3.3 Kommissarische als souveräne Diktatur
Wenn Schmitt in seiner berühmten Formel von Souveränität als Entscheidung über den Ausnahmezustand spricht (PT, 13) bedient er sich interessanterweise wieder offenbar naturrechtlicher Argumentationsmuster: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt“ (18f.) – er spricht auch davon, der Souverän habe „die Befugnis, das geltende Gesetz aufzuheben“ (16). Solche Stellen könnten für Verwirrung sorgen, weil eine Befugnis in der Regel eine rechtliche Erlaubnis ist. Wird diese Befugnis positivrechtlich verstanden, so widerspricht dies in der Tat einem Begriff überverfassungsgesetzlicher Souveränität, worauf Kraft-Fuchs aufmerksam gemacht hat: Spreche Schmitt in der Verfassungslehre davon, wer zur Suspendierung der Verfassungsgesetze „befugt und imstande ist, handelt souverän“ (VL, 107), so verweise „imstande“ zwar auf den banalen Sachverhalt, dass „faktische Durchbrechungen der Verfassung vorkommen können“.315 Wenn er aber zugleich betone, der Souverän sei „befugt“, so könne dies „nur heißen rechtlich befugt.“316 Daher
313 Der „naturhaft“ (LP, 20) gegebenen demokratischen Identität und Homogenität gegenüber habe das Parlament als Institution der Diskussion unabhängiger Repräsentanten „keine selbständige Existenzberechtigung“ (21). Warum aber die verfahrenstechnisch nicht gebundenen außerordentlichen ‚Repräsentanten‘ des Volkes diese haben, bleibt unerfindlich. Denn letztlich stehen sich ja in einem solchen Ernstfall nicht Volk und Parlament, sondern nicht formell Beauftragte und durch Wahlen formell Beauftragte gegenüber.
314 Vgl. Maus 1980, die das mit dem Terminus der „Gründungstheorie“ (19) versieht. Diese bezeichnet das „Bedürfnis nach entformalisierter, der positiven Gesetzgebung entzogener Anpassung des Rechts an die immanente Dynamik industrieller Entwicklung“ (22f.). Sie beinhaltet a) den Übergang rechtsetzender Funktionen an außerparlamentarische Instanzen, die in demokratisch nicht kontrollierter Weise ‚situationsgerechtes und sachangemessenes’ Recht setzen; b) Geltungsprinzip konkreter Rechtsetzung ist nicht formale Verfassungsgemäßheit, sondern nach ‚substantiellen Werten’ der jeweiligen rechtsetzenden Instanz eingeschätzte ‚Zweckmäßigkeit’ der Normen (13). Die Generalklausel ist das Ideal dieser Art der Rechtsetzung, das „Verwaltungsermessen“ (13) seine Praxis und faktische Rechtsquelle; c) Recht wird dabei nicht mehr im Stile des rationalen Naturrechts aus einem normativen Begriff der menschlichen Natur abgeleitet, der universalistisch ist, sondern mit ‚faktischen Erfordernissen’ identifiziert, was einen meist verschleierten subjektiven Bewertungsakt voraussetzt (12). Die Gründungstheorie unterscheidet sich dabei vom Rechtspositivismus auch darin, dass sie die These einer permanenten konstituierenden Gewalt vertritt (56, 58).
315 Kraft-Fuchs 1930, 537.
316 Ebd., 538.
sei die Behauptung irreführend, der Reichspräsident sei souverän, weil er gemäß Art. 48 WRV Verfassungsgesetze außer Kraft setzen könne: „Denn seine ‚Befugnis‘ erhält der Reichspräsident von der Verfassung. Folglich ist nicht er, sondern die Verfassung ‚souverän‘.“317 Für diesen Fall hat Schmitt allerdings den Begriff der kommissarischen Diktatur geprägt. Er begreift diese als ‚Aktionskommission‘, die eine „Gegenaktion“, bzw. „Notwehrhandlung“ zur Beseitigung rechts- und verfassungsfeindlicher Gruppen und Gefahren ausführt (D, 133). Sie setzt sich dabei zwar über herrschendes Recht in Gestalt einfacher Verfassungsgesetze hinweg und befolgt eine „im sachtechnischen Sinne richtig[e]“ (11) „Aktionsregel“ (133), die die angemessenen Maßnahmen zur Erreichung eines sachlich definierten Zieles ergreifen lässt, weil das Recht ein Hindernis bei der Erreichung des Ziels der Wegräumung des Feindes darstellt. Sie soll das Recht aber nur außer Kraft setzen, um die Normalität als Voraussetzung der Geltung eben dieses Rechts wiederherzustellen und sie wird vor allem von einem konstituierten Verfassungsorgan, wie einem Parlament oder Senat, oder von der Verfassung selbst autorisiert: Sie „suspendiert […] eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts“ (134). In diesem Ausnahmezustand werde die ‚konkrete‘ Verfassungsordnung also durch Suspendierung der legalen Ordnung gerettet: „Die Verfassung ist unantastbar, die Verfassungsgesetze dagegen können während des Ausnahmezustands suspendiert […] werden.“ (VL, 26)318 Das berühre „die Substanz der Verfassung nicht“ (27), stehe vielmehr
317 Ebd. Bei Schmitt ist Souveränität zwar eine „Befugnis“, aber zugleich die reale Fähigkeit, den Feind zu bestimmen und Tötungs-/Todesbereitschaft zu verlangen (BP, 46), sowie innerhalb des Staates „alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern“ zu können, „sich bis zur extremen Feindschaft […] zu dissoziieren.“ (SE, 160) Auch andere Theoretiker kommen nicht umhin, der Souveränität einen sowohl juridischen als auch empirischen Charakter zuzusprechen. So wird ja auch von Kelsen nur der wirksamen Zwangsordnung die Grundnorm unterstellt, d.h. die höchste, unteilbare und letzte Befugnis, Zwangsnormen zu setzen. Im Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik wird festgestellt, „daß das Problem der Souveränität mit dem Rechtsbegriff doch nicht voll erfasst ist, da es auf der Grenze zwischen Recht und Wirklichkeit steht.“ (Randelzhofer 2004, 157) Souveränität wird daher als höchste Normgebungs- und Durchsetzungskompetenz bestimmt: Demnach „erfordert die Wahrung der Souveränität, daß das gesetzte Recht grundsätzlich auch durchgesetzt wird.“ (160) „Wenn jedoch die Rechtsdurchsetzung generell nicht mehr gesichert ist, reicht die Gesetzgebung allein nicht mehr aus, die Staatsgewalt als souveräne, d.h. nach innen höchste, zu bewahren. Auch hier zeigt sich wieder die faktische Komponente der Souveränität.“ (160f.) Auch Rüdiger Voigt transzendiert den Begriff der Souveränität als Rechtsbegriff, wenn er von „abgestufte[r] Souveränität“ im internationalen Staatensystem spricht und den Besitz der Atombombe als Voraussetzung „einer vollständigen Souveränität“ betrachtet (Voigt 2010, 137). Abstufungen einer ‚höchsten‘ Macht, faktischer Waffenbesitz – all das sind keine juridischen Kategorien mehr.
