wettbewerbsgründen gewiss die beste Lösung. Aber auch nationale Alleingänge sind durchaus möglich, wie die Beispiele der Niederlande, Dänemarks und Finnlands beweisen.
Einer ökologischen Steuerreform kommt also angesichts der Notwendigkeit der Internalisierung externer Umweltkosten in die Marktpreise allerhöchste Priorität zu, vor allem durch sie können die falsch ausgerichteten Preissignale von Umweltverbrauch und Arbeit korrigiert werden. Was sich gegenwärtig in Deutschland zeigt, bedingt vor allem durch den Sonderfall der Deutschen Einheit, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein langfristig wirkender, struktureller Faktor der neuen Arbeitsmärkte in Deutschland insgesamt: ein in Zukunft dauerhafter und höherer Finanzierungsbedarf für die gesetzliche Rentenversicherung aus Steuermitteln. Die zukünftigen Beschäftigungsverhältnisse entwickeln sich generell weg vom dauerhaften Vollerwerbsarbeits- platz hin zu solchen mit eher geringerer Entlohnung, und sie werden zudem wesentlich kurzfristiger und unbeständiger sein als die traditionellen Dauerarbeitsverhältnisse des alten Arbeitsmarktes. Der beständige Wechsel zwischen Beschäftigung und Beschäftigungslosigkeit, Requalifizierung und verstärkter Teilzeitarbeit wird den Anteil der lohnbezogenen Beiträge an den gesetzlichen Sicherungssystemen abnehmen lassen und die Zunahme des steuerfinanzierten Anteils, vor allem an einer umlagefinanzierten solidarischen Alterssicherung, über das heute schon vorhandene Mass hinaus notwendig machen.
Die einheitsbedingte Steigerung der Lohnnebenkosten demonstriert demnach sehr praktisch die Folgen der strukturellen Zukunftskrise der sozialen Sicherungssysteme, verursacht durch deren Überlastung auf Grund abnehmender Beiträge und der zunehmenden Zahl von Leistungsbeziehern. Die heutige Krise der gesetzlichen Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung ist das Ergebnis einer falschen, weil ungerechten Politik des Staates, der die Lasten der Einheit statt über Steuererhöhungen über die solidarischen Versicherungssysteme finanziert. Es ist den Menschen in Ostdeutschland gewiss nicht vorzuwerfen, dass sie keine Rentenversicherungsbeiträge auf Grund der Deutschen Teilung in den vergangenen vier Jahrzehnten einzahlen konnten, ebensowenig tragen sie die Verantwortung für die überproportional hohe Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern. Genau dies sind aber die beiden Ursachen, die die gesetzlichen Versicherungssysteme gegenwärtig sehr stark belasten. Aus dieser Fehlsteuerung der Politik lässt sich aber bereits die zukünftige Krise dieser Sozialversicherungssysteme ganz allgemein ablesen, denn die langfristige Entwicklung der Arbeitsmärkte weg vom Vollerwerbsarbeitsplatz und hin zu mehr oder weniger gesicherten, immer wieder unterbrochenen Beschäftigungsverhältnissen in der Arbeitswelt von morgen wird dauerhaft eine ähnliche Auswirkung auf die gesetzlichen Versicherungssysteme haben wie jetzt die Belastungen durch die Finanzierung der deutschen Einheit: zu wenige Beitragszahler und zu viele Leistungsbezieher. Die Konsequenzen bei fehlender Zusatzfinanzierung aus Steuern oder anderen Mitteln sind bekannt: entweder sehr hohe Beiträge und demnach eine Verteuerung der Arbeitskosten mit der Folge einer wachsenden Arbeitslosigkeit - oder eine drastische Absenkung der Leistungen und eine zunehmende Verarmung der von diesen Sozialtransfers abhängigen Menschen.
Die Zukunft des demokratischen Sozialstaates aber ist ohne solidarische Sozialversicherungssysteme und vor allem ohne eine solidarische Alters-, Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung nicht denkbar. Neuerdings kommt noch die Pflegeversicherung hinzu, die angesichts der demographischen Entwicklung im Altersaufbau der Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Auch ein der Globalisierung angepasster Sozialstaat wird diesen Kernbestand gesellschaftlicher Solidarität organisieren und finanzieren müssen. Eine überwiegend privatisierte, das hiesse privatversicherungsrechtliche Vorsorge vor allem für das Alter und die Gesundheit würde nicht nur den Sozialstaat als solchen beseitigen, sondern zugleich zu einer wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm beitragen und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden. Der Sozialstaat folgt mit der gesetzlichen Sozialversicherung eben erade nicht einem privatrechtlichen Versicherungsprinzip, sondern er garantiert neben der Alters- und Gesundheitsvorsorge für die breite Mehrheit des Volkes zugleich auch einen solidarischen Ausgleich unterschiedlicher Lasten und Risiken zugunsten benachteiligter Gruppen und Personen.
