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Die schwindende Macht des Staates

"Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen - das heisst dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der...aus den Natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der Natürlichen Gesetze zu binden vermag..."

Thomas Hobbes (1651)

Staat und Markt sind die beiden entscheidenden Gegenspieler im Spiel der kapitalistischen Moderne, Machtprinzip und Gewinnprinzip ihre jeweilige Logik, der sie ihrem Wesen gemäss folgen müssen. Allerdings spielen sie gemeinsam dieses Spiel, und wenn man versucht, einen der beiden Kontrahenten zugunsten der alleinigen Vorherrschaft des anderen aus dem Spiel zu nehmen, so mag dies vielleicht einige Zeit funktionieren, dann aber werden die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kosten enorm hoch, und es kommt folglich zum Kollaps des gesamten Spiels, wie das Exempel der Sowjetunion nachdrücklich demonstriert hat. Die leninistisch-stalinistische Sowjetunion hat in diesem Jahrhundert mit ihrer Ausschaltung des Marktes zugunsten eines absoluten Staates das praktische Beispiel der Ausserkraftsetzung des Marktes als Gegenspieler des Staates durchexerziert, und bis heute haben die diesem Experiment unterworfenen Völker und Ökonomien einen furchtbaren Preis für diesen totalitären Irrsinn zu entrichten. Europa hat die kapitalistische Moderne hervorgebracht und mit ihr deren zentralen Widerspruch zwischen individueller Freiheit und totalitärem Staat.

Umgekehrt wird allzuleicht vergessen, dass es jedoch erst der Selbstzerstörung des bürgerlichen Europa im Ersten Weltkrieg und in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bedurfte, um die doppelte Bestie des Totalitarismus - Nazismus und Stalinismus - zu entfesseln, die dann zum endgültigen Ruin Europas durch Hitler und zur vierzigjährigen Teilung Deutschlands führte. Gerade Europa hat mit seinen totalitären Staatsexperimenten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die aus dem hoch konfrontativen und gewalttätigen Selbstzerstörungsprozess der bürgerlichen Epoche entstanden sind, grauenhafte Erfahrungen machen müssen. Nicht umsonst waren die vier Jahrzehnte seines erfolgreichen Wiederaufstiegs geprägt durch eine gelungene Gleichgewichtsformel zwischen Wirtschaft und Staat: Markt, Demokratie und Sozialstaat, organisiert im Einvernehmen von Politik und Wirtschaft, Arbeitgebern und Arbeitnehmern im demokratischen Verfassungsstaat auf der Grundlage von privatem Eigentum und sozialstaatlicher Daseinsvorsorge. Und dieses Beispiel des europäischen demokratischen Wohlfahrtsstaates sollte für den Zusammenbruch der Sowjetunion von entscheidender Bedeutung sein, denn er wurde zum Traum, zur konkreten Utopie von zig Millionen unterdrückter Menschen in Osteuropa und der Sowjetunion. Heute, wenige Jahre nach der Zeitenwende von 1989, klingt dies alles bereits wie eine ferne Kunde aus längst vergangenen Tagen, altmodisch und überholt.

Als im November 1989 in Berlin die Mauer fiel und der gesamte Sowjetblock kollabierte, da galt der westeuropäische Sozialstaat noch als das Schmuckstück der westlichen Alternative zum realexistierenden

Sozialismus. Mit dem Sozialstaat schien der Westen Europas erreicht zu haben, was der Sowjetkommunismus immer nur versprochen hatte, niemals aber zu halten in der Lage war: Massenwohlstand, soziale Sicherheit, Demokratie und die Selbstbestimmung der einzelnen westeuropäischen Nationen, die sich zudem aus freiem Entschluss und auf gleicher Grundlage auf den Weg in ein integriertes Europa gemacht hatten. Der westeuropäische Sozialstaat erwies sich als die gelungene Alternative zum bürokratisch-diktatorischen Sozialismus einerseits und zu einem unsozialen, ausbeuterischen Kapitalismus andererseits, als jener "dritte Weg" also zwischen Kapitalismus und Kommunismus, nach dem zahlreiche Linke so lange vergeblich gesucht hatten.

Der Kapitalismus war sozialstaatlich gezähmt und damit "sozialdemokratisiert" worden, und selbst die Konservativen und Christdemokraten in Westeuropa machten fast überall die "soziale Marktwirtschaft" zur Grundlage ihrer Politik seit 1945. Nicht von ungefähr sprach man in Westeuropa von dem "sozialdemokratischen Jahrhundert". Der Sozialstaat in Westeuropa organisierte sich um zwei Kernbereiche: erstens um die staatlich garantierte Vorsorge gegen die grossen Lebensrisiken wie Alter, Krankheit und Invalidität, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut, bezahlt durch die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und durch die steuerliche Umverteilung eines nicht unerheblichen Teils des Bruttosozialprodukts. Und zweitens um die staatliche Finanzierung und Vorsorge für die Ausbildung der nachwachsenden Generation und die Durchsetzung gleicher Bildungschancen für alle Bevölkerungsschichten.

Bezahlbar war dieser "dritte Weg" , weil er auf anhaltendem Wachstum, Vollbeschäftigung und Massenkonsum gründete, angetrieben durch billige Energie vor allem in Gestalt von Erdöl, d.h. die jährlichen Zuwächse des volkswirtschaftlichen Reichtums machten eine entsprechende Umverteilung zugunsten der abhängig Beschäftigten möglich, ohne dass die Eigentumsfrage aufgeworfen werden musste. Es war für alle eben genug da, und damit erwuchs dem modernen Sozialstaat seine dritte Funktion, die ihn schliesslich in seine gegenwärtige existenzbedrohende Krise führen sollte, nämlich dass er zum Garanten für einen beständig steigenden Lebensstandard der Massen wurde. Aus diesem Versprechen des "Wohlstands für alle" erwuchs seine politische Legitimität, die ihn in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges so überaus erfolgreich machte und die ihn jetzt an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit und der innergesellschaftlichen Solidarität geführt hat. Der Sozialstaat als Garant für stetig steigenden Massenwohlstand, diese Funktion wird sich unter den Bedingungen der Globalisierung und des Endes der Systemkonkurrenz wohl kaum aufrecht erhalten lassen.

Das westliche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg hatte allerdings drei unschöne Seiten, die zugleich einen Endpunkt markieren mussten: Erstens war sein ökonomisch entscheidender Motor der Kalte Krieg, d.h. faktisch war diese keynesianische Aera von enormen, immer teurer werdenden Rüstungsausgaben der Staaten angetrieben worden, die mehr und mehr die Staatsschuld aufblähten, so dass man tatsächlich von einem Rüstungskeynesianismus sprechen müsste; zweitens fand dieses Wachstum ohne Ruecksicht auf seine ökologischen Grundlagen statt; und drittens basierte das Nachkriegssystem auf einer völlig ungerechten Weltwirtschaftsordnung, die nahezu ausschliesslich die westlichen Länder begünstigte, und musste also auch von dieser Seite her irgendwann gegen die Wand fahren. Das geschah dann mit der ersten Ölpreiskrise 1973 während des Jom-Kippur-Krieges zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. Die militärischen Kosten des Kalten Krieges wurden vor allem durch die USA getragen (und diese wurden durch ihren Sieg im Kalten Krieg zur heute alleinigen globalen Supermacht), aber als die den gesamten Westen dominierende Volkswirtschaft bestimmten die Vereinigten Staaten mehr oder weniger direkt auch den Fortgang der anderen Ökonomien und - fast wichtiger noch - deren prägende hegemoniale Ideen. Es war dann auch die Eskalation des Kalten Krieges gewesen, die Explosion des Rüstungsetats und damit einhergehend der Staatsschuld der USA unter Ronald Reagan in den achtziger Jahren, die in den Vereinigten Staaten definitiv die Abkehr von den Ideen des New Deal einleitete und eine wirtschaftsliberale Revolution mit einer dramatischen Entsolidarisierung der Mittelklassen von den Unterklassen auslöste, deren ideelle und materielle Folgewirkungen heute ganz wesentlich den Prozess der Globalisierung prägen.

Die Schaffung von wirtschaftlichem Reichtum war in der Nachkriegszeit in Westeuropa niemals nur Selbstzweck gewesen, sondern diente vor allem dem Zusammenhalt der Gesellschaften, der gesellschaftlichen Integration mittels sozialer Sicherheit und Wohlstand für die Masse der abhängig Beschäftigten. Marktwirtschaft, Demokratie und Sozialstaat hiess die erfolgreiche Zauberformel, die Westeuropa sowohl in der Systemkonkurrenz mit dem Sowjetkommunismus als auch in der Über windung der faschistischen Epoche nach 1945 entwickelt hatte. Zudem knüpfte sie an ein uraltes europäisches Staatsverständnis an, das im Staat den entscheidenden Verantwortlichen für die kollektive Daseinsvorsorge, für die Garantie des Allgemeinwohls, für die Sicherung der "public goods" sieht. Diese fundamentale Bedingung des Erfolges der westeuropäischen Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges droht gegenwärtig in Vergessenheit zu geraten, ja sie wird durch die neokonservative Revolution und ihre Auswirkungen faktisch in Frage gestellt.

Dabei kann es angesichts der schrecklichen totalitären Erfahrungen unseres Jahrhunderts allen Ernstes doch immer nur um die Neujustierung der beiden Pole dieses Spiels gehen, um ihr relatives Kräfteverhältnis zueinander und um die sich daraus ergebende Form und Struktur der Beziehung von Markt und Staat. So weit, so gut, aber leider betrifft die gegenwärtige Staatskritik der globalisierten Marktdynamik nicht nur quantitative Grössen, sondern es geht hier um eine neue Qualität im Verhältnis der beiden Kontrahenten Markt und Staat zueinander. Eine allgemeingültige Antwort auf dieses Spannungsverhältnis lässt sich nicht formulieren, da die kulturellen, sozialen und politischen Unterschiede in der jeweiligen Geschichte der betroffenen Volkswirtschaften rund um den Erdball ein gewichtiges Eigenleben führen und nicht homogenisierbar sind, weder in der Theorie und schon gar nicht in der Praxis. In modernen kapitalistischen Marktwirtschaften kennt man z.B. durchaus starke Staatsanteile an der jeweiligen Volkswirtschaft, die sogar so weit gehen können, dass es zu einer direkten Makrosteuerung der Wirtschaftsentwicklung - bis zum Auf- oder Abbau einzelner Wirtschaftssektoren - durch den Staat kommen kann - so in Japan und den meisten ostasiatischen Schwellenländern. Auch die gegenwärtige grosse Wirtschaftskrise in diesen Ländern sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Steuerung sehr effizient und wirksam war. Die meisten ostasiatischen Schwellenländer bedienen sich bei ihrer wirtschaftlichen Aufholjagd dieses Modells und werden, nach den notwendigen Anpassungen ihrer politischen und wirtschaftlichen Strukturen, auch in veränderter Form daran festhalten. Japan wird seine bürokratische Tradition der Wirtschaftssteuerung nicht aufgeben, sondern bestenfalls modernisieren, weil es sich sonst vom Kern seines historisch gewachsenen Gesellschaftsmodells verabschieden müsste, und das wird es nicht tun. Dasselbe wird für China gelten, und diese beiden Staaten werden die gesamte Region mit ihren Vorgaben massgeblich beeinflussen. Andererseits sind die USA in ihrer Wirtschaft, ganz entgegen der herkömmlichen Meinung, keineswegs so "staatsfern" , nur dass es dort vor allem der immer noch gewaltige Rüstungsetat ist, der für die wirtschaftliche und technologische Steuerung der Volkswirtschaft diese Funktion übernimmt.