318 Was ‚Suspendierung‘ bedeutet, muss offenbar anhand des Einzelfalls geklärt werden. Schmitt nennt als Beispiel den Art. 48, Abs. 2 WRV (vgl. VL, 111f.). Dieser lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft set
im Dienste derselben. Schmitt zufolge besteht die Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates aus zwei Bestandteilen, dem politischen und dem dieses Politische beschränkenden und kontrollierenden rechtsstaatlichen (200). „Insbesondere“ seien es daher „die typischen rechtsstaatlichen Normierungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheit, die einer zeitweiligen Suspension unterliegen.“ (109f.) Diese enthielten nur „Schranken der politischen Betätigung; sie müssen also bei einer Gefährdung der politischen Existenzform als Hindernisse der staatlichen Selbstverteidigung erscheinen.“ (110)319
Von der kommissarischen Diktatur zu unterscheiden sei die souveräne Diktatur, die tendenziell in seiner frühen Schrift Die Diktatur (1921) aber noch mit einer revolutionäre Akte ausführenden Gewalt identifiziert wird. Denn sie sei nicht durch die Verfassung oder ein konstituiertes Verfassungsorgan, sondern unmittelbar durch die verfassungsgebende Gewalt autorisiert (vgl. auch VL, 59) und definiere sich als abhängig von einer zu erfüllenden Aufgabe, die in diesem Fall in der Etablierung einer neuen Verfassungsordnung bestehe:
„Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will.“ (D, 134). Daher gelte: „Der kommissarische Diktator ist der unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitué, die souveräne Diktatur ist die unbedingte Aktionskommission eines pouvoir constituant.“ (143)
Beide Formen der Diktatur bestimmt Schmitt somit als Kommission, was gegenüber der oft wiederholten Bestimmung des Souveräns als demjenigen, der „über den Ausnahmezustand entscheidet“ (PT, 13), die ‚substanzliche‘ Legitimitätsdimension eines eben substanziellen Dezisionismus kennzeichnet. Es stellt sich hier die Frage, ob souveräne Diktatur Souveränität bedeutet. Schmitt verneint dies einerseits, um den legitimitätsspendenden Mythos der Volkssouveränität aufrecht zu erhalten: Die verfassungsgebende Versammlung bleibe, trotz ihrer totalen Unabhängigkeit von jeder „verfassungsgesetzlichen Normierung […], […] Diktatur, das ist Auftrag. Sie ist also nicht selbst der Souverän, sondern handelt immer im Namen und Auftrag des Volkes“ (VL, 60). Andererseits proklamiert er, dass das Volk verfassungsgebend nur durch seine ‚außerordentliche Repräsentanz‘ sein kann, diese somit „ohne irgendeine andere Begrenzung als diejenige, die sie sich selbst [!] auferlegt, alle nach Lage der Sache erforderlichen Maßnah-
zen.“ In Die Diktatur des Reichspräsidenten werden zwei dem Reichspräsidenten dadurch verliehene Befugnisse unterschieden: Satz 1 gebe ihm eine „unbeschränkte Befugnis“ (DRP, 229), sich mit den situativ erforderlichen Maßnahmen über Verfassungsbestimmungen hinwegzusetzen. Diese Hinwegsetzung impliziere aber keine Außerkraftsetzungsbefugnis, sondern lediglich die Befugnis, eine Ausnahme von der nach wie vor geltenden Norm zu machen, wobei diese Ausnahme nur für den Reichspräsidenten selbst, nicht für „jede nach der Sache in Betracht kommende Behörde“ gelte (224). Satz 2 hingegen gebe ihm die Befugnis, klar umrissene grundrechtliche Verfassungsbestandteile außer Kraft zu setzen, d.h. „ihre Geltung durch eine ausdrückliche Erklärung für sich und jede zuständigerweise handelnde Behörde auf[zu]heben“ (224).
319 Zum Widerspruch, der darin enthalten ist, diese Bestimmungen bezüglich der WRV zugleich als Verfassungssubstanz (VL, 24) und als zwecks Sicherung der Verfassungssubstanz zu suspendierende Verfassungsgesetze (110) zu bestimmen, vgl. Hofmann 2002, 119f.