Allerdings wird sich seine Verankerung in den lohnbezogenen Beiträgen angesichts des Wettbewerbsdrucks auf die Arbeitskosten und angesichts der stark zunehmenden neuen Beschäftigungsverhältnisse erheblich lockern. An einer dauerhaften, wesentlich grösseren Steuerfinanzierung führt demnach kein Weg vorbei. Und da sich aus denselben Wettbewerbsgründen auch die stärkere direkte Besteuerung von Arbeits-, Vermögens und Kapitaleinkommen langfristig verbietet - im Gegenteil besteht die Notwendigkeit weiterer Steuerentlastungen -, bleibt auch hier nur die Möglichkeit einer strukturellen Verlagerung dieser Lasten auf die indirekten Steuern. Angesichts dieses langfristig wirkenden Trends ist es nur vernünftig, die Besteuerung der knappen Ressourcen Umwelt und Energie, die heute viel zu billig sind, zur Grundlage des Sozial- und Steuersystems von morgen zu machen.
Eine Fehlsteuerung liegt im übrigen nicht nur bei der zu teuren Arbeit und zu billigen Umwelt vor. Unser Einkommenssteuersystem hat sich insgesamt in eine falsche Richtung entwickelt. Deutschland wird mehr und mehr zu einem "Lohnsteuerstaat" . Die Körperschaftssteuer ist rückläufig, ebenso die veranlagte Einkommenssteuer, während Lohnsteuer und Mehrwertsteuer fiskalisch immer bedeutsamer geworden sind. Das Steuersystem ist zu kompliziert, deshalb zu undurchsichtig, und fördert so auf fast schamlose Art und Weise gutorganisierte Vermögen und Spitzeneinkommen, die in der Lage sind, sich der zahlreichen legalen Umgehungstatbestände, Abschreibungen und Subventionen zu bedienen. Die Hauptlast des gegenwärtigen Steuersystems tragen vor allem die in die steuerliche Belastungsprogression hineinwachsenden Beschäftigten, die Masse der Lohnsteuerzahler und nach wie vor die Familien, das heisst jene Menschen, die sich für Kinder entschieden haben. Der Sozialstaat von morgen wird in einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr die Sicherung des individuellen Lebensstandards gewährleisten können, sondern, jenseits des alten Generationenvertrages, sich mehr und mehr auf eine bedarfsorientierte Grundsicherung und die
Zugangsgerechtigkeit zu Bildung, Arbeit, Vermögensbildung und Wohlstand zurück ziehen müssen. Wenn dem so ist und demnach auf der Grundlage dieser reduzierten sozialstaatlichen Sicherung verstärkt von den einzelnen Bürgern, auch der unteren Einkommensschichten, Eigenvorsorge zu der sozialstaatlichen Sicherung hinzutreten muss, dann allerdings wird eine steuerliche Entlastung der Bürger gerade im mittleren Bereich unverzichtbar. Im unteren Bereich dagegen geht es weniger um die steuerliche Entlastung als vielmehr um die Verantwortung des Sozialstaates dafür, dass Menschen mit geringerem Einkommen überhaupt in die Lage versetzt werden, Eigenvorsorge betreiben zu können. Und wo dies nicht möglich ist, muss die sozialstaatliche Verantwortung uneingeschränkt weiter gelten.
Eine solche Steuerreform jedoch bedeutet keine generelle Hinwendung zum Niedrigsteuerstaat. In dem Augenblick, wo eine Steuerreform letztendlich den Rückzug des Staates aus seiner sozialstaatlichen Verantwortung beabsichtigt, das heisst mittels einer drastischen Steuersenkungspolitik die sozialpolitische Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen massiv eingeschränkt werden soll, verkommt die notwendige Anpassung des bestehenden Einkommenssteuersystems zu neoliberaler Gesellschaftspolitik. Der Neoliberalismus versucht durch die Einschränkung der finanziellen Handlungsfähigkeit des Staates seine gesellschaftspolitischen Ziele einer weitergehenden Entlastung der Besitzenden (und damit eine Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich) durchzusetzen, und genau darum darf es bei einer Steuerreform eben nicht gehen.
Neben einer Aufrechterhaltung der Finanzkraft des Staates muss eine Steuerreform drei politische Ziele verfolgen:
Das Steuersystem muss die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen fördern und die Leistungsbereitschaft der Bürger unterstützen. Es muss sozial gerecht sein, das heisst die Lasten staatlicher Verantwortung einkommensgerecht verteilen. Und es muss die Eigenvorsorge durch Steuerentlastung fördern. Wenn der Sozialstaat von morgen mehr Eigenverantwortung seiner Bürger voraussetzt, dann muss das Steuersystem diese Eigenverantwortung für die Masse der Steuern zahlenden Bürgerinnen und Bürger durch niedrigere Sätze ermöglichen.
