Einleitung
"To be or not to be" oder
War Hamlet ein deutscher Linker?
"Die einzige Revolution, die der Kapitalismus akzeptiert, wird nicht gegen ihn angezettelt, sondern durch ihn selbst."
Andreas Zielcke
Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ging eine aggressive, ja militant antisozialstaatliche neokonservative Revolution von Grossbritannien aus, erreichte Amerika, gewann dort an hegemonialer Kraft und hat gegenwärtig das kontinentale Westeuropa erreicht. Die zunehmende innere Individualisierung der reichen Gesellschaften des Westens und die wachsende Globalisierung der Märkte und Unternehmen formten die gesellschaftliche Grundlage für den durchschlagenden Erfolg eines radikalen Wirtschaftsindividualismus und für die damit einhergehende fundamentale Krise der demokratischen Linken, die dann spätestens mit dem Kollaps der Sowjetunion voll zum Durchbruch kam. Die Implosion des Sowjetkommunismus hat die Weltordnung der zwischen Kapitalismus und Sozialismus zweigeteilten Welt mit sich in den Orkus der Geschichte gerissen, und in den Nebeln dieses welthistorischen Umsturzes zeichnet sich der Umriss eines neuen Zeitalters ab: das Zeitalter des Globalismus.
Die bipolare Systemkonkurrenz zweier politischer, militärischer, ökonomischer und ideologisch-kultureller Supermächte ist dem Pluralismus der Globalisierung von Märkten, Kapitalien, Unternehmen, Arbeitskräften, Kosten und Informationen gewichen. Ein Zeitalter der extremen gegenseitigen Abschottung und Konfrontation wird von einer nicht minder extremen Epoche der globalen Vernetzung und Kooperation abgelöst. Stand die Epoche des Kalten Krieges ganz unter dem Zeichen der apokalyptischen Furcht vor der Atombombe, so scheint heute die schöne neue Welt der globalisierten Zukunft den Verheissungen des World Wide Web zu folgen. Die Macht - und damit der Staat - ist zugunsten der Märkte und der Wirtschaft in den Hintergrund getreten. Nunmehr konkurrieren nicht mehr politisch-militärische
Supermächte gegeneinander, sondern rund um die Welt Märkte und damit Wirtschaftsstandorte. Durch diese weltweite Wirtschaftsrevolution droht nun der demokratische Sozialstaat Westeuropas zum nationalen Wettbewerbsstaat um Standortvorteile zu verkommen, und eine solche Veränderung wird für die betroffenen Völker weitreichende Folgen haben - ökonomisch, sozial und politisch. Für Westeuropa geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob sein über vierzig Jahre entwickeltes Wirtschafts-, ja Gesellschaftsmodell im 21. Jahrhundert überholt ist oder nicht, ob es also erneuerbar ist oder durch die Globalisierung definitiv ad acta gelegt werden wird.
Die demokratische Linke des Westens war niemals Gestalten des politisches Subjekt dieser Entwicklung, sondern wurde von diesem Umbruch politisch wie ideologisch quasi überfahren. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur ersten Ölpreiskrise 1973 war das "Goldene Zeitalter" der westlichen Reformlinken gewesen, in der sie bei Vollbeschäftigung und beständig steigenden Masseneinkommen den westlichen Sozialstaat durchgesetzt und ausgebaut hatte. Der danach einsetzenden neokonservativen Wirtschaftsrevolution, dem späteren Kollaps des Sowjetkommunismus und der sich damit beschleunigenden ökonomischen Globalisierung seit 1989/90 stand und steht sie dagegen mehr oder weniger hilflos gegenüber. Tragende Grundlagen dessen, was bisher als -links" galt, scheinen unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung zu Staub zermahlen zu werden. Alle Zeichen der Zeit sprechen für grosse, ja für revolutionäre Veränderungen in den beiden kommenden Jahrzehnten, während die klassischen Protagonisten von Veränderung, von Reform, ja bisweilen selbst von Revolution, die Linke also, zu ängstlichen Besitzstandswahrern und erschrockenen Verteidigern des erreichten Status quo verkümmert zu sein scheinen.
Wie sagte doch dagegen ganz anders Karl Marx? "Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind."
Angesichts der historischen Revolution der Globalisierung und ihrer Herausforderungen leistet sich die deutsche Linke, acht Jahre nach der deutschen Einheit, eine zweite, merkwürdig weltfremd anmutende und den historischen Prozess fast ignorierende Debatte, die alle Züge einer kollektiven politischen Verdrängung trägt. Die Position, dass es sich bei der Frage der Globalisierung der Wirtschaft lediglich um einen gelungenen
Propagandacoup von Kapital und Wirtschaftsliberalen zu Lasten der abhängig Beschäftigten, des Sozialstaats und der sozialen Gerechtigkeit handele, wird die Linke, wenn sie daran festhält, erneut wie bei der deutschen Einheit auf Jahre ins politische Abseits und damit in die Machtlosigkeit der Daueropposition führen. Alle diese Befürchtungen über die Ausbeutung der Globalisierung durch das Kapital zu Lasten von abhängig Beschäftigten und sozialer Gerechtigkeit sind ja nicht einmal falsch, sondern im Gegenteil sogar meist völlig zutreffend, um diesen Teil der Debatte sofort abzuschliessen. Selbstverständlich versucht das Kapital weltweit, diese Revolution namens Globalisierung ohne viel Federlesens und allzu grosse Rücksichtnahmen zu seinen Gunsten zu nutzen. Was denn auch sonst? Der Kapitalismus wird selbst im Sozialstaat nicht nach den Grundsätzen der Caritas, sondern entlang egoistischer Interessen organisiert.