men treffen“ (59), bzw. Normen geben kann, für sie „insofern also das Wort ‚souverän‘ gebraucht werden kann.“ (DRP, 236)
In der Politischen Theologie, der Diktatur des Reichspräsidenten und der Verfassungslehre scheint Schmitt aber auch die überpositiven Legitimitätsquellen für die Bewahrung der politischen Ordnung und ihrer Verfassungssubstanz hinter der positivrechtlichen Verfassungsordnung320 (den Verfassungsgesetzen) in Anspruch zu nehmen – er spricht vom „Selbsterhaltungsrecht[…]“ (PT, 19, ähnlich VL, 22) oder „Staatsnotrecht“ (DRP, 233). Wenn die souveräne Diktatur hier ‚revolutionär‘ ist, dann ausschließlich konterrevolutionär. Zudem verschleift Schmitt offenbar, folgt man Hermann Heller und Ingeborg Maus, selbst den Unterschied von kommissarischer und souveräner Diktatur: Bereits in seiner Schrift über die Diktatur des Reichspräsidenten (1924) stellt Schmitt nämlich fest, dass trotz des prinzipiell kommissarischen Charakters der Diktaturkompetenz gemäß Art. 48 WRV, diese aufgrund der fehlenden rechtsstaatlichen Konkretisierung in einem Ausführungsgesetz gemäß Art. 48 Abs. 5 und der „weit gelassen[en]“ Befugnisse des Reichspräsidenten aufgrund der „abnormen Lage des Deutschen Reiches […], […] in der Sache, nicht in ihrer rechtlichen Begründung, […] wie das Residuum einer souveränen Diktatur der Nationalversammlung“ wirke (DRP, 239). Dennoch lehnt Schmitt 1924 die Idee eines „doppelten verfassungsmäßigen Gesetzgeber“ (249) noch ab.321 In Legalität und Legitimität (1932) hingegen wird nun argumentiert, dass der Reichspräsident durch die gängige Rechtspraxis (LL, 73) tatsächlich zum „außerordentliche[n] Gesetzgeber“ mutiere, der dem Parlament nur scheinbar untergeordnet sei, faktisch aber eine „sehr große Überlegenheit“ aufweise: „er entscheidet nach seinem Ermessen über die Voraussetzungen seiner außerordentlichen Befugnisse (Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung) und über ihren Inhalt“ (67), d.h. er entscheidet über den Ausnahmezustand, und ist „Legislative und Exekutive […] in einer Person“ (68).322 Heller zufolge versucht Schmitt mit dieser These in Verbindung mit der Annahme aus der
320 Der Topos einer politischen oder staatlichen Ordnung hinter der Rechtsordnung stammt aus der klassischen Lehre von der Staatsräson, vgl. Münkler 1987, 167ff.
321 Auch wenn Schmitt in dieser Schrift eine Deutung der Eingriffsbefugnisse des Reichspräsidenten vorlegt, die diese weit über die in Absatz 2 des Art. 48 genannten sieben Grundrechtsartikel hinausgehen und auf den „organisatorischen Aufbau der Verfassung“ ausgedehnt sieht (DRP 216, vgl. auch 227), lehnt er hier eine Vermischung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur noch ab (237) und identifiziert drei wesentliche verfassungsrechtliche Schranken der Befugnis des Reichspräsidenten: a) die wiederherzustellende Normallage sei durch die Verfassung im Ganzen (später Verfassungssubstanz genannt) definiert; b) das organisatorische Minimum des Art. 48 bestehe in der Existenz von ordentlich zustande gekommener Regierung und Parlament; c) die Befugnis erstrecke sich nicht auf die Gesetzgebung, sondern nur auf situative Maßnahmen (241-249).
322 Bereits in DRP gesteht Schmitt zu, dass nicht nur das Fehlen des Ausführungsgesetzes gemäß Art. 48 Abs. 5, sondern auch die Kombination des Art. 48 mit Art. 25 (Auflösungsbefugnis gegenüber dem Reichstag) und Art. 53 (Ernennungsbefugnis gegenüber Reichskanzler und -regierung) den Einfluss des Reichspräsidenten „ins Ungemessene steigern“ können (244). Er kann damit die wenigen vorgesehenen rechtsstaatlichen Kontrollmöglichkeiten beständig torpedieren, zumal er sich bei der Feststellung des Ausnahmezustandes auf eine nur von ihm selbst zu interpretierende Generalklausel berufen kann (254f.).
Verfassungslehre, der rechtsnormativ ungebundene Souverän bleibe neben der Verfassung bestehen, den „Ausnahmezustand als den wahren und richtigen Normalzustand, die dauernde, nicht nur auf die Notzeit beschränkte, sondern autokratische Diktatur als die wahre Demokratie nachzuweisen.“323 Die Generalklausel des Verfassungsartikels 48, so scheint Maus daran anknüpfend zu argumentieren, löse in der Perspektive Schmitts den Reichspräsidenten auch von der Verfassung selbst ab. Ihr zufolge erhält damit
„[e]in durch die bestehende Verfassung legitimiertes Organ, ein pouvoir constitué, […] unbegrenzte Vollmacht, wie sie nur einem souveränen Diktator zu einer neuen Verfassunggebung zukommt, zu dem alleinigen Zweck, den bürgerlichen Kernbestand der bestehenden Verfassung zu restaurieren.“ 324
Das ist eine buchstäblich konterrevolutionäre und souveräne Diktatur. Damit, so Maus, gerate die Verfassung insgesamt zu dem, was Schmitt in Die Diktatur des Reichspräsidenten noch ausgeschlossen habe, nämlich zu einem „Provisorium und Precarium in der Hand des souveränen Diktators, der kraft seiner außerordentlichen Staatsgewalt neben den verfassungsmäßigen immer neue Organisationen improvisieren könnte“ (DRP, 237). Hasso Hofmann spezifiziert, dass
„n dem Augenblick […], in welchem für Schmitt die Weimarer Verfassung in ihre heterogenen Bestandteile auseinanderzufallen schien, […] für ihn auch kommissarische und souveräne Diktatur ununterscheidbar [wurden]; denn kommissarische Rettung und Wiederherstellung der Weimarer Ordnung war bei dieser Sachlage unausweichlich gleichbedeutend mit souveräner Neuschaffung aus einem der angeblich heterogenen Elemente“325
– nämlich dem superlegalen der drei außerordentlichen Gesetzgeber. Die zusätzliche Unklarheit von Schmitts Ausführungen bezüglich dessen, was jeweils im Falle des Eingreifens des Souveräns hinter der positivrechtlichen Verfassungsordnung bestehen bleibt – einmal der „Staat“ (PT, 18) oder eine Verfassungssubstanz, dann die vorstaatliche, formlose politische Einheit ‚Volk-als-Nation‘ (VL, 22) –, resultiert möglicherweise aus der Kombination der Idee, es gebe eine politische Einheit mit einem Selbsterhaltungsrecht, bevor diese sich eine ‚Art und Form‘ gebe (dann bezieht sich die Kontinuität bei der Außerkraftsetzung der Rechtsordnung auf den überverfassungsmäßig existierenden ‚Volkssouverän‘, der beständig im Naturzustand verbleibt und durch revolutionäre Totalentscheidung neue Formen aus sich gebären kann)326 mit der These, diese formlose Einheit gebe sich mit der Verfassung im positiven Sinne eine ‚Art und Form‘ ihrer politi-
323 Heller 1971c, 647. Walter Benjamin spricht 1940 hingegen vom „‘Ausnahmezustand‘“, der in der bisherigen Geschichte „die Regel ist“ (Benjamin 2009b, 84). In einem derart weiten Sinne hat Heller den Begriff nicht verwendet. Man könnte in diesem weiten Begriff des Ausnahmezustands einen Hinweis auf die Kontinuität der Gewaltgeschichte und der in Klassengesellschaften nicht endgültig zu hegenden oder zu rationalisierenden Gewalt sehen. Das würde zumindest mit Benjamins Kritik der Gewalt übereinstimmen.