Folgt man diesen politischen Zielen, so wird eine Einkommenssteuerreform eine Absenkung der Tarife bei den Unternehmenssteuern notwendig machen, und zwar aus Wettbewerbsgründen. Das deutsche Steuersystem zeichnet sich dadurch aus, dass es eine erhebliche Differenz zwischen den nominalen und den realen Steuersätzen gibt, auch und vor allem im Unternehmensbereich. Hier bedarf es einer weitgehenden Streichung der Abschreibungs- und Umgehungstatbestände und einer Angleichung der nominalen an die realen Steuersätze. Dennoch wird der Druck auf eine reale Senkung der Unternehmenssteuern weiter anhalten, wobei ein fiskalischer Abwertungswettlauf nur kurzfristige Vorteile bringt, sehr schnell aber für alle beteiligten europäischen Länder schwere Nachteile zeitigen wird. Deshalb wird eine Rahmenharmonisierung der wichtigsten Steuern innerhalb der EU unverzichtbar sein. Vorrangig bleibt aber eine steuerliche Förderung des Mittelstandes und von Unternehmensgründungen aus den oben erwähnten arbeitsmarktpolitischen Gründen, nicht aber eine steuerliche Freistellung grosser Vermögen. Der Wegfall der Vermögenssteuer ist unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit ein schlichter Skandal, der zudem null positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung hat, er bedarf deshalb schleunigst der Korrektur. Für Spitzeneinkommen und grosse Vermögen ist Deutschland kein Hochsteuerland, daher sind hier auch keine realen Entlastungen herbeizuführen, gleichwohl wird es zu nominalen Entlastungen bei einer Absenkung des Spitzensteuersatzes kommen.
Auch bei der privaten Einkommenssteuer bedarf es einer Angleichung der nominalen an die realen Steuersätze durch eine Senkung von Eingangssteuersatz bis zu einem Spitzensteuersatz, finanziert durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Der Grundsatz der sozialen Steuergerechtigkeit muss bei einer Steuerreform vor allem zweierlei leisten: Erstens die Entlastung der unteren und mittleren Einkommen, vor allem eine Entlastung der in die Progression hineinwachsenden Leistungsträger. Zweitens die Entlastung von Familien oder Lebensgemeinschaften mit Kindern. Hier besteht ein fundamentaler Widerspruch zu den gesellschaftspolitischen Zielsetzungen einer neoliberalen Steuerreform. Jeder Generationenvertrag, sei er umlagen- oder kapitaldeckungsfinanziert, ruht letztendlich auf den Schultern der kommenden Generation, und demnach ist ein Steuersystem, das Lebensgemeinschaften mit Kindern eher belastet als fördert, während die blosse Eheschliessung bereits zu einer erheblichen Steuerentlastung führt, eine dringend der
Korrektur bedürftige Fehlsteuerung des Systems. Niemandem soll seine persönliche Lebensgestaltung vorgeschrieben werden, aber die Struktur steuerlicher Belastungen muss nicht nur einkommensgerecht, sondern auch generationsgerecht sein. Hinzu muss eine volle steuerliche Freistellung aller privaten Vorsorgeleistungen kommen. Wenn diese Voraussetzung gegeben ist, ist allerdings nicht mehr einzusehen, warum Alterseinkommen ab einer bestimmten Grössenordnung steuerlich freigestellt werden sollen. Für die grosse Mehrzahl der Rentenbezieher wird dies allerdings weiterhin Steuerfreiheit bedeuten.
Niedrigere Steuersätze für Unternehmen, echte Entlastung für mittlere und untere Einkommen und für Familien, Wegfall von Steuersubventionen, Abzugsmöglichkeiten und Ausnahmen, ein einfacheres, durchsichtigeres und gerechteres Einkommenssteuersystem und - sobald dies die öffentlichen Finanzen zulassen - auch eine allgemeine echte steuerliche Nettoentlastung: Eine solche Reform der Einkommenssteuer dient der Wettbewerbsfähigkeit, der Steuergerechtigkeit und der Eigenvorsorge. Nun werden die USA von den neoliberalen Standortapologeten sehr gerne als Vorbild für die notwendigen Reformen in Deutschland angeführt. Der amerikanische Steuerstaat allerdings ist wesentlich härter als der europäische und namentlich der deutsche, Kapitalerträge und Veräusserungsgewinne unterliegen alle und ohne Ausnahme, im Gegensatz zu Deutschland, der Besteuerung. Jeder amerikanische Staatsbürger oder in den USA steuerpflichtige Ausländer ist zu einer Steuererklärung verpflichtet, ob er im Ausland lebt oder nicht, und seine ausländische Steuerlast wird mit der inländischen verrechnet. Steuerflucht ist wesentlich schwieriger als hierzulande, und die Strafen für Steuervergehen sind weitaus härter.