Man kannte auch sehr hohe und direkte Staatsanteile innerhalb der marktwirtschaftlich verfassten Ökonomie, d.h. direkt in Staatsregie befindliche Unternehmen, die für das Wirtschaftsgeschehen eines Landes von zentraler oder gar strategischer Bedeutung sind. Dies galt vor allem für Westeuropa: In Frankreich und Italien war und ist diese Rolle des Staates als Unternehmer überwiegend

zentralstaatlich organisiert, in Deutschland mehr dezentral auf der Ebene der Länder und Kommunen, was den grossen Vorteil hat, weniger aufzufallen. Im Klartext lief diese Form der Marktwirtschaft auf einen korporatistischen Kapitalismus hinaus, der eine Marktwirtschaft im jeweiligen nationalen Interesse organisierte. Das Geschäft diente den nationalen Interessen, die nationalen Interessen dienten dem Geschäft, und Politik und Wirtschaft organisierten diesen Prozess im Konsens in meist mehr oder weniger national geschlossenen Zirkeln und Gesellschaften. Nicht von ungefähr nannte man die alte Bundesrepublik Deutschland auch die "Deutschland AG", da sie mit diesem Modell einer engen Verflechtung von Banken, Industrie und Staat in den vier Nachkriegsjahrzehnten bis zur Deutschen Einheit überaus erfolgreich war. Damit ist es unter dem Druck der Globalisierung allerdings jetzt endgültig vorbei.

Exakt bei der Herstellung der ökonomischen Einheit Deutschlands versagte dieses Modell der "Deutschland AG" auf historische Weise, und das kommt, trotz aller politischen Fehler, nicht von ungefähr. Denn mit der Deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges geriet dieses Modell selbst in die Globalisierungskrise. 1990 entschied sich die "Deutschland AG", angeführt von Bundeskanzler Helmut Kohl und vertreten durch Bundesregierung, Landesregierungen, Arbeitgeber und Gewerkschaften, für die Übertragung des westdeutschen Status quo auf Ostdeutschland, was sich als ein grosser und zudem sehr teurer Fehler erweisen sollte, anstatt die Deutsche Einheit als "Modernisierungslokomotive" für den notwendigen Strukturwandel in Gesamtdeutschland zu nutzen. Die Bundesregierung wollte Wahlen gewinnen, versprach den Menschen deshalb westliche Verhältnisse ("blühende Landschaften" ) und gewährte eine Währungsreform zu einem Umtauschkurs für Ostdeutschland, die zwar Wahlsiege brachte, ökonomisch der deutschen Volkswirtschaft aber einen Mühlstein von Schulden an den Hals gehängt hat, da man sich ebenfalls aus wahlpolitischen Erwägungen vor Steuererhöhungen drückte. Die Unternehmen wollten keine neue Konkurrenz, sondern lediglich den neuen Markt in Ostdeutschland und die dort vorhandenen Werte möglichst günstig übernehmen, und die Gewerkschaften wollten ihre Tarifverträge nicht von billigerer ostdeutscher Konkurrenz ausgehebelt sehen; hinzu kam die direkte Übertragung des westdeutschen Rechtssystems und seiner Bürokratie. Das ehemalige Schmuckstueck des westdeutschen Wirtschaftswunders, die "Deutschland AG", produzierte ab 1990 mit dem Aufbau Ost, für alle Welt sichtbar, einen sehr teuren Fehlschlag und bewies damit, dass sie in dieser Form zur Lösung der Globalisierungsprobleme nicht mehr tauglich war und damit selbst strukturell hoch erneuerungsbedürftig geworden ist. Nun steckt hinter diesem Fehlschlag keineswegs böse Absicht, sondern beim Aufbau Ostdeutschlands seit 1990 konnte das bewährte sozialpartnerschaftliche Kartell der "Deutschland AG" von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften schlicht nicht mehr funktionieren, weil seine materiellen ökonomischen, politischen und sozialen Grundlagen, die es in Westdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so überaus erfolgreich und effizient gemacht hatten, einfach nicht mehr gegeben waren. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft hatte sich auch in der "Deutschland AG" in den neunziger Jahren substantiell verändert. Die Organisation des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft auf der Grundlage eines gemeinsamen nationalen und ökonomischen Interesses gehört fortan definitiv der Vergangenheit an, denn die ökonomischen Interessen sind der nationalen Sphäre entwachsen, und damit hat der Nationalstaat mit einer sich globalisierenden, d.h. immer mehr "vaterlandslos" werdenden Wirtschaft seinen entscheidenden ökonomischen Partner verloren. Die Kooperation zwischen Nationalstaat und Wirtschaft droht zunehmend dem Konflikt oder gar der Unterwerfung zu weichen.

Der Zeitgeist in den reichen Ländern des Westens hat sich fundamental verändert. Nunmehr wird das "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" verkündet. Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, in denen die verschiedenen nationalen Marktwir tschaften nicht nur um ihren jeweiligen Anteil am Wohlstand, sondern auch um die effizientesten sozialen Sicherungs- und Bildungssysteme für ihre nationalen Gesellschaften konkurrierten. Heute wird statt dessen um die möglichst effiziente Zerschlagung eben dieser sozialstaatlichen Sicherung konkurriert, und die Analysten der wichtigsten westlichen Investmentbanken begreifen den Grad der "sozialen Deregulierung" als einen entscheidenden positiven Standortfaktor für Investitionsentscheidungen. War es früher noch ein Ausweis unternehmerischen Erfolgs, wenn auf der jährlichen Bilanzpressekonferenz ein Vorstandsvorsitzender neue Rekordhöhen an Umsatz, Gewinn und Beschäftigtenzahl vorweisen konnte, so wird heute jeder Unternehmenschef, der steigende Beschäftigtenzahlen statt deren Verringerung als Erfolg verkaufen will, schlicht als eine sozialromantische

Fehlbesetzung angesehen, dessen Tage in seinem Job gezählt sind.

Wer sich aktuell zum Sozialstaat bekennt, gilt bestenfalls als altmodisch und von vorgestern, als jemand, der geistig einer nicht mehr rettbaren Vergangenheit anhängt. Ja, der einstmals revolutionäre oder zumindest radikalreformerische Ansatz eines sozialstaatlich domestizierten Kapitalismus wird heute als der neue Konservativismus attackiert, der sich auf die Verteidigung überkommener Besitzstände kapriziert. Welch eines politischen Wunders duerfen wir als Zeitgenossen doch teilhaftig werden: Wir erleben die Verkehrung von Reaktion und Revolution! Die Arbeiter und Angestellten als die neue "konservative Klasse", die ihre kleinen Besitzstände mit Klauen und Zähnen zu verteidigen versuchen, und die Unternehmer als die neuen "Revolutionäre", die eben diese Besitzstände zertruemmern und dabei die neue Welt des Globalismus erschaffen. Aber haben nicht genau dies zwei wieder moderne Theoretiker der kapitalistischen Globalisierung, nämlich Karl Marx und Friedrich Engels, vor genau 150 Jahren bereits in ihrem "Kommunistischen Manifest" in hochdramatischen und bewegten Worten geschildert? Dieses "Manifest" der beiden kommunistischen Erzväter ist angesichts der jüngsten Globalisierungsdebatte wirklich lesenswert, soweit es die revolutionäre Rolle des Kapitals und des Kapitalismus betrifft. Marx und Engels hatten eben noch einen Begriff von politischer Ökonomie, einen sehr kritischen sogar, der heutigen Lehrstuhlökonomen nahezu völlig zu fehlen scheint. Kaum sonstwo wird man eine ähnlich gelungene Hymne auf die revolutionäre Kraft des Kapitals finden, die zugleich von grösster Aktualität ist:

"Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt Die Bourgeoisie, wo sie zur

Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört Die Bourgeoisie hat alle

bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet Sie hat ganz

andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge Die fortwährende Umwälzung der

Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst...Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht...Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation

des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum grossen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füssen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren

Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden Die Bourgeoisie

hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Fluesse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen - welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoss der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten."

Sofort drängt sich eine zweite Frage auf: Wenn das Kommunistische Manifest in seinem ersten, analytischen Teil erneut so hochaktuell geworden ist, laufen wir dann mit der Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaft und der damit einhergehenden zunehmenden sozialen Desintegration auch auf eine Remodernisierung des zweiten Teiles des Kommunistischen Manifests zu, nämlich auf eine von Yngsten, Verzweiflung und Not getragene erneute Aera der Radikalisierung der Massen in den westlichen Ländern?

Wollte man den komplexen Begriff der Globalisierung auf eine kurze Formel bringen, so ist dies der Bedeutungsverlust der Politik zu Lasten der Wirtschaft, noch exakter formuliert müßte man eigentlich sagen: der Bedeutungsverlust der nationalen Politik zugunsten der internationalen Märkte und Unternehmen. Das Ende des Kalten Krieges hat mit dem damit einhergehenden Feindverlust und deshalb auch Funktionsverlust des

Staates als Sicherheitsgarant gegen eine (tatsächlich oder vermeintlich) manifeste Bedrohung von aussen diese Entwicklung erheblich beschleunigt. Aber es ist nicht nur der Verlust des Feindes, der in Europa einen tiefen Einschnitt in den gesamten kulturellen und politischen Bewegungsmustern der europäischen Völker bedeutet, deren Leben, deren ganze Geschichte eigentlich immer durch die Drohung eines Feindes und durch die Erfahrung von mindestens einem Krieg pro Generation geprägt war, sondern jetzt wird auch noch ein wesentlicher Teil der europäischen Identität - ihr Staatsverständnis - in seiner Existenz bedroht.

Wann gab es das schon einmal in der Geschichte, ein Europa ohne Krieg und ohne Feindschaft zwischen den wichtigsten Völkern des Kontinents? Noch nie! Und allein diese Tatsache macht den historischen Bruch in der Gegenwart in seinem ganzen Ausmass erkennbar. Das europäische Staatsverständnis der Moderne wurde durch eine tiefwurzelnde und zugleich uralte Erfahrung von Feindschaft und Krieg geprägt. Der moderne säkulare Staat Europas ist aus den Wirren der sich in den Religionskriegen auflösenden Feudalität des Mittelalters entstanden.

Mit dem Frieden von Münster und Osnabrück im Jahre 1648 neigte sich das Zeitalter der grossen Ungewissheit seinem Ende zu. Aus dem Blutbad der Religionskriege war ein neuer Kontinent erwachsen: Das Zeitalter der absolutistischen Staaten brach an..."