Marktwirtschaft ist keine moralische Besserungsanstalt (und niemand hat dies öfter und lauter beschrieen als eben die Linke!), sondern sie funktioniert gemäss dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, also der Stärkeverhältnisse widerstreitender Interessen und ihrer egoistischen Vorteilslogik. Und nun führt gegenwärtig leider an der schmerzhaften Erkenntnis kein Weg vorbei, dass sich weltweit und damit auch hierzulande die Bedingungen zu Lasten grosser Teile der auf den Märkten angebotenen Arbeit dramatisch verschlechtert haben. Dies gilt vor allem für nichtqualifizierte oder schlecht qualifizierte Arbeit, und exakt dieses Segment des Arbeitsmarktes wird von der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Volkswirtschaften am schwersten getroffen.
Wie damals, bei der deutschen Einheit, verkehren sich die politischen Fronten: Während die Konservativen angesichts einer historischen Herausforderung und Chance ihre ansonsten sehr erfolgreiche Politik des -Weiter so" aufgeben, drohen ausgerechnet jetzt Teile der politischen Reformkräfte in Deutschland, gemeinhin bisher "die Linke" genannt, zu Beginn einer veritablen Revolution namens Globalisierung, jene konservative Politik des - Weiter so" zu übernehmen, wo diese Politik historisch obsolet geworden ist. Das ist nicht nur eine historische Absurdität, sondern politisch auch eine klare und definitive Verliererstrategie. Allerdings, wie schon der gestern noch ach so vielgeschmähte und heute bereits wieder mit neuer Nachdenklichkeit erinnerte Karl Marx in seinem -18. Brumaire" 4 zur Mitte des letzten Jahrhunderts weitsichtig erkannte: Geschichte wiederholt sich zwar, aber war sie das erste Mal noch eine Tragödie, so verkommt sie beim zweiten Mal meistens zur Farce, und exakt diese Gefahr droht der deutschen Linken mit ihrer Verdrängung der Globalisierung.
Neu an der Globalisierung ist unter anderem, dass diese internationale Entwicklung völlig ohne eine echte oder auch nur behauptete Systemalternative daherkommt. Viele schimpfen über diese Entwicklung, andere beklagen sie und empören sich über ihre negativen Auswirkungen, aber keine praktische Macht bekämpft die ökonomische Globalisierung auf wirksame Art und Weise. Ob China, Russland, Asien, Europa, Lateinamerika oder wo auch immer, alle wollen sie an dieser Globalisierung der kapitalistischen Marktwirtschaft teilhaben, nahezu alle Nationen begreifen den Wettlauf um ihre möglichst günstige Positionierung in der neu entstehenden globalisierten Wirtschaftsordnung als eine Frage von höchster nationaler Priorität für die Zukunft ihrer Staaten. Und jene Länder, die keine Chance haben, sich an diesem Prozess der Globalisierung auf absehbare Zeit zu beteiligen - sie liegen vor allem in Afrika -, gelten schon heute als die ökonomischen und politischen Verlierer des kommenden Jahrhunderts.
Die Revolution der Globalisierung wird, anders als das Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung von Jalta, nicht nur eine alte Weltordnung zusammenstürzen lassen, sondern vielmehr die Grundlagen einer neuen Weltordnung hervorbringen. Wir sind gegenwärtig Zeitzeugen eines weiteren Voranschreitens jener -Grossen Transformation" von agrarischen in industrielle und nunmehr weiter in nachindustrielle Gesellschaften, wie sie Karl Polanyi in seinem epochemachenden Werk 1944 analysiert hat, ein Buch, das angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen von einer beklemmenden Aktualität ist. Mit der Revolution der Globalisierung wird der Rahmen allen politischen Handelns und folglich auch der Verteilung der Macht und des Wohlstandes zwischen den Nationen und auch national in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft neu bestimmt. Die kommenden Jahre werden folglich nach Gestaltung schreien, nach sehr grundsätzlicher Gestaltung sogar, und bei allem Bedeutungsverlust der traditionellen europäischen Nationalstaaten zugunsten multinationaler Unternehmen und Märkte wird die Gestaltungskraft der Politik und damit einer Regierung dennoch alles andere als zu unterschätzen sein.
In den beiden kommenden Jahrzehnten werden strukturelle Weichenstellungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vorgenommen werden müssen, bei denen es entscheidend darauf ankommen wird, welche politischen Kräfte in der Demokratie gestalten und welche lediglich das oppositionelle Korrektiv abgeben dürfen. Und diese Weichenstellungen werden fundamentale Veränderungen für die Zukunft des westeuropäischen Sozialstaates und damit auch für die Gestaltung der zukünftigen Gesellschaftsordnung in Deutschland und Europa im Zeitalter des Globalismus mit sich bringen, bei denen es um nichts Geringeres gehen wird als um den solidarischen Zusammenhalt, um die Kohäsion unserer demokratisch verfassten Gesellschaft, d.h. die sozialstaatliche Verfassung ihrer Ordnung.