Ein solcherart reformierter Steuerstaat wird, da seine fiskalischen Spielräume durch den Zwang zur Steuersenkung erheblich eingeschränkt wurden, auch bei uns gegenüber Steuerflucht, Steuerumgehung und - hinterziehung bei Unternehmen und Privatpersonen wesentlich unnachsichtiger vorgehen als bisher. Auch hier wird es also eine gewisse "Amerikanisierung" geben, zumal die grenzüberschreitende Steuerumgehung von Unternehmen durch Gewinntransfers in Niedrigsteuergebiete und auch die Steuerflucht von Privatvermögen in sogenannte "Steuerparadiese" für den deutschen Fiskus nicht mehr tolerable Ausmasse erreicht haben. Ein reformiertes Einkommenssteuersystem mit niedrigeren Steuersätzen wird auch ein gründliches Verschliessen der Fluchtmöglichkeiten plus europäischer Harmonisierung notwendig machen, wenn die Reform funktionieren soll. Und ein Weiteres kann man von den USA lernen: die wesentlich stärkere Besteuerung von grossen Erbschaften, die nach vierzigjähriger Friedenszeit und auf Grund des jetzt stattfindenden Generationenwechsels in den kommenden Jahren in Deutschland fällig werden - allerdings in Verbindung mit einer Öffnung des Stiftungsrechts. Es geht hier nicht um die Eigentumswohnung, das kleine Häuschen oder den Handwerksbetrieb, die mittels hoher Freibeträge nur gering belastet bleiben sollen, sondern um die wirklichen Vermögen, die einer stärkeren Besteuerung unterliegen müssen. Gleichzeitig sollte der Staat allerdings den Weg in die wissenschaftliche, kulturelle oder soziale Stiftung massiv fördern und gesetzlich wie steuerlich erleichtern. Gerade angesichts des Rückzugs des Staates aus zahlreichen Förderungen in diesen gesellschaftlichen Bereichen muss die private Stiftung ganz anders steuerlich gefördert werden, flankiert durch eine wesentlich schärfere Erbschaftssteuer. Hier kann man nicht nur, nein, hier muss man gerade von den USA lernen, wo der Erbschaftsfall als zivilgesellschaftliche Chance der Vermögensumverteilung mittels des privaten Stiftungswesens genutzt wird.
Die Krise der industriellen Vollerwerbsarbeit musste zu einer Krise der sozialen Sicherungssysteme führen, da von der Ertragsfähigkeit der Vollerwerbsarbeit die Finanzierung der sozialen Sicherung wesentlich abhängt. Der Generationenvertrag wird über die gesetzliche Rentenversicherung von den Beiträgen finanziert, die Teil des Bruttolohns sind. Nimmt die Zahl der Beitragszahler ab und steigen zugleich die Leistungen der Rentenkassen, so müssen als logische Folge die Beiträge steigen, es sei denn, die Renten würden gekürzt. Die Entwicklung trifft nun keineswegs Deutschland allein, sondern nahezu alle Mitgliedsstaaten der EU.
"Alle potentiellen Teilnehmer der EWWU [Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, d. A.] stehen - ebenso wie grosse Teile der Industrieländer insgesamt - seit Jahren vor grossen Problemen in ihren sozialen Sicherungssystemen. Die Länder wenden zwischen 24 und 32 Prozent ihrer Wirtschaftsleistungen für den Sozialbereich auf, wobei der grösste Teil auf Alters- und Krankheitsvorsorge entfällt. Bei allen elf Beitrittskandidaten basieren die Systeme zum grössten
Teil auf dem Umlageverfahren. Sie sind damit besonders anfällig gegen Arbeitslosigkeit und Verschlechterung der Altersstruktur. Angesichts der Beschäftigungsprobleme in den meisten Ländern liegen die Ausgaben für die Sicherung gegen Alter und Krankheit bereits heute an der Grenze ihrer Finanzierbarkeit. Das insgesamt hohe Leistungsniveau kann durch immer höhere Belastungen der Arbeitskosten nicht aufrechterhalten werden........................................................................................ Die
Gefahr wächst, wenn die seit geraumer Zeit bekannten demographischen Umwälzungen die umlagefinanzierten Sicherungssysteme zu sprengen drohen. Der stetig zunehmende Anteil alter und sehr alter Menschen an der Gesamtbevölkerung wird im Jahre 2005 fast ein Drittel ausmachen. Ohne nachhaltige Reformen der Sozialsysteme sehen sich viele EU-Länder in Zukunft explosionsartig ansteigenden öffentlichen Defiziten und damit Schuldenständen gegenüber."