Indem er alle Macht der privaten Herrschaften und kleineren Territorien beim absoluten Herrscher, der personifizierten Ausdrucksform des säkularen absolutistischen Territorialstaates, konzentrierte und demnach als alleiniger und oberster Souverän diese Macht ausuebte, konnte der entstehende moderne Territorialstaat als "Leviathan" den inneren Bürgerkrieg unterdrücken und die äussere Sicherheit gewährleisten. Nur England ging hier nach Cromwells "Absolutismus" andere, nämlich parlamentarische Wege der Macht- und Gewaltenteilung zwischen der Krone und den Ständen des Adels. Der Staat wurde im modernen kontinentaleuropäischen Staatsverständnis zum obersten Souverän, über dem es nur noch eine göttliche Instanz geben konnte, weil er allein die Gefahren dieses Kontinents leidlich zu wehren wusste. Und in dieser Rolle wurde der absolutistische Staat auch zum entscheidenden Modernisierungsfaktor der spätfeudalen europäischen Gesellschaften, der entsprechend seiner Machtbedürfnisse die beginnende kapitalistische Ökonomie organisierte. Die Wirtschaft hatte hierbei eine dienende, niemals aber eine die Souveränität des Staates auch nur in zartesten Ansätzen in Frage stellende Funktion.

Dieses über die Jahrhunderte gewachsene europäische Staatsverständnis sitzt tief im kulturellen Unterbewusstsein aller Europäer und aller ihrer Institutionen bis auf den heutigen Tag, und es wäre ein schwerer Irrtum zu meinen, das Subsystem der Ökonomie liesse sich von diesem historisch-kulturellen Unterbau der jeweiligen Nationen ablösen und frei von dessen Vorgaben organisieren. Diese lebendige Staatstradition, dieser europäische Etatismus - historisch immerhin das Resultat des Überlebensinstinktes der europäischen Völker in einer höchst gefährlichen Umwelt von Kriegen,

Bürgerkriegen, Invasionen und Fremdherrschaft macht für Europa eine Neugestaltung des Verhältnisses von Markt und Staat, die faktisch auf einen Rückzug des Staates zugunsten privater Akteure wie Märkte und Unternehmen und auf eine erhebliche Souveränitätseinbusse des Staates hinausläuft, unter den Bedingungen der Globalisierung so überaus schwer und schmerzhaft. Der europäische Etatismus - auch und gerade in seiner sozialstaatlichen Form - ist eben sehr viel mehr als blosse Besitzstandswahrung, sondern er ist zugleich immer auch lebendige Kultur, Tradition und europäische Geschichte in einem. Dennoch haben sich selbst für das staatsfixierte Europa die Zeiten grundlegend geändert.

Hinzu kommt, dass in der europäischen Vergangenheit bis in unsere Tage hinein der Krieg wirklich der Vater aller Dinge war d.h. der soziale Wandel in den europäischen Gesellschaften war durch mindestens einen grossen Krieg pro Generation vorangetrieben worden, der Krieg hatte in Europa tatsächlich auf furchtbare Weise die Funktion des Motors für sozialen Wandel. Was der Historiker Heinz Schilling über den Dreissigjährigen Krieg geschrieben hat, gilt ganz allgemein für die europäische Geschichte bis in unsere Tage hinein: "Der gewaltige Krieg des 17. Jahrhunderts war ein tiefer Einschnitt in der Geschichte Deutschlands und Europas; aber die Entwicklung, die sich seit Generationen angebahnt hatte, hemmte er nicht ganz und gar. Er war nicht nur Haupt- und Staatsaktion, gewaltsame Zerstörung und Schreckenskosmos; er war auch ein mächtiger Motor des sozialen Wandels und der Modernisierung." Und diese Aussage über den Dreissigjährigen Krieg liesse sich genauso auch über die späteren grossen europäischen Kriege machen: die napoleonischen Kriege, den Ersten und Zweiten Weltkrieg und schliesslich den Kalten Krieg. Und Krieg hiess und heisst immer Staat als Machtstaat, der im Krieg zum schieren Überlebensgrundsatz der Gesellschaft wird: Krieg heisst die unbedingte Dominanz des Staates und seines Machtprinzips über alle anderen gesellschaftlichen Bereiche, auch und gerade zur Abwehr und zur Vermeidung des Krieges. Der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg waren zuerst und vor allem europäische Kriege gewesen, die diesen Kontinent zerstört, verheert (im Kalten Krieg galt dies nur für den östlichen Teil des Kontinents) und eben dadurch nachhaltig geprägt haben. Heutzutage scheint ja bereits wieder in Vergessenheit zu geraten, dass der letzte grosse europäische Krieg des 20. Jahrhunderts, der Kalte Krieg, erst zur Jahreswende 1989/ 90 zu Ende ging, und es ist eigentlich falsch, wenn man mit dem Fall der Mauer und dem Verschwinden der Sowjetunion vom "Ende der Nachkriegszeit" spricht. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg blendet der Begriff die vierzigjährige Zeit des Kalten Krieges als Teil des Zweiten Weltkrieges und seine prägende Wirkung aus. Tatsächlich befindet sich Europa erst jetzt, mit dem Ende des Kalten Krieges, in einer zweiten Nachkriegszeit, und viele der gegenwärtigen Probleme in den europäischen Gesellschaften sind auch auf diese Übergangsprobleme von einer Kriegs- zu einer Friedenszeit und damit von einer Kriegs- zu einer Friedensökonomie zurück zuführen.

Der Kalte Krieg hat die Rolle der europäischen Staaten im Verhältnis zur Wirtschaft über vier Jahrzehnte hinweg klar definiert. Solange Krieg war in Europa, solange Deutschland geteilt war und die Rote Armee in Berlin und an der Elbe stand, so lange war die Dominanz des Politischen eine schiere Selbstverständlichkeit. Den Rueckzug des Staates zugunsten der Märkte angesichts der damaligen politisch-militärischen Konfrontation der Systeme zu verlangen, hätte im bürgerlichen Lager niemand gewagt und auch niemand ernst genommen. Allerhöchstens in bedeutungslosen anarchistischen Subkulturen waren solche Ideen anzutreffen. Wenige Jahre später hat die Anarchie allerdings höchst erfolgreich im bürgerlichen Mainstream Einzug gehalten, und das europäische Unternehmerlager scheint zu Michail Bakunin übergeschwenkt zu sein.

Die Angst vor Hitler und Stalin gilt ja völlig zu Recht als die entscheidende Antriebskraft für die europäische Einigung nach 1945, welche die friedliche Auflösung jahrhundertealter Erbfeindschaften, Ressentiments und Gewohnheiten der Völker und nationale Interessenkonflikte in einem gemeinsamen Europa erzwang. Dazu bedurfte es einer gewaltigen historischen Kraft, die genau aus den grossen europäischen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts und den totalitären Gefahren, die damit einhergingen, entstand. Europäische Einigung, Marktwirtschaft, Sozialstaat, rechtsstaatliche Demokratie - diese vier wichtigsten Resultate des sozialen Wandels Westeuropas in den vergangenen vier Jahrzehnten sind das unmittelbare Ergebnis dieser Epoche der grossen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts.

Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion in den Jahren von 1948 bis 1989 hat noch einmal die überragende Rolle des Staates als Motor des sozialen Wandels im Westen Europas notwendig gemacht und durchgesetzt. Da es sich um einen Kalten Krieg handelte (d.h. er durfte nur noch gedacht, niemals aber mehr geführt werden, da dies zur thermonuklearen Selbstvernichtung der Kombattanten und des gesamten Kontinents geführt hätte), wurde dieser Krieg durch die beiden verfeindeten Systeme des Westens und Ostens auf anderen Schlachtfeldern ausgetragen. Zwar erzwang der Kalte Krieg noch gewaltige Rüstungsanstrengungen, andererseits aber fanden seine wichtigsten Schlachten innergesellschaftlich statt, nämlich in der ökonomischen Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Kommunismus: Die militärische Rüstungsspirale war das eine Element des Kalten Krieges, das andere war die Systemkonkurrenz in der Wirtschafts- und der Sozialpolitik. Massenwohlstand, Sozialstaat, breite Beteiligung der Arbeitnehmerschaft an Staat, Gesellschaft und Wirtschaft waren Organisationsaufgaben des Staates in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und würden deshalb gesellschaftlich breit akzeptiert, eine steigende Steuerquote und eine wachsende Umverteilungsfunktion des Staates zum Ausgleich sozialer Unterschiede und zur Herstellung von Chancengleichheit über die traditionellen Klassenschranken hinweg ebenso. Nicht die Panzerarmeen und Atomraketen haben diesen Krieg entschieden, sondern wirtschaftliche Effizienz, Massenwohlstand und Demokratie. Und so endete dieser Kalte Krieg, wie er geführt wurde, nämlich nicht auf dem militärischen Schlachtfeld, sondern mit dem Sieg des Westens in der Systemfrage. Die Sowjetunion scheiterte ökonomisch und sozial, weil sie im Modernisierungswettlauf der Systeme nicht mehr mithalten konnte.

Mit dem Ende des Kalten Krieges in Europa hat sich die strategische Gesamtlage für die europäischen Gesellschaften dramatisch verändert, denn nunmehr ist der Übergang von einer vierzigjährigen Kriegszeit hin zu einer Organisation des Friedens zu bewältigen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Kalte Krieg nicht nur ein europäischer Krieg war, sondern von den beiden Supermächten global geführt wurde, also faktisch ein Kalter Dritter Weltkrieg war. Die Transformationsprobleme der jetzt angebrochenen Friedenszeit (und vor allem auch die Transformationskosten, die im allgemeinen in der ersten Euphorie einer Revolution völlig unterschätzt werden, zumal wenn es sich um eine friedliche Revolution handelt) mussten demnach einen gewaltigen globalen Veränderungsdruck auslösen, mit ganz erheblichen Rückwirkungen auf die reichen Nationen des Westens. Für die Osteuropäer war dies eine schlichte Selbstverständlichkeit, die sich aus dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion ergab und für die sie unter vielen Opfern über die Jahrzehnte hinweg zu grossen Teilen gekämpft hatten. Diese tiefgreifende Umstellung der Gesellschaft weg vom Krieg hin zum Frieden betrifft aber genauso die reichen und konservativen westeuropäischen Gesellschaften, die aus ihrer inneren Verfasstheit heraus eigentlich überhaupt nicht auf fundamentale Veränderungen ausgerichtet sind. Das System hat, bei aller Kritik, bestens funktioniert und entsprach zudem ihrer Tradition und ihren Grundwerten, und so ging es den Westeuropäern mehr um die Optimierung ihrer Gesellschaftssysteme und überhaupt nicht um deren radikale Infragestellung. Genau dies ist aber die Konsequenz des Übergangs von einer Kriegszeit hin zu einer Friedenszeit. Das westeuropäische Modell hatte sich eben auch in seiner inneren Struktur an den Eisernen Vorhang angelehnt und wurde durch diesen in seiner inneren Entwicklung geschützt. Die Zeche hatten die Osteuropäer zu bezahlen, und auch damit ist es nunmehr unwiderruflich vorbei.