Ganz praktisch wird also die Frage zu beantworten sein: Steht Europa mit der Globalisierung vor einer neuen Aera der Ungleichheit durch zunehmend extremer werdende Einkommensunterschiede, oder gelingt es, den - rheinischen Kapitalismus", jenen westeuropäischen Dreiklang von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat, unter den neuen Bedingungen des Globalismus ohne Aufgabe des Sozialen zu restrukturieren und dadurch zukunftsfähig zu machen? Daran wird sich die neue Links-Rechts-Frage auf unserem Kontinent nach dem Ende des Sozialismus entwickeln - "Kapitalismus contra Kapitalismus" - wie Michel Albert diese Epoche charakterisiert, und exakt auf diese Frage muss sich der Diskurs der Linken in Deutschland konzentrieren, wenn sie ihre Mehrheits-und Machtfähigkeit nicht endgültig abschreiben will.
Die Welt organisiert sich in einem grossen historischen Prozess voller Brüche und Instabilitäten, voller Risiken und Chancen völlig neu, ob einem das gefällt oder nicht, und keine ernstzunehmende politische Kraft kann diesen Prozess ignorieren, ohne nicht selbst schwersten Schaden zu nehmen, gerade weil es dabei um die Fundamente der eigenen Überzeugungen und Interessen geht. Die Folgen der Globalisierung und deren praktische Konsequenzen erschüttern direkt entscheidende Grundwerte der demokratischen Linken: die Vision einer solidarischen Gesellschaft, die neben den kurzfristigen Gewinninteressen vor allem die mittelfristigen Interessen der Umwelterhaltung, der sozialen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit den Mitteln des Nationalstaates und seines bisherigen beherrschenden Einflusses auf die Wirtschaft verfolgt. -Gemeinwohl" heisst dafür das altertümliche deutsche Wort, welches dem radikalindividualistischen Zeitgeist der Gegenwart allerdings völlig entgegensteht. In dem Begriff des Gemeinwohls ist die individuelle Freiheit und damit auch die Freiheit des individuellen Besitzes und des Eigentums ausbalanciert mit der Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum. Das heisst konkret, die Rechte der abhängig Beschäftigten und des privaten Kapitals besitzen einen annähernd gleichen Verfassungsrang, die gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeit und selbstverdientes Einkommen bleibt der Regelfall der Biographie eines erwachsenen Menschen, und die Massenarbeitslosigkeit mit ihren fatalen Folgen für die Individuen und die Gesellschaft wird niemals akzeptiert, die Chancengleichheit in Bildung und Ausbildung gilt - unbesehen der Herkunft und des Vermögens der Eltern - für alle Kinder und Heranwachsenden und wird durch Verfassung und staatliches Handeln garantiert, die grossen Lebensrisiken der Bürger wie Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit werden durch sozialstaatliche Verfassung, politische Garantien und einer Mischung aus solidarischer Finanzierung und privater Vorsorge überwiegend kollektiv abgesichert, und es gibt eine letzte, staatlich durch Gesetz garantierte Barriere gegen Armut und Obdachlosigkeit, die sich an der Menschenwürde und damit an dem Mindestbedarf für eine menschenwürdige Existenz orientiert, massenhafte Armut wird politisch nicht hingenommen.
Exakt diese Grundwerte der demokratischen Linken, die den Kernbestand des westeuropäischen Sozialstaates ausmachen, geraten nun durch den Prozess der Globalisierung gewaltig unter Druck und werden von einer marktradikalen Ideologie im Unternehmerlager, des akademischen und politischen Wirtschaftsliberalismus und in Teilen des politischen Konservativismus zunehmend zur Disposition gestellt. Aber gerade dann, wenn der Kern der eigenen politischen, sozialen und kulturellen Überzeugungen , Werte und Interessen durch einen historischen Umbruch wie die Globalisierung bedroht oder gar in Frage gestellt wird, erzwingt dies den nüchternen Blick auf die Wirklichkeit dieses Umbruchs, eine vorurteilslose theoretische Analyse. Sie verlangt unter Umständen eine Neustrukturierung der eigenen Grundwerte, Überzeugungen und Interessen, um sie auch unter diesen fundamental neuen Bedingungen nicht endgültig zu verlieren, sondern vielmehr erhalten und auch in Zukunft politisch und gesellschaftlich erfolgreich durchsetzen zu können.
Sowenig es den frühen Sozialisten und auch den damaligen Handwerkern und Bauern geholfen hat, sich gegen die erste industrielle Revolution seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und dann vor allem im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu stellen, obwohl deren persönliche Folgen für die Betroffenen zumeist grausam waren und Sozialismus und Arbeiterbewegung erst Jahrzehnte danach unter opferreichsten Kämpfen und dann innerhalb des Industriesystems ihre befreiende Wirkung für ein ins Elend gezwungenes Industrieproletariat entfalten konnten, sowenig wird es heute der europäischen Linken nützen , wenn sie sich gegen diesen vergleichbar epochalen Prozess der Globalisierung stellt.
Die Frage, die es dabei zuerst zu entscheiden gilt, ist, ob diese Grundwerte als solche möglicherweise historisch überholt sind. Ob man also an diesen Grundwerten politisch und moralisch festhalten kann und muss, es demnach lediglich ihrer Neudefinition unter historisch wesentlich veränderten Bedingungen bedarf, oder ob sie obsolet und damit politisch marginalisiert worden sind.