324 Maus 1980, 129.
325 Hofmann 2002, 64.
326 Dies nennt Schmitt „Verfassungsbeseitigung“ (VL, 99).
schen Existenz (dann bezieht sich die Kontinuität auf eine Verfassungssubstanz, die gegen einfache Verfassungsgesetze bewahrt wird, aber keine Umwälzung der ‚Verfassung im positiven Sinne‘ bedeutet. Hier muss zudem nicht einmal der Souverän direkt eingreifen, sondern das können auch nicht zur Verfassungsgebung befugte Verfassungsorgane tun).327 Wie auch immer man ein solches „Metagrundrecht“ 328 auffasst, durch dieses Recht des Staates, nicht der Bürger, auf Selbsterhaltung, ist, wie Günter Frankenberg feststellt, die „Gültigkeit aller staatlichen Bindungen […] durch den Vorbehalt eingeschränkt, dass der Staat sich von ihnen lossagen kann, wenn er sich in seiner Existenz bedroht wähnt.“ Hier maßen sich „staatliche Instanzen […] überverfassungsgesetzliche Kompetenzen“ an.329 Die ohnehin nur relative Begrenzung, Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit staatlichen Handels geht so verloren, der Maßnahmenstaat erscheint am Horizont. „Hinter der treuherzigen Versicherung, dass der Staat ‚leben’ müsse“, so Kelsen, „verbirgt sich meist nur der rücksichtslose Wille, dass der Staat so leben müsse, wie es diejenigen für richtig halten, die sich zur Rechtfertigung eines ‚Staatsnotrechts’ bedienen.“330 Verfassung, so hat sich gezeigt, ist für Schmitt wesentlich identisch mit der permanent über der positivrechtlichen Verfassung existierenden verfassungsgebenden Gewalt, ihren substanziellen Entscheidungen und den diese Entscheidungen ‚feststellenden‘ Eliten. Gegenüber der Verfassung im positiven Sinne (Verfassungssubstanz/-einheit) haben die einfachen Verfassungsgesetze, gegenüber dem Volk über und neben der Verfassung hat das Volk in der Verfassung (z.B. das Wahlvolk als verfassungsgesetzlich geregelte Kompetenz bestimmter Akteure zur Auswahl des Regierungspersonals) nur einen untergeordneten Status.
3.4 Repräsentation und Identität
Eine wichtige Funktion in Schmitts Reklamation des Begriffes der Volkssouveränität hat sein Konzept der Repräsentation. Wie wir wissen, ist der Staat für Schmitt die in territorialer Geschlossenheit organisierte politische Einheit eines Vol-
327 „Verfassungsänderung“ (VL, 99) – bei Änderung einzelner Verfassungsgesetze – oder „Verfassungssuspension“ – bei „vorübergehender Außerkraftsetzung einzelner oder mehrerer“ Verfassungsgesetze (100) – kann eine Kompetenz z.B. des Parlaments oder einer exekutiven Instanz sein, die damit aber „nicht zum Träger oder Subjekt der verfassunggebenden Gewalt“ werden (103). Zumindest hinsichtlich des Parlaments ist diese Argumentation klar, denn Schmitt will ja verhindern, dass der Art. 76 WRV in dieser Weise verstanden wird. Hinsichtlich des Reichspräsidenten indes scheint Schmitt seine Meinung zu ändern, wie die obigen Thesen von Maus und Hofmann nahelegen oder er will schlichtweg, wie Heller argumentiert, die autokratische Gewalt des Reichspräsidenten verschleiern, indem er ihn nach wie vor bloß als ‚Repräsentanten‘ des souveränen Volks betrachtet.
328 Ich sehe an dieser Stelle, wie auch Schmitt, davon ab, dass Staat und politische Einheit keineswegs identische Ausdrücke sind.
329 Frankenberg 2010, 225. Vgl. heutige Schmittianer wie Otto Depenheuer, die für eine Opferung der rechtsstaatlich-demokratischen „Drapierungen“ (Depenheuer 2007, 7) der staatlichen Existenz auf dem Altar staatlicher Selbsterhaltung votieren. Auch der Bundesverfassungsrichter a.D. und Schmitt-Apologet Ernst-Wolfgang Böckenförde vertritt diese Position (vgl. Böckenförde 1991, 354), er spricht von der Verfassung als „Kleid“ des Staates (357).