Nun wird auf die strukturelle Krise der gesetzlichen Rentenversicherung gerne mit dem Vorschlag Leistungskürzung und private Zusatzversicherung geantwortet, aber dieser Vorschlag setzt ein gewisses Einkommensniveau voraus, damit überhaupt privat für das Alter angespart werden kann. Für die Masse der Erwerbstätigen, die bei sinkenden verfügbaren Einkommen bereits heute versuchen, ihren Lebensstandard durch Verbrauch ihrer Ersparnisse zu halten, würde dies noch eine weitere Einschränkung ihrer verfügbaren Einkommen bedeuten, mit fatalen Auswirkungen für ihren Lebensstandard und die Binnennachfrage. Und auch ein steigender Steueranteil bei der gesetzlichen Rente wird vor allem dazu dienen müssen, die strukturellen Beitragsdefizite auszugleichen, die aus der Arbeitswelt
von morgen mit ihren wesentlich grösseren Beschäftigungsrisiken erwachsen werden. Ein Systemwechsel, weg von einer beitragsbezogenen und umlagefinanzierten Rente hin zu einer ausschliesslich steuerfinanzierten Grundrente, die faktisch eine andere Form allgemeiner Sozialhilfe im Alter wäre, ist weder Wünschenswert noch politisch durchsetzbar, ganz davon abgesehen, dass sie nicht finanzierbar ist. Freilich besteht das Risiko, dass sich selbst bei Beibehaltung des gegenwärtigen Systems die beitragsbezogene gesetzliche Rentenversicherung ohne eine zusätzliche Finanzierung (unter dem Druck abnehmender Beitragszahlungen und der dramatisch ansteigenden Zahl von Ruheständlern) faktisch zu einer beitragsabhängigen Grundrente entwickelt, und das genau wäre dann die schlechteste Variante.
Eine völlige Umstellung auf Kapitaldeckung zerschlägt aber nicht nur den solidarischen Charakter der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern sie geht Natürlich auch erhebliche Risiken mit ihrer Abhängigkeit von den Kapitalmärkten ein, deren Zuwächse keineswegs langfristig den heute eingeschlagenen Wachstumspfad verfolgen müssen. Angesichts der Risiken der umlagenfinanzierten gesetzlichen Rente und auch der kapitalmarktabhängigen Alterssicherung spricht angesichts der demographischen Entwicklung der europäischen Gesellschaften eigentlich alles für eine möglichst breite Diversifikation des Risikos, das heisst eine Ergänzung des solidarischen Umlagesystems durch eine zweite Säule der Alterssicherung. Diese müßte kapitalgedeckt die gesetzliche Rente ergänzen, und erst dann begänne die private Altersversorgung durch
Versicherungen, Vermögen, Ersparnisse, etc. Die Schweiz hat ein bedenkenswertes System entwickelt, das sich gewiss nicht unmittelbar auf Deutschland übertragen lässt, von dem man dennoch unter dem Gesichtspunkt von Risikostreuung in der Alterssicherung einiges lernen kann. Die gesetzliche Rentenversicherung ist dort eine Volksversicherung, in der alle ohne Ausnahme versichert sind und in die alle einzahlen, auch Selbständige und Unternehmer. Die Beitragsleistungen der Spitzenverdiener - auch Einkommen aus Vermögen werden belangt -, sind relativ hoch, für die Rente gibt es Kappungsgrenzen, so dass es zu einer solidarischen Umverteilung innerhalb des Systems kommt. Freilich darf man nicht vergessen, dass die Schweiz nur sehr niedrige Einkommenssteuertarife hat, wenn man dieses Modell analysiert. Die zweite gesetzliche Säule ist die betriebliche Rentenversicherung, die jedes Unternehmen seinen Mitarbeitern anbieten muss und die alle abhängig Beschäftigten umfasst. Die Betriebsrenten sind kapitalgedeckt über Fonds an den Finanzmärkten.
Die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Beamte ist angesichts der enormen Versorgungslasten, die auf alle drei staatlichen Ebenen - Bund, Länder, Gemeinden, vor allem auf die Länder mit ihren grossen, personalintensiven Haushalten - zukommen, eigentlich nur zu vernünftig. Allein die ideologische Bindung an den Beamtenstatus verhindert dies. Und auch die Einbeziehung von Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung ist angesichts der neuen Selbständigkeit vor allem von Klein- und Kleinstunternehmern unabdingbar, wenn man nicht erhebliche Armutsrisiken im Alter in Kauf nehmen will.