Trotz aller grossen Schwierigkeiten einer demokratischen Linken nach dem Ende des Sozialismus lässt sich zumindest diese Frage nach den Grundwerten der Demokratie, der Freiheit, der Gewaltlosigkeit, des Rechts, der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Solidarität sehr schnell beantworten: Es gibt bis heute kein besseres Werteangebot, das auch nur annähernd vergleichbar in Gegenwart und Zukunft den Frieden, die Freiheit, die Wohlfahrt und auch das Glück einer möglichst grossen Zahl von Menschen zu garantieren vermag. Trotz aller Unzulänglichkeiten ist dieser auf den unveräusserlichen Menschenrechten gegründete Wertekanon zur Organisation moderner und zugleich demokratischer Gesellschaften weltweit nach wie vor ohne Alternative. Unter den Begriffen "Freiheit" und - Verantwortung des Einzelnen" wird allerdings gegenwärtig in systemverändernder Absicht durch einen aggressiven Marktliberalismus der individuelle Egoismus und damit das Recht des Stärkeren, des Erfolgreicheren etc. der gesellschaftlichen Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit entgegengesetzt. Solidarität, so heisst es bei den Marktradikalen, sei zu teuer, zu innovationsfeindlich, zu leistungsmindernd, kurzum ein Grundwert der Gesellschaft von gestern und nicht von morgen. Reichtum sei individuelles Verdienst und daher zu belohnen, Armut sei individuelles Versagen und bedürfe daher nicht der Hilfe, sondern eher der Strafe, so lautet die neue ideologische Botschaft der neoliberalen Werteveränderung. Wirtschaftlicher Erfolg wird damit zum moralisch Guten, die Interessen der Stärkeren werden zum Leitbild der ganzen Gesellschaft und der maximale ökonomische Gewinn wird zu ihrem absoluten Ziel. Das Individuum löst sich von der Gesellschaft, der Egoismus befreit sich vom Gemeinwohl.
"Ich habe auf den Finanzmärkten der Welt ein Vermögen erworben, und dennoch fürchte ich inzwischen, dass die uneingeschränkte Intensivierung des Laissez-faire- Kapitalismus und die Verbreitung der Werte des Marktes über alle Bereiche des Lebens die Zukunft unserer offenen Gesellschaft gefährdet. Der wichtigste Feind der offenen Gesellschaft ist nicht länger die kommunistische, sondern die kapitalistische Bedrohung", diagnostiziert kein Geringerer als der amerikanische Milliardär George Sorros die aktuelle Lage der westlichen Gesellschaften. "Die Doktrin des Laissez-faire-Kapitalismus verkündet, dem Gemeinwohl werde am besten durch die uneingeschränkte Verfolgung der Eigeninteressen gedient. Aber solange diese Ansicht nicht durch die Anerkennung eines gemeinsamen Interesses modifiziert wird, ist unser gegenwärtiges System - das sich, wenn auch unvollständig, als offene Gesellschaft qualifiziert - in Gefahr. Popper zeigte, dass Faschismus und Kommunismus viel gemeinsam hatten, auch wenn der eine die extreme Rechte vertrat, der andere die extreme Linke - denn beide griffen auf die Staatsmacht zurück , um die Freiheit des Individuums zu unterdrücken. Ich möchte dieses Argument breiter formulieren. Ich behaupte, dass eine offene Gesellschaft auch aus der entgegengesetzten Richtung bedroht werden kann: von übertriebenem Individualismus, von zuviel Konkurrenz und zuwenig Kooperation. Ich möchte jedoch betonen, dass ich den Laissez-faire-Kapitalismus nicht der gleichen Kategorie zuordne wie Nazismus und Kommunismus. Totalitäre Ideologien zielen bewusst auf die Vernichtung der offenen Gesellschaft; die Laissez-faire-Politik gefährdet sie, aber unabsichtlich."
Angesichts der globalen Probleme, verursacht durch eine schnell expandierende Weltwirtschaft, durch den anhaltenden Zuwachs der Weltbevölkerung, durch eine dramatisch ungleiche Verteilung der Lebenschancen zwischen Nord und Süd und eine dadurch immer fataler werdende Zerstörung des Gleichgewichts zentraler globaler Umweltsysteme, sind die linken Grundwerte alles andere als historisch überholt. Wohl aber gilt dies für viele Antworten der demokratischen Linken auf diese neuen Herausforderungen. Diese Antworten - und eben nicht die linken Grundwerte - bedürfen einer grundsätzlichen Überprüfung und wahrhaft revolutionären Erneuerung, denn jeder -Dogmatismus der Antworten" wird im politischen Abseits und in der sicheren Niederlage enden.
Revolutionen kann man nicht aufhalten. Und wo es dennoch gelingt, läuft das lediglich auf deren Vertagung hinaus, für die dann aber in der Regel ein furchtbarer Preis zu entrichten ist. Am ehesten trägt wohl ein Rückgriff auf das Marxsche Modell des Zusammenhangs von Kapitalakkumulation und Vergesellschaftungsstufen zum historischen Verständnis der Unaufhaltsamkeit des gegenwärtigen Prozesses der Globalisierung bei. Die Geschichte setzt aktuell mit der Globalisierung einen neuen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmen. Mit Marx gesprochen: Die Akkumulation des Kapitals erzwingt eine neue Vergesellschaftungsstufe, sprengt endgueltig die nationale Hülle und organisiert den globalen Raum. Der Kapitalismus erzwingt also eine neue Vergesellschaftsstufe aufgrund des Wachstums der Produktivkräfte, und demnach werden die Produktionsverhältnisse sich neu ordnen müssen, was in der Regel allerdings ein, historisch gesehen, sehr - unordentlicher" und meist opferreicher Prozess war und ist, innerhalb dessen dann die jeweils eigenen Interessen und Überzeugungen neu definiert und schliesslich auch mit den Mitteln politischer Mehrheitsbildung und Macht durchgesetzt werden müssen.