330 Kelsen zit. nach Frankenberg 2010, 178.
kes. Das Volk als „Subjekt jeder Begriffsbestimmung des Staates“ könne aber die politische Einheit „auf zwei verschiedene Weisen […] erreichen und halten“ (VL, 205) – durch Identität und durch Repräsentation: Der Identität wie der Repräsentation liege nun zunächst Gleichartigkeit331 zugrunde. Sie wird verstanden als „substantielle Homogenität“ (234), diese wiederum als Grundprinzip von Demokratie schlechthin: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“ (LP, 14) Die Teilhabe an einer gemeinsamen Substanz (VL, 228), die in physischen Eigenschaften, religiösen Überzeugungen, staatsbürgerlichen Tugenden oder nationalen Kriterien bestehen könne (228-231), sei „Voraussetzung für alle anderen weiteren Gleichheiten“ (227). Damit sei z.B. „das allgemeine Wahlrecht […] nicht der Inhalt der demokratischen Gleichheit“ (227), sondern nur eine ihrer kontingenten Folgen. Die faktischen Demokratien beruhten, wie Schmitt korrekt den exkludierenden Charakter nationalstaatlicher Demokratien festhält, bislang stets auf dem Ausschluss des Heterogenen (LP, 15): „Bisher hat es noch keine Demokratie gegeben, die den Begriff des Fremden nicht gekannt und die Gleichheit aller Menschen verwirklicht hätte.“ (16) Homogenität ist für Schmitt also Grundbedingung von demokratischer politischer Einheit schlechthin: „Herrschaft oder Regierung darf in der Demokratie nicht auf einer Ungleichheit beruhen. […] die Regierenden […] müssen ihrer Substanz nach in der demokratischen Gleichheit und Homogenität verbleiben.“ (VL, 235)332 Es fällt allerdings auf, dass in Schmitts Katalog der gemeinsamen ‚Substanz‘ des Volkes genau das Kriterium, das Rousseau als eine wesentliche Bedingung legitimer Staatlichkeit und gelingender Bildung des allgemeinen Willens anführte,333 nicht (vgl. LP, 14) oder nur am Rande (vgl. VL, 233f.) auftaucht334: die sozioökonomische Gleichheit. Im Mittelpunkt stehen bei Schmitt hingegen mythologische Glaubens- und Einheitsvorstellungen religiöser, biologistischer (physische Gleichheit) oder nationaler Art.
Politische Einheit durch Identität bedeutet nun, dass das Volk „schon in seiner unmittelbaren Gegebenheit – kraft einer starken und bewußten Gleichartig-
331 Schmitts Verwendung der Begriffe Gleichartigkeit, Identität und Homogenität schillert. Ich vermute, dass er ‚substanzielle Homogenität‘ als Bedingung für ‚Identität‘ im Sinne kognitiv übereinstimmender politischer Ausrichtung versteht: „weil die substanzielle Gleichartigkeit des Volkes so groß ist, daß aus der gleichen Substanz heraus alle das gleiche wollen.“ (VL, 229)
332 „Die Gleichheit alles dessen, ‚was Menschantlitz trägt’, vermag weder einen Staat, noch eine Staatsform, noch eine Regierungsform zu begründen“ (VL, 226). Das wäre ein gutes Argument gegen Staat, Staatsform und Regierungsform. Damit, so Mouffe (2013, 56), weise Schmitt auf den untilgbaren Konflikt zwischen Demokratie (partikularer Demos als Bezugspunkt) und politischem Liberalismus (Menschheit als Bezugspunkt) hin. Diese Spannung war ja bereits unreflektiert allen kontraktualistischen Positionen zu eigen, die mit dem Menschen beginnen und ohne weitere Begründung beim nationalstaatlichen Volk enden. Warum aber keine Überwindung der partikularen Logik möglich sein kann, darüber schweigen sich Schmitt und Mouffe gleichermaßen aus, bzw. sie versuchen in unterschiedlicher Weise mittels einer Konfliktontologie solch konkrete Fragen als irrsinnig abzukanzeln.
333 Vgl. Rousseau 1981, 294, 311; Rousseau 2005, 90-93,113.
334 Vgl. Kaufmann 1988, 188, 190f. und Heller 1971a, 427, 430f.; 1971b, 621.
keit […] – politisch aktionsfähig sein“ könne. Dann sei es „in seiner unmittelbaren Identität mit sich selbst eine politische Einheit.“ (205) Hier rekurriert Schmitt wieder auf vermeintlich konkrete und existenzielle Bestimmungen: Es gebe keinen Staat ohne Volk, das „als vorhandene Größe immer wirklich anwesend sein muß“ (205), denn es gebe „keine Repräsentation ohne Öffentlichkeit“ und „keine Öffentlichkeit ohne Volk“ (208). Das Identitätsprinzip liegt demnach allen Vorstellungen von Volkssouveränität zugrunde und hat seine extremste Variante in der Aussage populus est rex (205). Das Identitätsmaximum wäre Schmitt zufolge dann erreicht, wenn „alles übereinstimmt“. Dann „muß ohne Diskussion und ohne Interessengegensätze die Entscheidung sich von selbst ergeben, weil alle dasselbe wollen.“ (215) Die Gefahr des Identitätsprinzips liege in der bloßen Fingierung der „substantielle[n] Gleichartigkeit“ des Volkes sowie in dem Vorhandensein eines Minimums an Regierung ohne wirkliche Identität. Dann sinke das Volk „in den unterpolitischen Zustand zurück[…]“ und werde einem „fremden, politisch aktiven Volke dien[en]“ (215). Gemäß dem Politsozialdarwinismus Schmitts wäre ein Volk ohne Staat nicht gleich Herrschaftslosigkeit, sondern gleich Beherrschtwerden von anderen politischen Einheiten.335
Es gebe aber „keinen Staat ohne Repräsentation“ (206) und zwar aus drei Gründen:
1) Selbst, wenn das ganze versammelte Volk abstimme und handle, handle es nur im Augenblick dieser Versammlung und schließe immer bestimmte Personengruppen aus, z.B. als minderjährig oder anderweitig als unmündig Definierte (206). Zumindest diese würden also von den Handelnden repräsentiert.