Die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer allgemeinen beitragsbezogenen Volksversicherung ist also unter allen Gesichtspunkten vernünftig, wird aber gleichwohl politisch nicht einfach durchzusetzen sein. Freilich führt dies nur kurzfristig über höhere Einnahmen zu einer Entlastung der Rentenkassen, mittelfristig werden die Lasten dadurch nicht geringer. Das Finanzierungsdefizit lässt sich damit nicht beheben.
Dazu böte sich heute vor allem für die beiden schwierigsten Jahrzehnte von 2010 bis 2030 der Aufbau eines zusätzlichen Kapitalstocks an, der sich etwa aus zwei Prozentpunkten der gesetzlichen Rentenversicherung speisen liesse, wenn es zu einer durch eine Ernergiesteuer gegenfinanzierten Senkung des Beitragssatzes um mehrere Prozentpunkte kommen könnte. Eine Anhebung der gegenwärtigen Rentenbeiträge um zwei Prozentpunkte zur Finanzierung eines zusätzlichen "Rentenzukunftsfonds" ist bei dem Höchststand des Beitragssatzes aus ökonomischen Wettbewerbsgründen allerdings nicht möglich. Die Arbeitslosigkeit würde dadurch weiter gesteigert und nicht abgebaut. Der neue Generationenvertrag als Kern des neuen Gesellschaftsvertrags wirft die zentrale Frage aller kapitalistischen Gesellschaften erneut auf, nämlich die Verteilungsfrage und damit die Eigentumsfrage. Ohne diese Frage zu stellen und zu beantworten, wird weder eine solidarische Antwort auf die Krise des Generationenvertrages möglich sein noch eine solidarische Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates im Zeitalter des Globalismus.
Es wurde in diesem Buch bereits mehrmals angesprochen: die Lohnsumme nimmt ab, die Kapitalerträge nehmen zu.
Es handelt sich hier um strukturelle, langfristige Trends, und genau deshalb gerät die gesamte Konstruktion des bisherigen Sozialstaates, die an der Lohnsumme hängt, ins Wanken. Ohne dass die Kapitalerträge zur Finanzierung des zukünftigen Sozialstaates und vor allem des neuen Generationenvertrages zusätzlich herangezogen werden, wird eine strukturelle Sanierung der Alterssicherung nicht möglich sein. Im Klartext heisst dies: die Beteiligung der Erwerbstätigen an den Kapitalerträgen und eine zunehmende Beteiligung am produktiven Eigentum in den verschiedensten Formen, sei es nun als Investivlohn, Aktienbeteiligungen für Mitarbeiter bei Unternehmensgründungen, Erfolgsbeteiligungen für Mitarbeiter auf allen Betriebsebenen (und nicht nur für das Top-Management) durch Aktienbeteiligungen und eine grundsätzliche Reform der betrieblichen Alterssicherungssysteme in Richtung des Schweizer Systems. Der Gesetzgeber sollte dazu die Bildung betrieblicher und überbetrieblicher Alterssicherungsfonds auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen und entsprechend steuerlich präferieren, bis sie sich durchgesetzt haben. Dies alles gilt Natürlich auch für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes.
In einer globalisierten Zukunft werden die nationalen Klammern nicht verschwinden, in ihrer Bedeutung werden sie sich aber verändern. Nationale Wirtschaftspolitik, nationale Finanz- und Arbeitsmärkte und damit die nationalökonomische Verankerung des Sozialstaates werden sich zunehmend lockern. Und wenn dies nicht für grosse Teile der Bevölkerung und der Erwerbstätigen zu einem Trauma vom Absturz in die neue Unbehaustheit der Weltmärkte werden soll, mit absehbar hochgefährlichen politischen Reaktionen, dann bekommt die neue Verankerung des Sozialstaates im Kapitaleigentum und in der Beteiligung von Kapitalerträgen (neben seinen schwächer werdenden traditionellen Ankern) auch eine überragende gesellschaftspolitische Bedeutung. Die demokratische Linke unterschätzt bis heute die gesellschaftspolitisch überragende Bedeutung der Kapitalbeteiligung breiter Bevölkerungsschichten. Der Aktienkapitalismus wird die dominante Organisationsform in der Aera des Globalismus sein, und darauf wird der neue Gesellschafts- und Generationenvertrag auszurichten sein. Dies hat nur dem Anschein nach etwas mit der "Vermögenbildung in Arbeitnehmerhand" der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zu tun. Damals war dies das allerletzte Sahnehäubchen des traditionellen Sozial- und Wohlfahrtsstaates, heute hingegen rückt die Kapitalbeteiligung der Beschäftigten ins gesellschaftspolitische Zentrum des Verteilungskonflikts im Aktienkapitalismus. Und ergo wird für die demokratische Linke und die Gewerkschaftsbewegung der Schritt von der Mitbestimmungsgesellschaft hin zur Mitbeteiligungsgesellschaft zu gehen sein, wenn der Sozialstaat unter den Bedingungen des Globalismus eine Zukunft haben soll. Steuern und Löhne als zentrale Verteilungsmechanismen werden in Zukunft nicht mehr ausreichen, Kapitalbesitz und Kapitalerträge werden ergänzend hinzutreten müssen.