Der europäische Friede scheint diesmal von Dauer zu sein, und darin liegt angesichts der blutigen Geschichte des Kontinents eine einmalige historische Chance, die unbedingt genutzt werden muss. Man kann diese neue historische Qualität besonders an der Lage Deutschlands erkennen, jenes Deutschlands, das in den vergangenen vierhundert Jahren entweder Schlachtfeld oder Schlächter der europäischen Machtpolitik gewesen war. Dieses Deutschland wurde 1990 nicht nur friedlich und mitder Zustimmung aller seiner Nachbarn und beteiligten Mächte wiedervereinigt, sondern konnte zudem im westlichen Bündnis bleiben, befindet sich zum ersten Mal in seiner Geschichte in gesicherten und anerkannten Grenzen, hat keinerlei Gebietsansprüche gegen irgendeinen seiner Nachbarn, ist nur von Freunden und Verbündeten umgeben und durch Verträge fest in Nato und Europäischer Union verankert. Eine vergleichbare Lage gab es noch nie zuvor in der deutschen und europäischen Geschichte und ebensowenig einen vergleichbaren Vorgang. Frühere deutsche Nationalstaatsbildungen hatten den Kontinent zutiefst erschüttert und ihn völlig aus dem machtpolitischen Gleichgewicht gebracht, was immer Krieg hiess, heute geschieht derselbe Prozess friedlich und in höchstem internationalen Einvernehmen. Kaum etwas macht die wahrhaft revolutionäre Veränderung der europäischen Lage deutlicher als die Reaktion des

Kontinents und der wichtigsten Mächte auf die deutsche Vereinigung. Wir haben es gegenwärtig mit einem revolutionären, sehr tief reichenden Bruch in der europäischen Geschichte zu tun, der nicht nur ins innerste Gefuege der europäischen Machtstruktur eingreift, sondern der darüber hinaus die entscheidenden Konstanten der politischen und kulturellen Identität der europäischen Völker - Nation, nationale Souveränität, nationale Währung, nationale Aussenpolitik oder ganz allgemein: ihr Verständnis vom Staat - erschüttert und in nächster Zukunft, bedingt durch die Notwendigkeit der europäischen Einigung, noch sehr viel stärker erschüttern wird.

Dieser revolutionäre Bruch in der europäischen Geschichte hat in allen westeuropäischen Gesellschaften eine Entwicklung ausgelöst, die gewaltige

innergesellschaftliche Anpassungszwänge für die beteiligten Nationen mit sich bringt. Weil der alles beherrschende und die gesamte gesellschaftliche Entwicklung klar strukturierende Aussendruck des Kalten Krieges verschwunden ist, kommt nun der Innendruck, das Ergebnis der innergesellschaftlichen Widersprueche, ohne weitere Ablenkung oder gar Dämpfung von aussen voll zur Wirkung und verlangt nach seiner konstruktiven Organisation und produktiven Umsetzung. Für Europa stellen die notwendigen Antworten auf diese radikal veränderte Lage nun alles andere als eine Kleinigkeit dar, denn es geht dabei für die beteiligten europäischen Nationen um sehr viel: Wie und nach welchen Grundsätzen werden sich die europäischen Gesellschaften ohne Feind von aussen und ohne Krieg im Innern organisieren? Wie wird ihr neues Prinzip des sozialen Wandels aussehen, das nicht mehr von Kriegen angetrieben sein wird? Wie wird sich der gesellschaftliche Zusammenhalt ohne Aussendruck gestalten? Was wird dabei die Rolle des Staates sein? Wie wird sich der nationale Eigensinn und die Eigenständigkeit der europäischen Nationen mit einem politisch vereinigten Europa verbinden lassen? Und wie also wird die sogenannte "Finalität der europäischen Integration" aussehen? Oder wird es am Ende dazu mangels Aussendruck niemals kommen? Dies sind die entscheidenden Fragen der europäischen Innenpolitik in allen beteiligten Nationen des Kontinents, die der politischen Beantwortung bedürfen. Bei der praktischen Beantwortung dieser Existenzfragen werden die Europäer, so unterschiedlich sie in ihren Nationen und Völkern ansonsten auch sein mögen, den Kern ihrer gemeinsamen Identität, nämlich ihr Staatsverständnis, verändern und erneuern müssen, wenn sie in einer sich globalisierenden Welt nicht zu den Verlierern gehören wollen. Denn mit dem Ende des Kalten Krieges scheint auch eine vierhundertjährige Epoche des Aufstiegs des säkularen europäischen Staates zu Ende gegangen zu sein.

Europa ist der Kontinent der Geschichte. Die vielen Völker, die vielen Sprachen, die vielen Kulturen, Staaten und Territorien, die stolzen Nationen, sie alle haben ihre Geschichte, ihre Konflikte, ihre Kriege, ihre offenen Rechnungen, ihre Urteile und Vorurteile und können von alldem nicht lassen. Diese Geschichte hat sich vor allem in den Nationalstaaten verfestigt, ist dort zu politischer Wirklichkeit und Macht geworden. Das ist Europa, und wer das politische Europa der Zukunft bauen will, wird diese Grundtatsachen in Rechnung stellen müssen, oder er wird scheitern. Ohne die Rechnung mit der Vergangenheit gibt es keine europäische Zukunft. Freilich steht diese etatistische Vergangenheit völlig quer zu den neuen Imperativen der kapitalistischen Globalisierung. Anders als in den USA führt jedes grössere politische Problem der europäischen Gegenwart bei seiner Analyse unmittelbar in die Tiefen der europäischen Geschichte, und dies gilt noch sehr viel mehr für die Gefühlslagen der europäischen Völker und ihrer Eliten. Man hat es dabei keineswegs mit einer europäischen Marotte zu tun, sondern vielmehr mit der anhaltenden Wirkung oft lange zurück reichender politischer und kultureller Prägungen.

Wer in Europa über Nation, Staat und Souveränität spricht, redet nicht einfach nur über eine pragmatisch den Bedürfnissen der Zeit anzupassende Form der institutionalisierten politischen Macht, sondern hier rührt man an den Kern der politischen Identität der Europäer, die weit in die vormoderne Zeit zurück greift. Und für die Geschichte der europäischen Identität gibt es einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Am Anfang war Rom. Erst im Kontakt mit der hellenisch-römischen Kultur und Staatsorganisation wird aus der in den grauen Nebeln einer fernen Vergangenheit verborgenen Stammesgeschichte der Kelten, Germanen und Slawen ein Bestandteil der europäischen und damit auch der eigenen Nationalgeschichte. Die keltischen Stämme betraten mit Cäsars Eroberung Galliens, d.h. mit ihrer zwangsweisen Einverleibung durch Rom, die europäische Geschichte, die germanischen Stämme mit der Völkerwanderung und der Eroberung des Weströmischen Reiches oder zumindest weiter Teile desselben. Die Slawen trafen zum grössten

Teil auf Ostrom, seine religiösen Traditionen und seine griechisch-römische Kultur, und wurden dadurch geprägt.

Karl der Grosse oder Charlemagne gilt Deutschen und Franzosen gleichermassen als Gruendervater ihrer nationalen Existenz, und dies nicht, weil er die Territorien dieser beiden Völker damals militärisch vereinigt hatte, und auch nicht, weil er mit der Übernahme der Kaiserwürde in Rom die Wiedererstehung des Imperiums unter den neuen Verhältnissen im Westen Europas verkörperte, sondern weil er ganz im Gegenteil ihren dauerhaften Unterschied in Kultur und Staatlichkeit begründet hat.50 Selbst heute noch spricht man bei den ersten sechs Mitgliedern der EU vom "karolingischen Europa" , was geographisch und kulturell durchaus seine Berechtigung hat. Das Mittelalter gilt in der landläufigen europäischen Meinung nicht nur deshalb als "finster", weil es kulturell über Jahrhunderte hinweg hinter die glanzvolle Kultur Athens und Roms zurück gefallen war, auch wegen manch schrecklichen Aberglaubens, sondern wegen seines unentwickelten politischen Ordnungsprinzips, wegen der Verfassung der Macht und eines schwächlichen Staates, so es ihn überhaupt gab. Private und das hiess feudale Mächte, die dezentral verfasst waren, dominierten im Mittelalter den politischen Raum, und die vorhandenen weltlichen und geistigen Zentralmächte, Kaiser und Papst, waren mehr oder weniger stark von diesen feudal-privaten Mächten abhängig. Die gesamte politische Herausbildung der europäischen Moderne war deshalb ein Kampf um die Zentralisierung privater Macht in den Händen des Staates, um die Entmachtung privater politischer Akteure also.

Das Gewaltmonopol ist die Magna Charta des modernen Staates, sein Existenzprinzip schlechthin, gleich in welcher Form er sich organisiert hat - ob autoritär oder demokratisch, monarchisch oder republikanisch, zentralistisch oder föderal. Für Europa ist deshalb die gegenwärtige Machtverschiebung - weg vom Staat und hin zu einer globalisierten Wirtschaft - historisch ein unerhörter Vorgang, der die europäische Geschichte seit dem Ausgang des Mittelalters und der grossen Territorial- und späteren Nationalstaatsbildungen umzukehren scheint. Die Entfeudalisierung Europas bedeutete die Entmachtung der adligen Stände zugunsten der zentralen Macht des Königs und damit des absolutistischen Staates.51 Dieser Prozess brachte den modernen europäischen Staat hervor, dessen Demokratisierung und Parlamentarisierung durch die verschiedenen bürgerlichen Revolutionen schliesslich gelang. Sein zentralistischer Machtanspruch als Staat durch sein umfassendes Gewaltmonopol gegenüber Privaten allerdings blieb auch unter den Bedingungen von Demokratie und Föderalismus ungebrochen. Nun hat sich über die Jahrhunderte hinweg der europäische Staat in seinen Zwecken zwar verändert, aus dem Machtstaat wurde ein freiheitlich verfasster Vorsorgestaat, und im Zuge dieser politischen Liberalisierung haben Gesellschaft und Wirtschaft auch eine wesentlich grössere Autonomie gegenüber dem Staat erhalten, d.h. der Machtstaat verlor seinen Ausschliesslichkeitsanspruch, allein es blieb die Dominanz des Politischen gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft unangetastet. Mit der Globalisierung scheinen nun erneut private Akteure dieses staatliche Machtmonopol ernsthaft in Frage zu stellen - mehr und mehr gilt dies auch für die innenpolitische Entwicklung, wie die fortschreitende Privatisierung der inneren

Sicherheit zeigt - und damit den Verlauf der vergangenen vierhundert Jahre europäischer Geschichte umzukehren, nur dass diesmal die Herausforderung nicht von einem grundbesitzenden Schwertadel ausgeht, sondern von globalen Finanzmärkten und globalen Wirtschaftsunternehmen.

Seit ihrem geschriebenen Beginn, spätestens aber mit dem Imperium Romanum, war die europäische Geschichte immer zuerst und vor allem Staatsgeschichte und eben nicht Gesellschaftsgeschichte gewesen. Exakt hierin liegt der fundamentale Unterschied zwischen Europa und den USA, die sich vor allem als Gesellschaft und damit gegen den Staat definieren, sozusagen als die Wirklichkeit gewordene Antithese zur europäischen "Staatsidentität" , und diese Wesensdifferenz zwischen Europa und den USA gewinnt nach dem Ende des Kalten Krieges eine enorme Bedeutung. Denn mit dem Rückzug der Gletscher des Kalten Krieges, die gewissermassen die nördliche Hemisphäre politisch und historisch unter der grossen Dichotomie von Kapitalismus und Kommunismus hatten erstarren lassen, traten die alten, politisch höchst unterschiedlichen und vielgestaltigen Landschaften der Zeit vor dem Kalten Krieg wieder hervor und damit auch die substantiellen politischen und ökonomisch-kulturellen Unterschiede zwischen der Alten und der Neuen Welt. Vieles am "Atlantismus" des Westens, der über vierzig Jahre Nordamerika und Westeuropa erfolgreich verbunden hat, erwies sich im hellen Sonnenlicht des Friedens als blosse Notgemeinschaft gegenüber einem mächtigen gemeinsamen Feind, die den Herausforderungen des Friedens nur schwerlich standhalten wird. Der gemeinsame Feind schuf das Verbindende, der Frieden hingegen fördert und betont erneut die Unterschiede zwischen Europa und Nordamerika, und diese sind in der Tat wesentlich und von hochpolitischen Folgewirkungen.