Es sei aber auch eine weitere, erst jüngst abgeschlossene historische Erfahrung nicht vergessen, damit sich die Linke nicht erneut in die Wolkenkuckucksheime radikaler Illusionen verliert: Die Reichweiten und damit die Veränderungsmöglichkeiten von Politik, zumal von demokratischer Politik, sind sehr begrenzt und gehen über die Möglichkeiten einer mehrheitsfähigen Reformpolitik im rechtsstaatlichen Verfassungsrahmen nicht hinaus. Das in der Sowjetunion über siebzig Jahre mit Gewalt und nichts als Gewalt durchgesetzte bolschewistische "Experiment am lebenden Menschen" endete 1990 im grössten Bankrott der Weltgeschichte, und am Ende blieb nichts anderes übrig als die um ihr Leben und ihre Zukunft betrogenen Menschen, ruinierte Gesellschaften und Volkswirtschaften, Massenelend, unbeschreibliche Naturzerstörungen und eine zig Millionen umfassende Schädelstätte ermordeter Opfer. Zurück blieb allerdings auch die Erkenntnis, dass Politik weder einen "Neuen Menschen" noch gar "das Reich der Freiheit" zu schaffen vermag, mit keinem Mittel, selbst mit den grausamsten nicht. Gewiss braucht der politische Prozess Fernziele, Ideen, Ideologien gar, vielleicht sogar Visionen oder meinetwegen auch Utopien. Wenn er diese jedoch jenseits von demokratischer Mehrheitsfähigkeit und rechtsstaatlicher Verfassung umzusetzen versucht, wird es hochgefährlich. Tut Politik dieses, so übernimmt sie sich und endet bestenfalls in der Niederlage, schlimmstenfalls aber in einem Abgrund von Gewalt und Zerstörung.
Der Verlauf der Geschichte ist von zu vielen Menschen, Interessen, Zufällen und Strukturen abhängig, ist also viel zu komplex (und dies gilt heute mehr denn je), als dass sich diese durch politische Strategie und praktische Politik "machen" liesse. Politik kann bestenfalls dabei etwas "mitmachen", wenn sie Glück hat und gut ist, aber den Fortgang jener komplexen Veränderungsprozesse, die ganze Gesellschaften und globale Systeme umformen und die somit eher historisch, kulturell und sozial "geologischer" Natur sind, weil sie so tief reichen wie die in der Geologie als "Plattentektonik" bezeichnete Bewegung der Kontinente und die dadurch bedingte Auffaltung der Gebirge, kann sie nur wenig beeinflussen. Ihre Gestaltungsmöglichkeit liegt, jenseits von ganz seltenen historischen Ausnahmen, nur innerhalb dieser Prozesse und nicht in der zielgerichteten Gestaltung des historischen Prozesses selbst. Es wird demnach keinen linken "Masterplan" gegen die Globalisierung geben können (genausowenig, wie es einen kapitalistischen Masterplan dafür gibt), sondern bestenfalls seine Beeinflussung und begrenzte Mitgestaltung.
Politische Ordnungen, "Weltordnungen" gar oder neue Epochen entstehen alles andere als widerspruchs- oder gar gewaltfrei. Man bedenke nur, was sich in der -blutigsten Epoche der Menschheitsgeschichte" zwischen 1914 und 1945 alles an Katastrophen abgespielt hat, an deren Ende die Ordnung von Jalta entstand, das thermo-nukleare Patt der Supermächte USA und Sowjetunion in einem vierzigjährigen Kalten Krieg, und als Folge von alledem im Westen die kapitalistische Konsumgesellschaft, die europäische Einigung und der demokratische Sozialstaat. Diese vierzig Jahre des Kalten Krieges waren dann zugleich vier Jahrzehnte einer zwar prekären, durch die Ruestungsspirale und eine mögliche Konfrontation zwischen den Atommächten immer bedrohten Stabilität, für die die Menschen im Osten zudem mit einer brutalen
Unterdrueckung bezahlen mussten, aber diese Ordnung des Kalten Krieges war stabil. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Untergang der Sowjetunion endete diese Aera der erzwungenen Stabilität, und der sich gegenwärtig vollziehende Epochenwechsel hat eine längere Zeit grosser globaler Instabilität eingeleitet.
Vieles spricht dafür, dass die alternativlose Globalisierung der Weltwirtschaft ebenfalls alles andere als harmonisch, sozial gerecht und gewaltfrei vonstatten gehen wird. Zwar droht kein neuer Weltkrieg, kein neuer Hitler oder Stalin, aber wenn man die Metaphern des Bösen etwas kleiner ansetzt, so begegnet man sehr schnell der neuen Wirklichkeit, denn mit Bosnien kehrte der Krieg und auch das Grauen des Faschismus nach Europa zurück . Zudem werden die strukturellen Veränderungen der westlichen Gesellschaften gewaltig sein. Betraf der Zusammenbruch der Sowjetunion und der bipolaren Weltordnung die westlichen Industrienationen nur indirekt, so wird die globale Revolution der Weltwirtschaft die westlichen Gesellschaften voll treffen und dort in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur kaum einen Stein auf dem anderen lassen. Dies ist heute, in der Frühphase dieser Revolution, schon absehbar, und man muss angesichts einer Linken, die vor revolutionären Veränderungen nur entsetzt die Augen zukneift und "Es ist ja alles gar nicht so schlimm!" ruft, wohl die Frage aufwerfen, inwieweit sie sich selbst und ihren politischen Auftrag, Gerechtigkeit und Freiheit immer wieder erneut in einer unvollkommenen Welt durchzusetzen, eigentlich noch ernst nimmt.