Der neue Sozialstaat wird weniger "Staat" und mehr "Gesellschaft" sein als der Sozialstaat der klassischen Arbeitsgesellschaft. Dennoch werden die gesetzlichen Sicherungen, die legislative und administrative Umsetzung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüchen mittels des
Staates wie auch dessen Verantwortung für die kollektive Daseinsvorsorge bestehen bleiben müssen. Der erneuerte Sozialstaat wird eine Neubestimmung des Verhältnisses von staatlicher Daseinsvorsorge, gesellschaftlichem Engagement und individueller Eigenverantwortung vornehmen müssen, will er sich nicht sofort wieder in der Finanzierungsfalle verfangen. An zwei zentralen Punkten des neuen Sozialstaates wird dies entschieden werden, nämlich an der staatlichen Sicherung des individuellen Lebensstandards und an den sozialen Netzen. Eine staaatliche Lebensstandardsicherung im Einzelfall wird es jenseits der weiterhin notwendigen Verteilungsgerechtigkeit und der Sicherung des Zugangs zu gleichen Chancen für Arbeit, Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherheit nicht mehr geben, weil dies die materiellen Möglichkeiten des globalisierten
Wettbewerbsstaates sprengen würde. Diese bittere Erkenntnis wird die demokratische Politik ihren Wählern allerdings erst noch vermitteln müssen, und das wird alles andere als einfach sein, weil daran die Frage der Mehrheitsfähigkeit und damit ganz unmittelbar die Machtfrage hängen. Darüber hinaus aber wird in den sozialen
Netzen, wie übrigens auch im Steuersystem, das Verhältnis von Geben und Nehmen, von staatlicher und gesellschaftlicher Hilfsbereitschaft und dem gesetzlichen Anspruch auf Hilfe neu bestimmt werden. Die neuen Arbeitsmärkte werden den Wechsel zwischen Vollerwerbsarbeitsplatz, Teilzeit, Aus- und Fortbildung und zeitlich befristetem Aufenthalt in einem der sozialen Netze zur Normalität machen. Dies hat dann nur noch sehr eingeschränkt mit Armutsabwehr oder gar Für sorge zu tun, sondern wird integraler Teil der zukünftigen Erberbsbiographie. Deshalb ist ein Übergang von der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer existenzsichernden Grundsicherung unabweisbar. Freilich wird in einem Grundsicherungssystem ein ganz anderer Druck zur individuellen Eigeninitiative auf die Leistungsbezieher ausgehen, damit die Grenzen der Finanzierbarkeit des Systems nicht gesprengt werden. Für die Unternehmen und die besitzenden Schichten wird dieses neue individuelle Verantwortungsethos allerdings im Steuer- und Abgabensystem seine harte Entsprechung finden. Dort wird die Zeit der Kavaliersdelikte definitiv zu Ende gehen.
Schluss
Ein neuer Gesellschaftsvertrag, der die sozialstaatliche Antwort auf die Globalisierung der Märkte, die Tertiarisierung der Wirtschaft, die Individualisierung der Gesellschaft, die ökologischen Grenzen des Wachstums, die Veränderungen des Arbeitsmarktes und des Erwerbslebens sowie die gewachsene Bedeutung der Bildung gibt und der einen neuen Generationenvertrag in einer Gesellschaft des langen Lebens entwickelt, ist für den demokratischen Zusammenhalt der europäischen Staaten unverzichtbar.
Der soziale und demokratische Zusammenhalt kapitalistischer Wettbewerbsgesellschaften ist ohne diesen neuen Gesellschaftsvertrag nicht aufrechtzuerhalten. Dabei handelt es sich um kein Schönwetterprojekt, sondern um eine tiefgreifende politische Neugestaltung, die nicht ohne schwere Auseinandersetzungen und Kämpfe im Rahmen der demokratischen und gesellschaftlichen Institutionen zu erreichen sein wird. Die Verhandlungen zu diesem neuen Gesellschaftsvertrag finden in den Arenen des demokratischen Streits und Wettbewerbs und des Konflikts der Tarifpartner und sozialen Interessengruppen statt, aber letztendlich zielt diese Auseinandersetzung auf Konsens und Vertrag und nicht auf Konflikt und Unterwerfung. Der Neoliberalismus bietet für Europa keine Perspektive, da er bewusst das Risiko der Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Kauf nimmt. Die Abkehr vom sozialstaatlichen Konsens jedoch würde in Europa eine Büchse der Pandora öffnen, die im 21. Jahrhundert besser verschlossen bleiben sollte.