Allein die Perspektivenverschiebung seit 1989/90 ist gewaltig: Ein Europa ohne Aussendruck unterliegt der Gefahr, sich nach einer letzten grossen Anstrengung mit dem Maastricht-Vertrag und der gemeinsamen Währung erneut nach innen und damit seinen nationalen Eifersuechteleien und kleinlichen Widersprüchen zuzuwenden, so wie die USA sich ebenfalls verstärkt wieder auf sich selbst beziehen. Auch dort kommt es zu einer Dominanz der innenpolitischen Perspektive, überlagert zudem noch durch eine verstärkte Rolle Asiens und Lateinamerikas für die amerikanische Ökonomie. Die Dominanz der Innenpolitik heisst in der Regel eine Vorherrschaft der nationalen Interessen und Traditionen zu Lasten eines abgestimmten Interessenausgleichs mit Verbündeten, heisst also meistens eine Betonung der Unterschiede und nicht der Gemeinsamkeiten. Mit dem Ende des Kalten Krieges verstärkte sich in der amerikanischen Gesellschaft zudem massiv der Trend hin zu jenen politischen Kräften, die die Reste des New Deal aus den dreissiger Jahren und damit eine soziale Interventionsrolle des Bundesstaates endgültig überwinden wollten. Der Bundesstaat als solcher, seine Finanzen, seine Programme, seine Regulierungen und damit seine Rolle schlechthin wurde und wird umfassend in Frage gestellt. Der Staat soll sich aus der Funktion des sozialen Ausgleichs wieder zurück ziehen, in die er auch in den USA in den Jahren der Grossen Depression nach 1929 hineingewachsen war und die er auch unter allen republikanischen Präsidenten bis Reagan wahrgenommen hatte.

Diese Abkehr vom sozialen Interventionsstaat macht eindeutig die Mehrheitsstimmung in den Vereinigten Staaten aus, und dies war und ist dort der Kern der rechtsrepublikanischen, neoliberalen Revolution, der von Präsident Clinton und den Demokraten nahezu vollständig übernommen wurde. Dieser Antietatismus, der in der amerikanischen Innenpolitik die Grenze zu einem rechten bis rechtsradikalen Anarchismus bisweilen überschreitet, verkörpert eine uramerikanische Tradition, die, bedingt durch den New Deal, den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg, aus europäischer Sicht scheinbar nur noch den Charakter einer subkulturellen amerikanischen Folklore besass. Dies sollte sich aber spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges als ein grosser Irrtum erweisen. Denn die in den USA begonnene wirtschaftsliberale Revolution greift durch den Prozess der Globalisierung nunmehr auch auf Europa über, nur dass sie hier auf einen völlig anderen historisch-kulturellen Hintergrund trifft und demnach auch weit radikalere und gefährlichere Konsequenzen haben wird, wenn sie nicht "europäisiert" und d.h. den ganz anderen Bedingungen dieses Kontinents angepasst wird.

Amerika hat in seiner Tradition recht eigene "checks and balances" entwickelt, welche die extremen Pendelschläge seiner innenpolitischen Entwicklung immer in die Mitte hinein ausgleichen. Normen und Institutionen in Gesellschaft und Staat sind von ganz anderer Elastizität und demnach auch Belastbarkeit und Dauer, als es etwa in Europa der Fall war. Unter den Bedingungen des faktischen Fehlens ernstzunehmender äusserer Feinde in den vergangenen zweihundert Jahren seit dem Unabhängigkeitskrieg konnte sich in den USA in Gestalt der "Volkssouveränität", eng angelehnt an Montesquieus Idee von der Gewaltenteilung55, die Vorherrschaft der Gesellschaft gegenüber dem Staat und damit die Freiheit vor der Sicherheit durchsetzen und erhalten, wie es in Europa unter seinen ganz anderen Bedingungen schlicht niemals möglich war. "Es gibt Länder, wo eine Macht gewissermassen von aussen her auf die Gesellschaft wirkt und sie in einer bestimmten Richtung zu gehen zwingt. Es gibt andere, wo die Gewalt geteilt, gleichzeitig in ihr selbst und ausserhalb von ihr verankert ist. In Amerika sieht man nichts dergleichen; die Gesellschaft wirkt durch sich selbst und auf sich selbst" , schrieb bereits 1835 der französische Jurist Alexis de Tocqueville in seinem Buch "Über die Demokratie in Amerika", ein Werk von faszinierender Aktualität.

"Nur in ihr gibt es Macht, man findet sogar fast niemanden, der den Gedanken fassen oder gar aussprechen dürfte, man solle sie aus einer anderen Wurzel ableiten. Das Volk nimmt an der Abfassung der Gesetze teil durch die Wahl der Gesetzgeber, an ihrer Anwendung durch die Wahl der ausübenden Gewalt; so gering und begrenzt ist der Anteil der Verwaltung, so sehr zeigt sich ihr Ursprung aus dem Volk und gehorcht sie der Macht, der sie entstammt, dass man sagen kann, das Volk regiert selbst. Das Volk beherrscht die amerikanische politische Welt wie Gott das All. Es ist der Ursprung und das Ziel aller Dinge; aus ihm geht alles hervor und zu ihm kehrt alles zurück ."

In Europa findet sich eine vergleichbare, radikal auf der Volkssouveränität und damit auch auf der Freiheit beruhende Demokratie am ehesten noch in der Schweiz, denn selbst die englische Demokratie (für Montesquieu immerhin das historische Vorbild zur Entwicklung seiner Idee der Gewaltenteilung) beruht auf der Parlamentssouveränität, d.h. nicht auf der Idee der Volkssouveränität, sondern auf der Idee der Herrschaft des Parlaments, das erst in juengerer Zeit durch das allgemeine Wahlrecht wirklich zur Volksvertretung geworden ist. In Frankreich ist es die Idee der Nation und der Republik und nicht das Volk, das im Mittelpunkt seiner revolutionären Tradition steht. Und Deutschland? In Deutschland liegt, trotz vier Jahrzehnte erfolgreicher bundesrepublikanischer Demokratie, Preussen und seine Staatsfixierung noch immer gleich hinter der nächsten mentalen Ecke. Ladenschlussgesetz, Nachtbackverbot, Deutsche Bauordnung, Deutsche Industrienorm (DIN), etc. - alles obrigkeitsstaatliche Monstrositäten für ein amerikanisches Gehirn! -, diese ganze etatistische Regulierungswut von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland ist wesentlich älter als die kurze Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und kulturell sehr tief in allen Schichten des deutschen Volkes verwurzelt. Historisch gewachsene Mentalitäten im Leben der Völker und Nationen erweisen sich als äusserst zäh und sehr dauerhaft, und nur weil die Börse, der Zeitgeist oder der Weltmarkt das wollen, werden diese Traditionen und kollektiven Mentalitäten nicht einfach verschwinden. Die europäischen Auswanderer nach Amerika hatten mit der langen und gefahrvollen Reise über den Atlantik nicht nur viel riskiert, sie wollten offenbar auch mit aller Gründlichkeit die Herrschaft von Krone und absolutem

Staat hinter sich lassen. "We, the People of the United States..." ("Wir, das Volk der Vereinigten Staaten..." ) beginnt der erste Satz der amerikanischen Verfassung, und das war bis in den Stil der Anrede hinein die Kampfansage der Volkssouveränität an das fürstliche Gottesgnadentum des absolutistischen Staates in Europa. Wenn die USA eine europäische Staatsgruendung in Amerika sind, so sind sie in ihren wesentlichen Grundprinzipien eben gerade eine eindeutige Absage an die absolutistische Staatstradition Europas, wie sie Thomas Hobbes als Antwort auf das sich in religiösen Bürgerkriegen selbst zerstörende Europa des 16. Jahrhunderts mit bleibender Gültigkeit formuliert hat: "Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Über griffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch den eigenen Fleiss und von den Fruechten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können Dies ist mehr als Zustimmung und

Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes grossen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm soviel Macht und Stärke zur Verfuegung, die auf ihn übertragen worden ist, dass er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken. Hierin liegt das Wesen des Staates...Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan."

Die USA mit ihrem radikal optimistischen Begriff von Volkssouveränität sind die Wirklichkeit gewordene Antithese zu diesem gleichermassen zutiefst europäischen wie pessimistischen Staatsverständnis, das allerdings bis auf den heutigen Tag in Europa seine Wirkung zeigt, was angesichts der ersten Hälfte dieses blutigen 20. Jahrhunderts allerdings nicht verwundert. Europa ist der Kontinent der Geschichte, Nordamerika der Kontinent des Marktes. In Europa dominiert der Staat, in den USA die Gesellschaft. Europas Grundprinzip ist die Ordnung, Amerikas Grundprinzip die individuelle Freiheit. Gewiss hat eine solche Schematisierung nach Prinzipien immer etwas Verkürzendes, denn weder sind die USA als Supermacht staatsfern, noch regiert im Europa der Gegenwart ein absolutistischer Staat, auch wenn man die kontinentaleuropäische Mentalität durchaus als "spätabsolutistisch" charakterisieren kann. Die USA sind nachgerade verliebt in ihre junge Geschichte, und in Europa gibt es heute fast überall Freiheit und Marktwirtschaft, und so liesse sich an Gegenargumenten noch mehr vortragen. Allein, diese gehen dennoch daneben, da es hier um die Dominanz der jeweiligen Prinzipien geht. Welches Prinzip bestimmt die Völker, ihre Tradition, ihre Gefuehle, ihren Zeitgeist und ihre Politik? Entlang dieses Massstabes der vorherrschenden Prinzipien macht die vorgenommene Unterscheidung dann aber grossen Sinn, denn an ihr werden die vorhandenen Wesensunterschiede sehr klar sichtbar.

Die Staatsidee der USA ist die Freiheit, die der allermeisten europäischen Staaten hingegen bis auf den heutigen Tag die Sicherheit, wobei die äussere Sicherheit zunehmend zugunsten der sozialen Sicherheit in den Hintergrund trat. Die USA hingegen sind, trotz aller Machtpolitik, trotz aller nationalen Egoismen, trotz Vietnam und anderer kolonialer Unterdrueckungskriege, letztendlich bis auf den heutigen Tag die Verwirklichung einer optimistischen, staatsfernen Utopie, des "Strebens nach Glück (pursuit of happiness)" für alle. Bereits in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 wird dies als revolutionäres Programm formuliert: "Folgende Wahrheiten bedürfen für uns keines Beweises: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre rechtmässige Autorität aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass das Volk berechtigt ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Prinzipien zu errichten und ihre Gewalten solchermassen zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glücks am ratsamsten erscheint."