Die Globalisierungsdiskussion beginnt in fast allen westlichen Volkswirtschaften als Debatte über die jeweilige Standortkrise und deren strukturelle Konsequenzen für die betroffene Wirtschaft, die Einkommensverteilung und, unmittelbar daran anknüpfend, den gesellschaftlichen Ausgleich zwischen den Besitzenden und der Masse der abhängig Beschäftigten und damit auch um die Zukunft des Sozialstaates, denn er allein vermochte bisher institutionell ein gewisses Mass an Verteilungsgerechtigkeit im Kapitalismus zu garantieren. Hinter der Sozialstaatsdiskussion lauert allerdings die wesentlich allgemeinere politisch-gesellschaftliche Kontroverse um die zukünftige Rolle des Staates im Verhältnis zu Wirtschaft und Gesellschaft, die in den USA bereits sehr heftig und sehr praktisch geführt wird. Unsere postmoderne Zeit steckt voller Ironien und Verwirrungen! Was Lenin am Vorabend der Oktoberrevolution 1917 in seiner Schrift "Staat und Revolution" verkündet hat, nämlich das "Absterben des Staates" im Kommunismus (es kam ja dann ganz anders mit dem leninistischstalinistischen Superstaat Sowjetunion), wird heute in den USA praktisch ausgefochten: der Zentralstaat als innerer Hauptfeind des neuen Wirtschaftsradikalismus, der Antietatismus als die ideologische Hauptbotschaft des neuen, marktradikalen Konservativismus. Von Lenin zum rechten Flügel der Republikaner in den USA - kein Wunder, dass es da manchem, der in seinem Kopf eindeutige Fronten gewöhnt ist, schlicht den Atem und die Sprache verschlägt.
Wie auch immer, durch diese Entwicklung ist ein linkes Thema - nein, das linke Thema! - erneut durch die Geschichte aufgerufen worden, nämlich die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Zukunft des Sozialstaates, d.h. die Frage nach der soziale Gerechtigkeit garantierenden und durchsetzenden Institution. Daran hängen zwei weitere, fast noch grundsätzlichere Fragen, nämlich erstens die Frage nach der Zukunft der Arbeit und zweitens die Frage nach der Zukunft des Nationalstaates. Was wird aus der Arbeit, wenn in immer weniger Arbeitsstunden immer mehr Güter und Dienstleistungen dank der anhaltenden Produktivitätsrevolution produziert werden? Und dies auf dem Hintergrund einer dramatischen weltweiten Zunahme des Angebots an Arbeit, vor allem an gering qualifizierter Arbeit. Und welche Rolle wird der Staat in einer globalisierten Welt zu spielen haben, angesichts eines Zeitgeistes, der ihn nachgerade zum Haupthemmnis für eine forcierte Reichtumsproduktion erklärt?
Eine weitere, sehr viel einfacher zu beantwortende Frage, die sich eine in blosser Defensivität und Dogmenverwaltung erstarrte Linke allerdings selbst stellen muss, ist, inwieweit der intellektuelle Zustand der Linken, ja deren weitverbreitete Flucht vor der unbequemen Wirklichkeit, nicht selbst wesentlich zur Stärkung und Hegemonie des neuen Besitzegoismus beigetragen hat und beiträgt. Einem linken Realisten - doch, das soll es wirklich geben! - drängt sich angesichts dieser fast albern wirkenden Verdrängung sofort die Frage auf, warum jenes vorgebliche "Attentat" des Kapitals und seiner Helfer denn international - von Japan über die Schweiz bis Frankreich, von Neuseeland über Schweden bis Deutschland und immer vorneweg die USA - so hervorragend und global synchron funktioniert und überall die bisherigen ökonomischen und sozialen Verhältnisse und Strukturen zugunsten des Kapitals umzustürzen droht oder bereits umgestürzt hat?
Dass diese synchrone globale Umwälzung der entwickelten Marktökonomien in allen westlichen Industriegesellschaften selbst beim besten Marketing, bei feinster globaler Kommunikation und unter Zuhilfenahme aller materiellen Mittel, die dem Kapital international wohl zur Verfügung stehen mögen, nicht von einer Art Verschwörungszentrale aus zu managen ist, leuchtet doch quasi von selbst ein. Nein, die einfachste Erklärung für die internationale Standortdebatte und die Globalisierungskrise liegt schlicht und einfach in dem Faktum selbst: Es gibt ein echtes, ein tatsächliches, ein globales Problem. Und vor diesem Problem davonzulaufen, es wegdiskutieren zu wollen oder es gar wegzuwünschen, schadet nur. Und wer diese Entwicklung gestalten, wer gar, wie die Linke, mit einem eigenen Gerechtigkeitsanspruch gegen die naturwuechsigen Trends dieser globalen Revolution eingreifen will, der muss sich zuerst und vor allem ein analytisches Verständnis dieser Veränderungen verschaffen.