2) Doch „[a]uch alle aktiven Staatsbürger336 zusammengenommen, sind nicht als Summe die politische Einheit des Volkes, sondern repräsentieren die politische Einheit“ (206). Schmitt macht das am Beispiel des parlamentarischen Repräsentationsprinzips der WRV deutlich: Auch wenn es „in der praktischen Realität längst unwahr geworden“ sei (206), gelte für die Abgeordneten im Parlament, dass sie die Vertreter des ganzen Volkes seien337 und zwar sei jeder Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes. Das müsse dann aber auch „für jeden einzelnen Wähler gelten“ (207). Jeder einzelne repräsentiere so das Allgemeine – das Volk als politische Einheit, nicht als Summe aller einzelnen, nicht als Menge, verstanden. Die Differenz zwischen volonté générale und volonté de tous sei also immer gegeben, sonst ‚repräsentierte’ der einzelne nur sich selbst, sein ungefiltertes Privatinteresse, ohne dass es zur Einheit kommen könnte. Auch das Höchstmaß demokratischer Identität in Gestalt eines „Real-Plebiszit“ (207) beinhalte Repräsentation, weil auch hier jeder Abstimmende die politische Einheit reprä-
335 „Dadurch, dass ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk“ (BP, 54).
336 Schmitt argumentiert hier auf der Ebene einer bereits rechtlich konstituierten Einheit. Im Falle des Volkes über der Verfassung bleibt es rätselhaft, wie bestimmt werden kann, wer dazugehört und wer nicht.
337 Schmitt bezieht sich auf WRV Art. 21 „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.“ Vgl. auch GG Art. 38 Abs. 1.
sentieren solle, bzw. „fingiert werden muß“ (207), dass er als citoyen, nicht als bourgeois auftrete.
3) Schließlich sei die politische Einheit „nicht von Natur vorhanden“ (207), komme nicht ohne Entscheidung zur Einheit aus. Wenn politische Einheit durch Repräsentation bedeutet, dass diese Einheit konstituiert wird, indem der Wille eines Menschen oder einer Gruppe als Wille des Volkes gilt (205),338 dann besteht nach Schmitt das Repräsentationsmaximum in der Herstellung politischer Einheit durch die Willenshomogenität allein der Repräsentanten. Die Gefahr bestehe hier in der Ignorierung des Volkes, einem „Staat ohne Volk“ (215). So kommt Schmitt zu dem Resultat: „Die Gleichzeitigkeit von Herrschen und Beherrschtwerden, von Regieren und Regiertwerden, bedeutet eine Verbindung der beiden Prinzipien: Repräsentation und Identität, ohne welche ein Staat unmöglich ist.“ (216) Keine reale politische Einheit könne ausschließlich auf Identität oder auf Repräsentation beruhen. Jede Einheit stelle eine Mischung mit Überwiegen eines „Strukturelements“ dar. (206)
Der Begriff der Repräsentation müsse von „privatrechtliche[n] und ökonomisch- technische[n] Vorstellungen“ wie „Auftrag, Vertretung, Geschäftsführung, Kommission, Treuhänderschaft usw. befreit werden“ (208).339 Damit entfällt auch ein sich an nachprüfbaren, rationalen Kriterien orientierendes, vorbehaltliches „Vertrauen“ (235) der Repräsentierten in die Repräsentanten.340 „Der Repräsentant“, schreibt Schmitt, „ist unabhängig, daher weder Funktionär, noch Agent, noch Kommissar.“ (212) Hier scheint Repräsentation auf absorptiv-identitäre Repräsentation reduziert zu werden („daß man überall dort von einer Repräsentation sprach, wo ein einzelner oder eine Körperschaft für die Nation als Ganzes will“ (213)).
Der Repräsentationsgedanke ist dabei eng mit der Legitimitätsproblematik verbunden: Wird in der Politischen Theologie der Dezisionismus noch abstrakt der Legitimität gegenübergestellt („Das aber ist wesentlich Diktatur, nicht Legitimität“ (PT, 69)), so arbeitet Schmitt ab 1923 daran, die Schaffung politischrechtlicher Ordnung ausgehend von einem exekutivisch-einheitlichen Staatswillen mit dem Gedanken demokratischer Legitimität zu versöhnen.341 Schmitt verschweigt keineswegs den performativen Charakter dieses Prozesses: „Insbesonde-
338 Vgl. auch RK 45, „wird die complexio des widerspruchsvollen Lebens zur Einheit der persönlichen Repräsentation gestaltet.“
339 Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie repräsentiert Schmitt zufolge nicht (mehr) die politische Einheit, weil sie „mit privatrechtliche[n] und ökonomischtechnische[ n] Vorstellungen“ wie „Auftrag, Vertretung, Geschäftsführung, Kommission, Treuhänderschaft usw.“ die „Besonderheit“ des Begriffs der Repräsentation zerstöre (VL, 208). Repräsentation im Parlamentarismus regrediere zur Vertretung abwesender Interessenten aus pragmatischen Gründen, „weil unmöglich alle Wähler immer und zu gleicher Zeit an einem Ort zusammenkommen können“ (213). Zur Konfundierung verschiedener Repräsentationsbegriffe bei Schmitt vgl. Kaufmann 1988, 173f.
340 Andreas Hetzel will dieses „Konzept unbedingten Vertrauens“ gar als „Affekt der radikalen Demokratie“ etablieren (Hetzel 2010, 235, 246).