Das hohe Mass an sozialer Stabilität, gesellschaftlicher Integration und stabiler politischer und monetärer Strukturen verdankt Europa seiner sozialstaatlichmarktwirtschaftlichen Verfasstheit. Diese soziale Marktwirtschaft auf die Herausforderungen des Globalismus einzustellen und dabei zugleich den dramatischen innergesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden, bleibt deshalb die grosse Herausforderung der beiden vor uns liegenden Jahrzehnte. Es gibt zwei unterschiedliche politische Angebote für diese nicht aufzuschiebende Modernisierung: die neoliberale Modernisierung und die sozialökologische Modernisierung. Zwischen diesen beiden Modernisierungsangeboten wird innerhalb der Europäischen Union und ihrer einzelnen Mitgliedsstaaten die historische Auseinandersetzung um die Neugestaltung Europas im Zeitalter des Globalismus gehen. Beide Modernisierungsvarianten werden den Menschen viel an Belastungen und Veränderungen zumuten müssen, der Neoliberalismus setzt dabei auf Besitzegoismus und Konflikt, der Sozialökologismus auf Solidarität und Konsens. Der Neoliberalismus verheisst kurzfristigen Gewinn, auf mittlere Sicht allerdings wird er in seinen Folgekosten extrem teuer werden und politisch unkalkulierbar bleiben. Der Sozialökologismus hingegen muss die Bereitschaft der Menschen zur Über nahme kurzfristiger Mehrbelastungen gewinnen, um auf mittlere Sicht die Erträge der Reforminverstitionen in die ökologische und soziale Erneuerung des Landes geniessen zu können. Dies wird die weitaus schwierigere Aufgabe sein, und gerade deshalb muss die sozialökologische Modernisierung die Gerechtigkeitsfrage als Wertefrage in Gestalt eines neuen Gesellschaftsvertrags in den Mittelpunkt ihrer Strategie stellen und diese mit einer neuen technischwirtschaftlichen Gründerzeit, der Infrastrukturrevolution des ökologischen Umbaus und der demokratischen Staatserneuerung verbinden. Solidarität und Gerechtigkeit werden die elementaren Werte dieser Modernisierung sein müssen.
Das alte Europa, dem kaum noch jemand etwas zugetraut hatte, schickt sich jetzt mit der Wirtschafts- und Währungsunion an, auf die Globalisierung mit einer veritablen historischen Revolution zu antworten. Mit dem EURO als gemeinsamer Währung von elf Nationen innerhalb der EU wird zum ersten Mal ein Kernbereich der Souveränität des europäischen Nationalstaates auf eine europäische Institution übertragen, und damit tritt die EU in eine neue historische Phase ein. Die gemeinsame europäische Währung ist ein politisches Gründungsprojekt für ein neues Völkerrechtssubjekt, nämlich der EUROPÄISCHEN UNION, und die Währungsunion wird einen grossen Druck zu weiteren Souveränitätsübertragungen in Richtung einer europäischen Demokratie unter Einschluss der beteiligten Nationalstaaten - und nicht durch deren Überwindung - nach sich ziehen. Spätestens mit der gemeinsamen Währung ist demnach in der EU die politische Verfassungsfrage aufgeworfen und muss, wenn auch Schritt für Schritt, beantwortet werden. Zu vertagen wird sie nicht mehr sein. Jede Verfassung gründet auf Werte, und die europäische Demokratie wird gewiss nicht die Summe der Traditionen ihrer Mitgliedsstaaten sein, wohl aber sehr stark von diesen beeinflusst werden. Die alles überragenden Traditionen, auf denen Europa gründet, sind aber bis auf den heutigen Tag die Werte der Aufklärung und der Grossen Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Auch ein zusammenwachsendes Europa wird keine besseren Grundwerte finden. Nur wenn die europäischen Staaten in der Europäischen Union als neuem Subjekt der Politik des 21. Jahrhunderts zusammenfinden - auf der Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages und der entstehenden europäischen Demokratie -, werden sie ihre Rolle im Zeitalter des Globalismus finden und spielen können. Und nur so werden sie auch ihre Eigenständigkeit und ihre recht eigenen Traditionen bewahren können. Dies ist der eigentliche politische Sinn der gemeinsamen europäischen Währung und zugleich Europas historische Antwort auf das 21. Jahrhundert und das Zeitalter des Globalismus.
Für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Eine politische Antwort auf die globale Revolution (Josc...odt
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