Freilich hat es die Linke in der gegenwärtigen Globalisierungsrevolution alles andere als leicht, denn sie steckt in einer tiefen Orientierungskrise, sowohl ihrer Instrumente als auch der Ziele ihrer Politik. Die überkommenen Instrumente der Linken sind eben nicht die Märkte, nicht Investitionen, Finanztransaktionen, Aktien, Wettbewerb, freies Unternehmertum etc. gewesen, sondern nahezu ausschliesslich die politische Regulierung eben dieser wirtschaftlichen Aktivitäten (oder gar der
Versuch ihrer Steuerung) durch die Politik mit den Mitteln des Staates, seiner Gesetzgebung und Bürokratie. Wollte die Linke den Kapitalismus ursprünglich noch überwinden und durch eine andere Produktionsweise oder Gesellschaftsformation namens Sozialismus/ Kommunismus ersetzen, so war die reformistische Linke dort erfolgreich, wo sie unter den Bedingungen des demokratischen Verfassungsstaates eine Politik der Zügelung der anarchischen Marktkräfte und des sozialen Ausgleichs zwischen Besitzenden und quasi Besitzlosen durchsetzen konnte. Und dies erreichte sie neben der Organisation der Klassensolidarität der Besitzlosen vor allem mit den politischen und legislativ/administrativen Mitteln des Staates.
Der linke Etatismus war und ist nicht der Ausdruck eines mangelnden Verständnisses des Zeitgeistes oder gar der ökonomischen Mechanismen, sondern orientierte sich an den Interessen der abhängig Beschäftigten. Die Marktgesetze sind das Gegenteil von Demokratie. Sie werden definiert durch Angebot und Nachfrage, und letztendlich beguenstigen sie immer den Erfolgreicheren und damit Stärkeren und nicht etwa die Interessen der Selbsterhaltung des ganzen Marktes oder gar die Interessen der Millionen von abhängig Beschäftigten in einer solchen Marktwirtschaft, der Mehrheit also, um die es aber per definitionem der Linken gehen muss. Der Markt optimiert den wirtschaftlichen Erfolg und nicht das Mehrheitsprinzip. Soll die Mehrheit am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben, so bedarf es der Politik, denn der Markt für sich allein vermag dies nicht zu leisten. Die Aufrechterhaltung des Marktes als solchem und langfristige soziale, kulturelle und politische Interessen mussten und müssen immer die Politik und die von ihr durchgesetzte und erzwungene Marktregulierung leisten. Völlig deregulierte Märkte sind ein nur kurzfristig überlebender Widerspruch in sich, denn jede Marktwirtschaft pur enthält die unausweichliche Tendenz von der Konkurrenz zum Monopol, angetrieben vom wirtschaftlichen Erfolgsprinzip, und dies bedeutet ihre tatsächliche Selbstaufhebung durch die eigene Entwicklungslogik.
Die Krise der westlichen Linken ist gar nicht in erster Linie durch den Zusammenbruch und die völlige Diskreditierung des Modells des Sowjetkommunismus, d.h. der totalitären Herrschaft der Politik über Wirtschaft und Gesellschaft zum angeblichen Zwecke der umfassenden sozialen Gerechtigkeit verursacht worden (in Wirklichkeit ging es in Russland immer ausschliesslich um die totalitäre Konzentration von Wirtschaft und Gesellschaft auf die Macht des Staates, und insofern war der Sowjetkommunismus in der russischen Geschichte lediglich die Fortsetzung des Zarismus unter den Bedingungen von grosser Industrie und moderner Technologie unter der Dynastie der Kommunistischen Partei), denn das Sozialstaatsmodell der reformerischen Linken in den westlichen Industrieländern war davon niemals infiziert gewesen. Nein, die gegenwärtige Existenzkrise des etatistischen Politikmodells der reformerischen Linken des Westens kommt aus der inneren Entwicklung der westlichen Industrieländer selbst, und sie hatte bereits anderthalb Jahrzehnte vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion begonnen. Der Kollaps des Ostblocks wirkte dann allerdings als ein gewaltiger Beschleunigungsfaktor für diesen Prozess, nicht aber als
seine Ursache oder auch nur Auslöser. "Wieviel Staat?" heisst die zentrale Frage der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte, und wenn sich die pauschale Antwort "Mehr Markt, weniger Staat" durchsetzt, dann werden es schlechte Zeiten für linke Politik werden. Denn in dem Moment, in dem der Staat, vor allem in seiner Gestalt als demokratischer Sozialstaat, zu dem Hauptproblem schlechthin für weiteres
Wirtschaftswachstum erklärt wird und die mehrheitsrelevanten Teile der Bevölkerung - das sind vor allem die Mittelschichten - beginnen, dies zu glauben, und sich dementsprechend von der sozial ausgleichenden Rolle des demokratischen Staates abwenden, wird die Reformlinke zuerst ein ideologisches und dann auch ein existenzbedrohendes Problem bekommen.