341 Es ist dabei unbeachtlich, dass Schmitt den Legitimitätsbegriff explizit aus dem Repräsentationsbegriff ausscheiden will (VL, 212).
re kann die politische Macht den Willen des Volkes, aus dem sie hervorgehen soll, selber erst bilden.“ (LP, 38) Die Idee des Volkes als politischer Einheit wird vom wirklichen Souverän repräsentiert und dadurch Realität. Das Volk als Bevölkerung ist dabei passiv, im besten Fall akklamierend tätig. Seine Einheit wird durch Repräsentation von oben geschaffen, so wie diese erst durch die Repräsentation der völkischen Homogenität ihre Legitimation erhält:
„Indem Schmitt das Volk in die Bestimmung des Staates einbezieht, legitimiert er die Herrschaft der Wenigen über die Vielen durch das, was dieser hätte gefährlich werden können. Als Vielheit ist das Volk eine Gefahr. Als Einheit und Idee ist es Grund und Rechtfertigung der Staatssouveränität.“342
Schmitt schaltet mit seinem Demokratiebegriff von der traditionellen monarchisch geprägten Staatswillenseinheitstheorie also auf eine völkische um.343 Der Grundgedanke dieser Repräsentationstheorie findet sich bereits in Römischer Katholizismus und politische Form, ja im Wert des Staates, und bezeugt die Kontinuität des substanziellen Dezisionismus in Schmitts Werk: Ein konkretes Individuum erhält „Würde“ (RK, 36; WS, 92) durch seine Repräsentation einer transzendenten „Idee“ (RK, 36, WS, 97) – hier: des ‚Volkes als politische Einheit’ der „Nation“ (RK, 35) –, die gegenüber der Bevölkerung, der „kompakten Masse der ‚leib’haftigen Realität“ (37), absolut selbständig ist und „wenigstens der Idee nach“ (d.h. als Fiktion?) „eine complexio oppositorum, nämlich der Vielheit von Interessen und Parteien zu einer Einheit“ (36) bedeutet. Dabei wird die Kraft zur ordnungsschaffenden „großen Form“ – Schmitt nennt die „ästhetische[…] Form“, die „Rechtsform“ und die „Machtform“ (30) – gegen die angstbesetzte liberale oder „proletarische[…] Formlosigkeit“,344 gegen die Masse der am Nutzen orientierten Leiber ins Feld geführt, „welche […] keine Regierung brauchen“ (bzw. zu brauchen vermeinen). Während die formschaffende Kraft eine „Autorität von oben“ geltend macht – von oben, weil von der Idee des Volkes abgeleitet (41), die gegenüber der Bevölkerung „präexistent“ (37) ist, – begnügen sich die Massenleiber mit rein diesseitsimmanenten Konstruktionen wie dem imperativen Mandat, mit dem sie gegen die ‚Idee an sich‘ kämpfen (36f.).
Repräsentation müsse sich dabei in der Öffentlichkeit abspielen (VL, 208) und bedeute, „ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar [zu] machen und [zu] vergegenwärtigen“ (209). Was hier repräsentiert wird, ist aber, wie nun bekannt, „nicht das Volk in seinem natürlichen Vorhandensein“
342 Machunsky 2008, 29; vgl. auch Salzborn 2015, 65f., 72, der konstatiert, „dass der durch den Diktator bestimmte ontologische ‚Wille des Volkes‘ sich den empirischen Willen des Volkes bedingungslos unterwirft.“ (72)
343 Geoff Eley zeigt, dass hierin ein Spezifikum des radikalen Nationalismus als Element faschistischer Legitimation von Herrschaft liegt, vgl. Eley 1996, 215, 230f.
344 Die Furcht vor der Gestalt- oder Formlosigkeit (RK, 37, 44, LP, 17) ist ein durchgehendes Motiv bei Schmitt. Dieser Formlosigkeit, die im Gegensatz zum ‚Volk‘ nicht formschaffend sein soll, sondern in Gestalt der menschlichen Triebe, vor allem ‚unproblematischer Leiblichkeit‘ und Sexualität, auftritt (Lev, 58), gilt Schmitts Feindschaft, worin Nicolaus Sombart (1990, 649), mit Hang zur psychoanalytischen Simplifizierung, sogar den Schlüssel zum Verständnis des Gesamtwerks betrachtet.
(212) (die Bevölkerung), auch nicht die Summe der Privatwillen, sondern dessen politische Einheit. Diese ist Schmitt zufolge aber eine gegenüber den ökonomischen, ethischen oder sonstigen Formen des Zusammenlebens einer Gruppe „höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein“ (210). Politische Einheit „ist mit Vorstellungen von Gerechtigkeit, sozialer Nützlichkeit und anderen Normativitäten nicht zu fassen“ (212), sie ist „in ihrem Wesen etwas Existenzielles“ (211) – ihre Repräsentation demnach nicht kontraktualistisch konzipierbar. Denn während im Kontraktualismus von Hobbes der Souverän die Kooperationsvernunft der isolierten Warenbesitzer darstellt, er die reflektierten Privatwillen und ihren Nutzen durch generelle Normen sichern soll und in der Rechtsphilosophie von Kant der Souverän das Rechtsgesetz positiviert, ist Schmitt zufolge nur eine „gesteigerte Art Sein“ der Repräsentation, „einer Heraushebung in das öffentliche Sein“ wert und fähig (210). Hier wird wieder (wie schon im Wert des Staates) die Bestimmung eines Öffentlichen, das individuelle Interesse Übersteigenden, eines allgemeinen Willens, der im bürgerlichen Denken von Hobbes bis Kant eben noch mit den Inhalten von allgemeinem (=konvergentem) Nutzen oder moralisch- rechtlicher Allgemeinheit (Gerechtigkeit) gefüllt war, entleert. Übrig bleibt eine irrationale „höhere […] intensivere Art Sein“, die mit der politischen Eigenschaft der Einheit verbunden wird, also mit der Möglichkeit des Tötens und Getötetwerdens – nicht umsonst taucht hier der Begriff der Intensität wieder auf.