Europa hingegen ist in der Grundidee seiner modernen demokratischen Gesellschaften bis auf den heutigen Tag, auch und gerade in der Form des demokratischen Sozialstaats, paternalistisch geblieben, während die Gründungsidee der amerikanischen Demokratie die Utopie der Gleichheit aller Individuen in der Chance nach dem Streben nach irdischem Glück darstellt. Die Verfassung und die staatliche Gewalt haben diese Chancengleichheit zu garantieren, nicht aber die Gleichheit materiell herzustellen und durchzusetzen, wie es der europäischen Sozialstaatstradition entspricht. In den USA dominiert ein egalitär ökonomischer, die individuelle Chancengleichheit in den Vordergrund stellender, den Staat auf das alleräusserste Minimum reduzierender Ansatz, dem jegliche Form von staatlichem Paternalismus, und sei er sozial noch so gerechtfertigt, suspekt sein muss. Denn ein auf Umverteilung und demnach auf höhere Steuern gründender sozialstaatlicher Ausgleich zwischen den Starken und Schwachen in einer Gesellschaft steht der Verwirklichung dieser egalitär-individualistischen Utopie eindeutig entgegen.

Und weil die USA eine utopische Gründungsidee verwirklichen - die demokratische Gleichheit in dem Streben nach Glück -, begreifen sie sich nicht nur als eine Nation mit einer politischen Mission, sondern sie lehnten die konkurrierende kommunistische Utopie aus demselben Grund ebenso radikal ab. Der Kalte Krieg war insofern auch eine Auseinandersetzung zweier sich ausschliessender Utopien der europäischen Moderne gewesen, die sich auf Leben und Tod gegenüberstanden. Der kommunistische Marxismus, der gleichermassen eine optimistische Gründungsidee verkörperte, zog allerdings eine fundamental andere Konsequenz aus dem Kanon der Grundwerte der europäischen Aufklärung von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit": Er setzte auf die Herstellung der Gleichheit zu Lasten der Freiheit und radikalisierte den Staatsabsolutismus hin zum totalitären Staat, zur totalen Herrschaft des Staates über Wirtschaft und Gesellschaft. Durch diesen Gewaltakt der absoluten Unterdrückung der Freiheit des Individuums sollte die grosse Gleichheit aller in einer klassenlosen Gesellschaft erreicht werden. Nicht das individuelle Streben nach Glück war sein Ziel, sondern die erzwungene Gleichheit der Menschen durch die totale Macht des Staates. Die kommunistische Utopie versprach die Freiheit der Gesellschaft durch die Unterdrückung der Freiheit des Individuums, und dieses Versprechen erwies sich als ein grausamer Irrtum, der in der Barbarei endete.

Die marxistische Utopie ist schliesslich an der Wirklichkeit gescheitert, nicht so jedoch das utopische Versprechen der amerikanischen Revolution. Man mag die amerikanische Massenkultur ablehnen und Coca Cola, Hamburger, Hollywood etc. banal finden oder gar hassen, aber die globale Kraft des American Way of Life hat nicht allein mit der technologischen Überlegenheit, der Grösse und dem Potential der amerikanischen Wirtschaft, der Macht des Dollars und der letzten politisch-militärischen Supermacht USA zu tun, sondern die amerikanische Art zu leben transportiert eben auch den ganzen utopischen Gehalt des amerikanischen Gesellschaftsmodells, seiner Verbindung von Gleichheitsversprechen, Freiheit und

Modernität und seiner demokratischen Institutionen und Werte. Und dieser implizite Inhalt des amerikanischen Lebens- und Konsumstils wirkt ausserhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten eben nicht nur oft bedrohlich, sondern noch öfter subversiv und meist überaus attraktiv. Zudem ist der American Way of Life unerschuetterlich immer in doppelter Form aufgetreten: demokratisch und kapitalistisch zugleich.

Benjamin Barber arbeitet diesen utopischen Grundgehalt der amerikanischen Demokratie in seiner Kritik an der globalen McWorld-Kultur heraus: "Die alte Ökonomie, in der sich harte Macht widerspiegelte, handelte mit harten Waren, die für den Körper bestimmt waren. Die neue Ökonomie, die "sanfte" Macht widerspiegelt, hängt von "unstofflichen" Dienstleistungen ab, die auf Seele und Geist gerichtet sind. McWorld kümmert sich wenig um Konsumentenautonomie, noch weniger um Wettbewerb und überhaupt nicht um alle Arten von Freiheit und Pluralismus, die für die politische Freiheit lebensnotwendig sind. Für die Freiheit ist jedoch noch gefährlicher, dass McWorld in den öffentlichen Bereich eingedrungen ist und an seiner Beseitigung mitwirkt. Sein grösster Erfolg bestand darin, dass er zur Abschaffung des zivilgesellschaftlichen Raumes beitrug. Hierbei wurde er durch die antistaatliche Privatisierungsideologie unterstützt, die in den letzten Jahren die Politik beherrschte. Die mächtige Vorstellung von einer Bürgergesellschaft mag heute zwar im Niedergang begriffen sein, doch ist darin der Schlüssel für die frühe demokratische Dynamik Amerikas zu sehen. Für die britischen und kontinentaleuropäischen Theoretiker stellte die Zivilgesellschaft einen intermediären Raum zwischen

dem Staat und dem Individuum dar. Das grosse Verdienst dieses Gesellschaftstyps war, dass er mit dem Staat das Gefühl für Öffentlichkeit und einen Sinn für das Gemeinwohl teilte, doch anders als der Staat keinen Anspruch darauf erhob, das Monopol an legitimer Gewalt auszuüben Die Bürgergesellschaft ist die Domäne, die

potentiell zwischen dem Staat und der Privatsphäre vermitteln kann, zwischen der Identität einer geschlossenen Gruppe und der Identität eines einsamen Konsumenten, zwischen Djihad und McWorld."

Diese amerikanische Tradition und Kultur von Freiheit und Kapitalismus, die bereits in den Jahrzehnten des Kalten Krieges sehr stark zur "Verwestlichung" der westeuropäischen Nationen beigetragen hat, gewinnt durch den Prozess der Globalisierung nunmehr eine neue, herausfordernde Bedeutung für Europa. Im Zweiten Weltkrieg und seiner Fortsetzung, im Kalten Krieg, waren die Vereinigten Staaten "europäischer" , d.h. etatistischer geworden, und dieser innere Gleichklang machte, zusammen mit dem gemeinsamen äusseren Feind, den Transatlantismus in den vier Jahrzehnten des Kalten Krieges so überaus erfolgreich. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist jetzt nicht nur der gemeinsame äussere Feind verschwunden, sondern die europäischen Gesellschaften und die USA driften normativ zusehends auseinander, da die USA jetzt definitiv wieder "amerikanischer" geworden sind.

Der Prozess der Globalisierung spitzt die kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften erheblich zu, indem er sie zu nivellieren, ja sogar zu überwinden versucht entlang der nordamerikanischen Modellvorgabe. Die Globalisierung liegt zwar in der Revolution der Kommunikationstechnologie, in der damit einhergehenden Durchlässigkeit nationaler Grenzen und Regelungen und in der Grösse der rentierliche Anlagen suchenden Kapitalien begründet, aber in seiner Form vollzieht sich dieser Globalisierungsprozess im wesentlichen nach den Vorgaben der USA, d.h. kulturell wird diese revolutionäre Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft als Amerikanisierung erfahren. Angefangen von der Kommunikationstechnologie über das Internet bis hin zu den innovativen Finanzmärkten, der Deregulierung der Wirtschaft, dem Niedrigsteuerstaat, der Auflösung der Arbeitsgesellschaft und ganz allgemein der gesellschaftlichen und auch normativen Entwicklung einschliesslich der Werterevolution des Neoliberalismus - überall dominieren die USA oder geben zumindest den Takt und die Richtung der Entwicklung vor. Dies ist Ausdruck und Ergebnis der technologischen und wirtschaftlichen Stärke und Dynamik der USA. Globalisierung in ihrer heutigen Form heisst also immer auch Amerikanisierung, und damit geraten Form und Inhalt in einen gefährlichen Widerspruch. Denn auf Dauer wird diese Form der Globalisierung nicht akzeptiert werden, da eine globale Amerikanisierung nicht nur die Kräfte der USA überfordern, sondern auch zu heftigen Gegen- und Abwehrreaktionen anderer Nationen und Kulturen führen wird. Bei allen Gewichtsunterschieden, die es in der internationalen Politik und Wirtschaft nun einmal gibt, wird sich der Globalisierungsprozess letztendlich auch kulturell seine plurale Form suchen und finden müssen, da ansonsten die Globalisierung zu kulturellen Identitätskriegen in der virtuellen und

schliesslich auch realen Welt führen wird. Die angelsächsische Massenkultur wird dabei immer eine herausragende Rolle spielen, aber sobald sie als kulturelle Kolonisierung und Überwältigung empfunden wird, wird sie kulturfundamentalistische Reaktionen auslösen. Die Pluralisierung des Globalisierungsprozesses liegt deshalb auch im Interesse der USA selbst. Allerdings setzt dies globalisierungsfähige, ökonomisch-politische

Grössenordnungen bei möglichen Partnern oder Konkurrenten der USA voraus - weitere politische Global Players also, die ihr eigenes ökonomisches, politisches und kulturelles Gewicht in der globalisierten Welt von morgen entfalten können. Die europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts jeweils für sich, das ist bereits heute gewiss, werden dies von ihrer Grösse her allerdings nicht mehr zu leisten vermögen. Sie müssen daher zusammenfinden oder werden, so sie getrennt bleiben, weit zurück fallen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass man gerade in der anderen grossen bürgerlich-revolutionären Nation, in Frankreich, mit seiner den USA in vielem ähnlichen und dann doch im wesentlichen Punkt des Staatsverständnisses diametral entgegengesetzten Tradition, auf den gegenwärtigen Globalisierungsdruck kulturell am sensibelsten und mit dem intellektuell und sozial energischsten Widerspruch reagiert.66 Frankreich verband dieselben Werte der Aufklärung - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - mit der Idee der Republik und der Nation (und war deshalb nicht von ungefähr gemeinsam mit dem frühindustrialisierten Grossbritannien die Geburtsstätte sozialistischer Ideen und Theorien), nicht mit der Idee der Volkssouveränität. Die Republik hatte als ihren obersten Zweck, die Nation zu vereinen und deren nationale Freiheit als auch die individuelle Freiheit und die Gleichheit aller ihrer Bürger zu gewährleisten.