Freilich beginnen sich die Dinge mehr und mehr zu klären, denn dieselbe historische Entwicklung trägt gegenwärtig zur Neubestimmung der politischen und gesellschaftlichen Ziele sowohl der Linken wie der Rechten in den westlichen Gesellschaften und damit auch zu einer Neudefinition der demokratischen Linken des Westens im Zeitalter des Globalismus bei. Die neukonservative Wirtschaftsrevolution hat die Frage nach der Produktivität einer demokratischen Marktgesellschaft aufgeworfen und verteilungspolitisch mit ihrem radikalen Individualismus beantwortet. Jeder sei fortan wieder selbst seines eigenen Glück es Schmied, staatliche Daseinsvorsorge sei von Uebel, und der gesellschaftliche Reichtum gehöre den Erfolgreichen, so lautet diese neukonservative Botschaft. Die neulinke oder besser die neue sozialreformerische Antwort aber ergibt sich aus der zentralen Frage, die die gegenwärtige Globalisierung der demokratischen
Marktgesellschaften des Westens aufwirft: Was hält eigentlich eine hochproduktive demokratische Gesellschaft unter den Bedingungen des Globalismus weiter friedlich zusammen? Exakt dies ist die "neue soziale Frage" der westlichen Gesellschaften, nämlich die Frage nach ihrer "Kohäsion", ihrem friedlichen Zusammenhalt und damit einer demokratischen und sozial gerechten Zukunft einer hochproduktiven, extrem arbeitsteiligen, individualisierten, immer älter werdenden und zugleich demokratischen Gesellschaft. Ökonomische Produktivität und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Modernisierung und Gerechtigkeit - dies sind die beiden zentralen Herausforderungen, die von den westlichen Demokratien unter den Bedingungen der Globalisierung bewältigt werden müssen, wenn ihre Zukunft nicht ziemlich furchtbar werden soll. Die demokratische Linke (aber auch die demokratische Rechte) haben dabei ihre Rollen neu zu definieren und zu spielen, wenn diese doppelte Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft erfolgreich verlaufen soll.
Die alte soziale Frage betraf den Aufstieg von Millionen eigentumsloser und weitgehend rechtloser Fabrikarbeiter und ihrer Familien hin zu gleicher politischer Teilhabe, zu steigenden Arbeitseinkommen, zu besseren Arbeitsbedingungen, Gesundheitsvorsorge, zu sozialer Sicherheit in allen Lebensabschnitten und zu höheren Bildungschancen für ihre Kinder. Die neue soziale Frage hingegen besteht in der Verhinderung der drohenden sozialen Desintegration und thematisiert also die soziale Abstiegsgefahr für einen wachsenden Teil der Bevölkerung: Diese Desintegration vollzieht sich einerseits durch eine wachsende Individualisierung der Lebensstile, durch ausschliessliche Leistungsorientierung und Höchstproduktivität, durch neue Massenmedien und Kommunikationsformen, durch das Entstehen einer zweiten Realitätsebene, der "virtuellen Realität" des digitalen Cyberspace, und durch die Durchkommerzialisierung der gesamten Lebenswelt der Menschen in den westlichen Industriegesellschaften. Und sie vollzieht sich auch durch die Ausgrenzung von Millionen abhängig Beschäftigter aus dieser Gesellschaft der Höchstproduktivität, durch den drohenden sozialen Abstieg in eine beständig wachsende Massenarbeitslosigkeit oder, vor allem in den USA, auch sogenannter "arbeitender Armer" (working poor), die mit ihrem Arbeitseinkommen unter dem offiziellen Existenzminimum bleiben, durch Reallohnverluste der Masse der Erwerbstätigen, durch den Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und durch wachsende Armut in den immer noch sehr reichen Gesellschaften des Westens.
Was hält hochproduktive Marktgesellschaften friedlich und demokratisch zusammen? Die Antwort darauf macht das Projekt der demokratischen Linken des Westens im Zeitalter des Globalismus aus. Margret Thatcher hat die politische und ideologische Herausforderung dieser neuen sozialen Frage für ihre neokonservative Revolution von Anfang an instinktiv richtig erkannt und deshalb schlicht bestritten, dass es jenseits der Individuen und ihrer Familien so etwas wie Gesellschaft überhaupt gäbe: "There is no such thing like society, there are only individuals." Und der globale Siegeszug des radikalen Wirtschaftsindividualismus in der Welt nach dem Ende der Systemkonkurrenz spitzt diese Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt noch weiter zu: Die volle gesellschaftliche Teilhabe eines jeden Individuums hängt in den demokratischen Gesellschaften des Westens bisher an den Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Erwachsenenalter und an den staatlich garantierten sozialen Sicherheiten und Transfers. Ein einigermassen selbstbestimmtes Leben ist an Erwerbsarbeit und das dadurch erzielte Einkommen und an die sozialstaatlich gewährleistete Sicherheit gebunden, und Staat und Wirtschaft haben beides für die Mehrheit der Bevölkerung zu garantieren. Vermögen sie dies nun aber auf Dauer nicht mehr oder für einen wachsenden Teil ihrer Bevölkerung immer weniger, so wird über kurz oder lang eine gefährliche Systemkrise des demokratischen Verfassungsstaates unvermeidlich sein. Genau dies macht die systemverändernde, ja vielleicht sogar systemgefährdende Qualität dauerhafter Massenarbeitslosigkeit und der wachsenden Krise des Sozialstaats aus, zumindest in Europa. Und genau hier, in der Verhinderung dieser gefährlichen Systemkrise durch die Formulierung und Durchsetzung einer sozialen Alternative liegt auch die gesellschaftliche und politische Chance der demokratischen Linken im Zeitalter des Globalismus.
No Comments