Frankreich war nicht nur das Mutterland des europäischen Absolutismus gewesen, sondern es verband diesen mit den Grundwerten der Französischen Revolution und schuf so die eine Hälfte der modernen europäischen Staatsidee. England trug mit dem Parlamentarismus deren zweite Hälfte bei. Die französische Definition der Nation beruht nicht auf gemeinsamer Abstammung, wie das in Deutschland bis heute noch in den Köpfen und auch im deutschen Staatsbürgerrecht herumspukt, sondern auf gemeinsamen republikanischen Werten des souveränen Volkes, ausgehend von den unveräusserlichen Rechten des Menschen.67 Hierin liegt die eigentliche Parallelität und Seelenverwandtschaft zu den USA. Die politische und soziale Ausgestaltung dieser Werte trennt die beiden Nationen dann allerdings wieder grundsätzlich, denn in Frankreich hat der Staat als Republik eine die Gesellschaft beherrschende Rolle. Er hat für die Wohlfahrt der Individuen und der Nation zu garantieren, und dafür wurde ihm die notwendige Macht übertragen. Die Garantie materieller Gerechtigkeit und Gleichheit durch den Staat war von Anfang an in Frankreich integraler Bestandteil des bürgerlich-revolutionären Begriffs von der Nation. "Das Notwendigste und das Schwerste in einer Regierung ist die strenge Unbescholtenheit, alle gerecht zu beurteilen und besonders den Armen gegen die Tyrannei des Reichen zu beschützen Eine der wichtigsten

Aufgaben der Regierung besteht also darin, diese äusserste Ungleichheit der Besitztuemer zu verhindern..." 68, so liest man es bereits bei Jean-Jacques Rousseau. Und diese Grundüberzeugung von der in die Wirtschaft und Gesellschaft eingreifenden, ordnenden Rolle des Staates - und damit auch seine sozialstaatliche Ausgleichsfunktion - eint in Frankreich nicht nur die Linke, sondern das gesamte republikanische Lager, d.h. auch der Gaullismus wird bis heute davon wesentlich geprägt.

Nationalstaat und Nationalökonomie sind gemeinsam mit der Nationalkultur die drei institutionellen Säulen, auf denen der französische Begriff der Nation beruht. Wenn eine dieser drei institutionellen Säulen wegbricht, dann droht das gesamte republikanische Gebäude einzustuerzen, und genau dies ereignet sich gegenwärtig mit der Transformation der Nationalökonomien in eine globale Ökonomie. Die Nationalstaaten drohen ihre nationale Wirtschaft zu verlieren und damit einen wesentlichen Teil ihrer selbst. Nirgendwo in der westlichen Welt wird dies klarer empfunden als in Frankreich, denn an der souveränen Nation hängt die Garantie der Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Nie käme man in Frankreich auf die Idee, dass anonyme Märkte oder eine ebenso anonyme Gesellschaft diese Garantien für die elementaren republikanischen Grundwerte ernsthaft übernehmen könnten, geschweige denn, dass der Nationalstaat lediglich einen minimalen Sicherheitsrahmen für die Freiheit des souveränen Volkes zu garantieren habe, wie das in den USA der Fall ist und wie es die Rolle des "Wettbewerbsstaats" im Zeitalter der Globalisierung zu werden droht.

Wird das westliche Buendnis, der Atlantismus der Nachkriegszeit also, fortan von einem "Clash of Civilizations" zwischen den USA und EU-Europa abgelöst werden, einem Kampf der unterschiedlichen kapitalistischen Kulturen diesseits und jenseits des Atlantiks, dessen Schlachtfeld die Weltwirtschaft und der Prozess der Globalisierung sein wird? "Zum ersten Mal in der Geschichte hat der Kapitalismus wirklich den Sieg davongetragen. Und zwar auf der ganzen Linie. Die vielleicht wichtigste Frage des Jahrhunderts kann zu den Akten gelegt werden" , so Michel Albert.69 Die Systemfrage Kapitalismus versus Sozialismus sei spätestens seit der Jahreswende 1989/90 erledigt. Was jetzt folge, sei die Beantwortung der Systemfrage innerhalb des Kapitalismus: Das angelsächsische Modell stehe hier gegen das deutsch-japanische. Der Sieg des Kapitalismus habe sich an drei Fronten vollzogen: der Sieg der konservativen (besser: radikal wirtschaftsliberalen) Revolution zuerst in Grossbritannien unter Margret Thatcher und dann unter Ronald Reagan in den USA, der Sieg des Westens über den Sowjetkommunismus im Kalten Krieg seit 1989/90 und schliesslich der Sieg über Saddam Hussein im Golfkrieg 1991.

Hier geht es vor allem um die beiden ersten Siege, denn diese Entwicklung ist Kraft des ökonomischen und politischen Gewichts der USA auf den globalen Märkten von anhaltender internationaler Bedeutung. Der Dollar ist nicht nur wegen der Supermachtrolle der USA und der Dominanz ihrer Ökonomie zur globalen Leitwährung geworden, sondern insgesamt geben die inneren ökonomischen, sozialen und kulturellen Trends der USA den Takt der Entwicklung des gesamten Westens vor. Dies gilt auch und vor allem für den Verlauf der neoliberalen Revolution, die sich in anderen Ländern gemäss dem Vorbild der amerikanischen Innenpolitik mit der üblichen Zeitverzögerung zu vollziehen scheint.

Der Hauptstoss der neokonservativen Revolution erfolgt dabei immer nach demselben Muster, indem er das staatliche Steuersystem als zentralen Mechanismus der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums angreift. Dies ist zugleich das Herz der Politik jeder demokratischen Linken in einer modernen Massengesellschaft, denn an der fiskalischen Redistribution eines nicht unerheblichen Teils des jährlichen Bruttosozialprodukts hängt ganz entscheidend die Frage der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen und Klassen einer Gesellschaft. Verliert die demokratische Linke diese

Schlacht - und auch dies lehrt die amerikanische Erfahrung -, so erleidet sie eine strategische Niederlage (das Strategische dieser Niederlage ist nicht nur der politische Machtverlust, sondern vielmehr der Verlust der gesellschaftlichen Hegemonie ihrer Werte), welche sie auf lange Zeit in die Opposition verbannen und die Gesellschaft und ihre Werte tiefgreifend verändern wird. Robert Reich, der ehemalige Arbeitsminister in der ersten Amtszeit von Präsident Clinton, hat diesen gleichermassen einfachen wie äusserst wirksamen Mechanismus, der sich auch gegenwärtig in Europa durchsetzt, am Beispiel der USA so treffend beschrieben, dass er hier ausführlich zu Wort kommen muss: "Die Republikaner haben zwölf Jahre lang eine Strategie perfektioniert, den Umfang öffentlicher Leistungen zu verkleinern. Sie hätten es nie gewagt, die Frage nach den öffentlichen Ausgaben direkt in Angriff zu nehmen, dafür waren zu viele der öffentlichen Programme zu beliebt. So dachten sie sich einen anderen Plan aus: Zunächst setzten sie die Steuern herab. Sie erklärten der Öffentlichkeit, dass Steuersenkungen den unternehmerischen Eifer derart beflügeln würden, dass diese Senkungen im Hinblick auf die dadurch zu erwartenden neuen Steuereinnahmen sich mehr als auszahlen würden. Als das nicht geschah und das Haushaltsdefizit explodierte, schlugen die Republikaner eine andere Tonart an. Sie zeigten sich empört über die steuerliche Verantwortungslosigkeit. Sie forderten den massiven Abbau des Haushaltsdefizits und beschworen die Notwendigkeit, den Haushaltsetat auszugleichen. Reagan hatte eine bescheidene jährliche Neuverschuldung (59 Milliarden US-Dollar) und einen überschaubaren Schuldenberg (914 Milliarden US-Dollar) geerbt. Aber durch die Steuersenkungen - hauptsächlich zugunsten der Reichen (der Höchstsatz fiel von 70 auf 28 Prozent) - und durch die Anhebung der Rüstungsausgaben trieb Reagan die jährliche Neuverschuldung in astronomische Höhen von 200 Milliarden US-Dollar; Schulden "so weit das Auge reicht", wie Stockmann es formulierte. Die Demokraten, immer auf der Suche nach mehr Geld für ihre Lieblingsprojekte, waren überglücklich, mit Reagan zu kooperieren. Jetzt, zwölf Jahre später, beträgt der Schuldenberg mehr als 1 Billion US-Dollar, und die jährliche Neuverschuldung beläuft sich auf über 300 Milliarden US-Dollar. Jetzt fordern Republikaner den Abbau des Defizits. Und weil ein Grossteil der amerikanischen Arbeitnehmer weniger verdient als zuvor und sich höhere Steuern nicht mehr leisten kann, besteht die einzig realistische Alternative, das Defizit abzubauen, darin, die öffentlichen Ausgaben zu beschneiden.

Hokuspokus - Fidibus! Diese Strategie hat brillant funktioniert."

Die neokonservative Revolution konnte angesichts ihrer Stärke nicht ohne radikale gesellschaftliche Auswirkungen bleiben, welche die amerikanische Gesellschaft zunehmenden Desintegrationserscheinungen von bedrohlichen Ausmassen aussetzen. Faktisch bedeutete die wirtschaftsliberale Revolution nichts weniger als eine gigantische Bereicherung der oberen und obersten Einkommen zu Lasten der Mittelschicht und vor allem der Unterschicht, ohne dass die versprochenen positiven Nebenwirkungen für die da unten eingetreten wären. "Diese unteren Lohngruppen haben überdurchschnittlich verloren: Die am schlechtesten verdienenden zwanzig Prozent der Bevölkerung mussten seit 1979 über zwölf Prozent reale Lohneinbussen hinnehmen. Das gilt in geringerem Ausmass auch für alle übrigen Einkommensgruppen, mit Ausnahme jener zwanzig Prozent Besserverdienenden, die heute um zehn Prozent reicher geworden sind. Die realen Stundenlöhne sind zwischen 1979 und 1997 im Schnitt von 8,63 Dollar auf 7,50 Dollar zurück gegangen. Der gesetzliche Mindestlohn, über den viele nicht hinauskommen, steigt im September 1997 zum ersten Mal über die Marke von 5 Dollar auf 5,15 Dollar. Die Arbeitszeiten sind länger geworden; und in der Durchschnittsfamilie gehen Mann und Frau beide morgens zur Arbeit. Die Kluft der Einkommen zwischen Universitäts- und HighschoolAbsolventen wächst, und sie wächst auch innerhalb der einzelnen Bildungsschichten."

Auch wenn die USA gegenwärtig in vielen Bereichen ihrer Volkswirtschaft, bis auf die Sparquote, besser dastehen als Europa, so muss man doch festhalten, dass der dafür zu entrichtende Preis enorm hoch ist. Nominell sind nur die oberen zwanzig Prozent, tatsächlich aber nur die obersten fuenf Prozent der Einkommen die Gewinner dieser Entwicklung! Der Mittelstand stagniert und beginnt ökonomisch zurück zufallen, während die unteren Einkommen seit längerem dramatisch absinken und die wirklich Armen sich selbst überlassen bleiben. Der wirtschaftsliberale Radikalismus des angelsächsischen Kapitalismusmodells nimmt die Desintegration der Gesellschaft nicht nur in Kauf, sondern strebt diese als Produktivitätsfaktor nachgerade bewusst an. Nicht umsonst begann daher diese Revolution sowohl in Grossbritannien als auch in den USA mit einer strategischen Schwächung der Gewerkschaften.

Dem angelsächsischen Modell des Kapitalismus steht in der Konstruktion von Michel Albert das Modell des deutsch-japanischen, des "rheinischen Kapitalismus" gegenüber, dessen eigentliches Ziel die soziale Integration der Gesellschaft ist. Dieser korporatistisch organisierte und sozialstaatlich verfasste "rheinische Kapitalismus" ist politisch und sozial in hohem Masse konsensorientiert, baut auf eine starke, wirtschaftlich und sozial gestaltende Rolle des demokratischen Staates und setzt an die Stelle der gesellschaftlichen Konfrontation den Klassenausgleich in Gestalt von "Sozialpartnerschaft" mit starken Gewerkschaften, die dadurch nicht nur den Interessen ihrer Mitglieder verpflichtet sind, sondern auch den Interessen der Unternehmen und der gesamten Volkswirtschaft. Und genau dieses Modell, das man auch einen "sozialen Kapitalismus" nennen könnte, gerät gegenwärtig massiv in die Krise und unter den Druck des angelsächsisch-amerikanischen Modells.

Erinnern wir uns noch einmal der historischen Ursachen für den "sozialen Kapitalismus" Westeuropas: Die Selbstzerstörung der bürgerlichen Welt im Ersten Weltkrieg und die Massenarmut des Industriezeitalters führte zu einer hochgefährlichen gesellschaftlichen Desintegration, die in Kontinentaleuropa durch zwei gewalttätige, ja mörderische und zerstörerische Integrationsideologien beantwortet wurde, nämlich durch den Faschismus und den Bolschewismus. Warum gab es nach 1945 in Westeuropa diese unglaubliche Anstrengung zur Durchsetzung des Marshallplanes, zum marktwirtschaftlichen Wiederaufbau der Volkswirtschaften und zur Durchsetzung funktionierender Demokratien und Sozialstaaten? Es war die Angst vor Stalin und die Systemkonkurrenz, und es war auch die Erinnerung an Hitler und an den Nationalsozialismus und Faschismus im Europa der dreissiger und vierziger Jahre, die diese Politik vorangetrieben und mehrheitsfähig gemacht hat. Und warum gibt es heute in der Europäischen Union bei 18 Millionen Arbeitslosen nicht die Gefahr eines neuen Faschismus, trotz Haider, trotz Le Pen und trotz der deutschen Neonazis? Weil eben dieser westeuropäische Sozialstaat die Krisen (noch!) auffängt, die Gesellschaften zusammenhält und die Spannungen im sozialen Konsens integriert. Darin besteht ganz aktuell die grossartige historische Leistung des westeuropäischen Sozialstaates, den man voreilig und blind für "altmodisch" und überholt erklärt, völlig verkennend, dass die gesellschaftliche Realität Europas eben um Jahrhunderte

"altmodischer" ist und auch auf unabsehbare Zeit bleiben wird als die der Neuen Welt.

Bereits diese kurze historische Reminiszenz macht die essentiellen Unterschiede zwischen dem angelsächsischen und dem rheinischen Kapitalismus deutlich: Ihre Geschichte und ihre Bedrohungslage waren und sind grundsätzlich verschieden. Weder Amerika noch die britischen Inseln kannten und kennen die Gefahr des Faschismus, d.h. eines völkisch radikalisierten, gewalttätigen Nationalismus, wohl aber wäre er auch heute in Europa sofort wieder virulent, wenn die Sozialstaatsintegration auf demokratischer Grundlage versagen würde.Im kontinentalen Teil des westlichen Europas gab es eben deshalb keine Nachahmung der Thatcher-Revolution, weil hier eine solche soziale Konfrontation unabsehbare Folgen hätte. Versuchte man zum Beispiel in Westeuropa auch nur die Hälfte dessen in Politik umzusetzen, was die republikanische Partei als das radikale Programm der wirtschafts liberalen Revolution in den USA verfolgt und selbst unter einer demokratischen Präsidentschaft auch weitgehend durchgesetzt hat, so hiesse dies nicht weniger, als den offenen Bürgerkrieg und das Ende der Demokratie in Kontinentaleuropa anzusteuern. Diese wirtschaftsliberale angelsächsische Revolution kann für Kontinentaleuropa deshalb kein Vorbild sein, weil hier, anders als in den USA, die europäische Geschichte mit jener spezifisch europäischen Form des modernen Fundamentalismus, dem Nationalismus bis hin zum Rassismus und Faschismus, sofort und auf fatalste Art und Weise politisch zur Wirkung käme. Die Sozialstaatsintegration, jene gegenwärtig so vielgeschmähten "rheinischen

Regenschirme", hat in den modernen europäischen Gesellschaften aus diesem wesentlichen Unterschied heraus eben eine erheblich wichtigere Funktion für den Bestand der demokratischen Stabilität in der Gesellschaft als in den USA. Deshalb ist eine Politik der bewusst herbeigeführten sozialen Desintegration durch eine radikale Neuverteilung des Reichtums zugunsten von Kapital und zu Lasten von Arbeit und zum Zweck der wirtschaftlichen Produktivitätssteigerung in Europa so überaus gefährlich. Freilich wird die notwendige Strukturanpassung an die Globalisierung auch Europa zu einem radikalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zwingen, nur dass dabei die europäischen Nationen auch im Zeitalter des Globalismus an einer wesentlich aktiveren Rolle des demokratischen Staates in Wirtschaft und Gesellschaft festhalten werden. Alles andere liefe auf ein nichtkalkulierbares politisches Risiko hinaus.

Europa wird um sehr tiefgreifende und weitgehende Anpassungsprozesse seines Systems an die globalisierte Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts nicht herumkommen, denn die Ursachen dieser Veränderungen, ihre ökonomischen und technologischen Antriebskräfte, gehen eben nicht allein auf die USA zurück , sondern entstanden aus der Entwicklung des westlichen Kapitalismus insgesamt. In einem bemerkenswerten Aufsatz über die Ursachen und Folgen der Globalisierung vertritt Philip G. Cerny die These, dass der demokratische Sozialstaat, wie er sich im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte - begonnen hat dieser Prozess der "Grossen Transformation" (Karl Polanyi) einer sich selbst regulierenden kapitalistischen Weltökonomie durch einen kapitalistischen Korporatismus in den dreissiger Jahren mit dem Aufstieg von Faschismus und Stalinismus und mit dem New Deal in den USA -, gebunden war an die auf Massenproduktion beruhende späte Phase der zweiten industriellen Revolution, die zuerst durch Stahl, dann die Chemie und schliesslich die Automobilindustrie geprägt war. Der Sozialstaat oder auch demokratische Interventionsstaat war demnach die politische Form einer auf Massenproduktion beruhenden korporatistischen Phase des Kapitalismus, der auf dem Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit gründete.

Die Produktion der "öffentlichen Güter" (public goods) durch den Staat wurde von allen Beteiligten als eine Angelegenheit der nationalen Politik und Volkswirtschaft angesehen, selbst dort, wir erwähnten es bereits, wo diese durch imperiale Expansion nach aussen erweitert wurden. Unter den öffentlichen Gütern versteht Cerny drei Gruppen: erstens funktionierende Rahmenbedingungen für den Markt, dazu gehöre die Sicherung privaten Eigentums, eine stabile Währung, die Beseitigung innerer Hemmnisse für Produktion und Handel, ein einheitliches Normensystem, ein funktionierendes Rechtssystem und die politische Sicherung stabiler Wirtschaftsverhältnisse. Zweitens staatlich geförderte Aktivitäten in Produktion und Verteilung von Gütern, dies seien staatliche Beteiligungen oder gar Staatseigentum an bestimmten Industrien, direkte oder indirekte Vorsorge für Infrastruktur und öffentliche Dienste, die direkte oder indirekte Einflussnahme auf den Bankensektor und unzählige öffentliche Subventionen. Drittens seien es umzuverteilende öffentliche Güter, diese beträfen vor allem den Ausgleich von Interessen, Chancen und Einkommen zwischen Arm und Reich, den unterschiedlichen ökonomischen Interessen und den politischen Parteien, das Gesundheitssystem und die sozialen Sicherungssysteme, Beschäftigungspolitik, Tarif- und Arbeitsrecht und Umweltschutz - "in der Tat der Hauptteil des nationalen Sozialstaates" , wie Cerny schreibt.

In einer Welt eines relativ offenen Handels, finanzieller Deregulierung und einer wachsenden Bedeutung der Informationstechnologie seien solche Rechte für den Staat wesentlich schwieriger durchzusetzen und zu erhalten. Das Kapital fliesse international, sogenannte "Offshore Financial Centers" und "Tax Havens" zögen global die Gewinne an, und mittels grenzüberschreitender Transferpreise und anderer Techniken könnten die Firmen ihre Gewinne vor nationalen Finanzbehörden verschleiern und nach aussen transferieren. Traditionelle Formen des Handelsprotektionismus würden leicht umgangen und seien kontraproduktiv, und Zinssätze und Währungskurse würden zunehmend auf internationalen Märkten "gemacht" . In einer solchen globalisierten Welt, so Cerny, hätten die Nationalstaaten zunehmend Schwierigkeiten, diese "öffentlichen Güter" noch zu liefern. Und genau das ist das Problem.

Gerade an der völlig veränderten Bewertung öffentlicher Unternehmen könne man das Ausmass dieser Veränderung unschwer erkennen: Deren sichtbarster Aspekt sei die Krise des öffentlichen Eigentums an strategischen Industrien und die Welle der Privatisierung, welche die achtziger und neunziger Jahre kennzeichnet. Einerseits würden diese Unternehmen wie Stahl, Chemie, Eisenbahn, Automobile, Flugzeugbau, Schiffsbau und

Energieversorgung nicht mehr als strategische Industrien angesehen, und andererseits würde das öffentliche Eigentum an Industrieunternehmen als ökonomisch ineffizient betrachtet, das nicht länger in der Lage sei, dessen frühere Vorteile für die nationale Planung, Beschäftigung und die soziale Gerechtigkeit - das sogenannte "lame-duck-Syndrom" - zu garantieren. Sei dieser Punkt erst einmal erreicht, so Cerny, so verändere der korporatistische Interventionsstaat seinen Charakter hin zum globalisierten "Wettbewerbsstaat" ("competition state"), der den internationalen Märkten, Unternehmen und Anlegern lediglich noch möglichst optimale Investitionsbedingungen anbieten könne.

Wenn die Analyse zutrifft, dass der korporatistische Interventionsstaat an eine bestimmte technologische und organisatorische Phase des Kapitalismus gebunden war, nämlich an die Aera der Massenproduktion und die damit einhergehende Arbeitsgesellschaft mit weitgehender Vollbeschäftigung und steigenden Löhnen, dann wird sich aber unter den Bedingungen der digitalen Revolution, der Globalisierung des Kapitalismus und der Auflösung der Arbeitsgesellschaft der korporatistische Interventionsstaat nicht dauerhaft aufrechterhalten lassen. Und deshalb wirft diese sehr zutreffende Analyse dann sofort die Frage nach der Zukunft der sozialen Gerechtigkeit in den westlichen Demokratien auf, denn diese ist in den vergangenen Jahrzehnten eng an den korporatistischen Interventionsstaat in seiner sozialstaatlichen Form gebunden gewesen. Lässt sich also im Kapitalismus die soziale Gerechtigkeit von Interventionsstaat und Arbeitsgesellschaft lösen und unter den Bedingungen der Globalisierung und des Wettbewerbsstaates, zwar in anderer Form, aber ähnlich wirksam für die nationalen Gesellschaften, neu organisieren? Oder wird die sozialstaatlich garantierte Gerechtigkeit und Sicherheit mit dem Interventionsstaat untergehen und damit der diesem zugrundeliegende Klassenkompromiss zwischen Arbeit und Kapital notwendigerweise in neue Klassenkämpfe umschlagen? Für Europa wäre dies eine beängstigende Perspektive.