Das von Schmitt beschworene ‚Seinshafte‘, die ‚Quelle‘ des Rechts ist letztlich trotz aller konkretistischen Phraseologie bloß konstruiert: Als vorverfassungsmäßiges Subjekt ist das Volk kein Rechtsbegriff, daher ist auch seine ‚vorverfassungsmäßige‘ ‚Souveränität‘ kein Rechtsbegriff.345 Es ist aber auch keine soziologische Einheit,346 sondern eine schlichte Fiktion, auf die sich verfassungsgebende Gruppen und ihre Ideologen zwecks Legitimitätsbeschaffung nachträglich berufen. So stellt Alex Demirovic resümierend fest:
„Den Verfassungen oder demokratietheoretischen Unterstellungen zufolge gibt sich das Volk eine Verfassung und bestimmt die Ausübung staatlicher Gewaltausübung [sic!]. Doch wer gehört zum Volk zu dem Zeitpunkt, da es
345 Dies kann gegen heutige Verfassungstheoretiker wie Christian Hillgruber geltend gemacht werden, der festhält, der „völkerrechtliche Legitimations- und Ableitungszusammenhang“ gehe „von den Staaten“ aus, sei „letztlich jedoch auf die hinter den Staaten stehenden, sie konstituierenden Völker“ gegründet (Hillgruber 2002, 1076). Diesen spricht er eine „vorverfassungsrechtliche Volkssouveränität“ als Kompetenz zur „Ausübung verfassunggebender Gewalt“ (1074) zu. Wenn nun Souveränität aber, wie Hillgruber eigens betont, „Rechtsbegriff“ (1073) sein soll, der eine „Rechtsmacht“ (1073) anzeigt, dann muss wohl ein vorpositives Recht auf Verfassungsgebung sowie ein vorkonstitutionelles Volk als naturrechtliche Entität gemeint sein, die freilich im „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ (1077) nachträglich positiviert worden ist. Nachträglich, denn der Grund für die vorverfassungsrechtliche Souveränität, die zu souveränen Staaten führt, aus denen wiederum der völkerrechtliche Zusammenhang abgeleitet werden kann, kann nicht eine positive völkerrechtliche Bestimmung sein. Über die Begründbarkeit vorpositiver Rechte und ihren Charakter als Rechte schweigt sich Hillgruber allerdings aus. Auch hier steht offenbar ein Legitimationsbedürfnis im Vordergrund, werden doch Völker „als die eigentlichen Legitimationssubjekte“ (1076) bezeichnet.
346 Darauf macht Kelsen aufmerksam (vgl. Kelsen 1962, 111f., 180, 197).
sich die Verfassung erst noch geben wird? Als politisch verfasstes Volk existiert das Volk erst, nachdem es sich bereits die Verfassung gegeben hat, erst ab diesem Moment kann es definieren, wer dazu gehört und wer nicht. Es konstituiert sich also durch den Akt der Verfassungsgebung, der es als solches aber bereits voraussetzt. ‚Volk‘ ist ein irrationeller Ausdruck. Er kann nicht begründet werden. Das Volk gibt es vor der Verfassung nicht.“347
Welcher Zweck hinter dem „irrationellen Ausdruck“ steht, spricht ganz offen und affirmativ Oliver Lepsius aus: „Die Volkssouveränität als Geltungsgrund der Verfassung […] legitimiert die Verfassung. […] Die Vorrechtlichkeit der Volkssouveränität ist gerade die Voraussetzung für ihre Legitimationsfähigkeit.“348 Auch hier begegnet uns, allerdings ohne jeden vernunftrechtlichen Gehalt, das Kantsche ‚als ob‘ wieder und – wenn auch dezent verpackt – sein Verbot, über den wirklichen Anfang der Verfassung zu ‚vernünfteln‘. Eine Einheit (und ein Rechtsbegriff) ist das Volk (und die Volkssouveränität) jedenfalls erst als Staatsorgan. Aber selbst dann ist der Gedanke, dass der Wille des Volkes in den jeweiligen legislativen Gremien ‚anwesend‘ sei, zumindest bei freiem Mandat eine pure Fiktion, was Hans Kelsen in aller Radikalität herausgearbeitet hat: Er erblickt in der Idee der Repräsentation einen Versuch der Verschleierung der erheblichen Einschränkungen demokratischer Freiheit im Parlamentarismus.349 Es werde der falsche Eindruck erweckt, als seien die Parlamentarier nur „Stellvertreter“ des Volkes, obwohl in allen parlamentarischen Demokratien „die Abgeordneten von ihren Wählern keine bindenden Instruktionen anzunehmen haben“,350 also das sogenannte freie Mandat herrscht. Kelsen spricht gar von einer „Unabhängigkeitserklärung des Parlamentes gegenüber dem Volke“.351 Die Repräsentationsfiktion soll „den Parlamentarismus vom Standpunkte der Volkssouveränität legitimieren“, soll „glauben mach[en], daß die große Masse des Volkes sich in dem gewählten Parlamente politisch selbst bestimme“.352 Wie begründet Kelsen seine
347 Demirovic 2008, 59. Der Wille des Volkes wird in Theorien wie der Schmitts als im „Gründungsakt […] immer schon enthalten“ gedacht, während er von der Gegenposition als bloße Resultante und Resultat, „Durchschnitt“ empirischer Willen und Entscheidungen verstanden wird (59). Bei diesem Ansatz wird aber wiederum die spezifische rechtliche Allgemeinheit der kapitalistischen Gemeinwesen verfehlt. Vgl. dazu Blanke 1976, 208, der zu Recht auf die Differenz zwischen der Ebene der „generelle[n] Konsensbildung“ und derjenigen des kompromisshaften Interessenausgleichs hinweist.
348 Lepsius 2008, 20. Erstaunlich ist allerdings, dass sich der Kelsen-Schüler offenbar – aus legitimationstheoretischen Bedürfnissen heraus? – auf die rechtstheoretische Rabulistik Schmitts einlässt und ohne Not konstatiert: „Wenn die Volkssouveränität der Geltungsgrund der Verfassung ist, darf das Verfassungsrecht den Volksbegriff der Volkssouveränität nicht determinieren, denn sonst geriete man in einen Zirkelschluß und nicht das Volk wäre souverän, sondern die Rechtsordnung.“ (20) Ohne Not, weil der erste Satzteil ja gerade nicht angenommen werden muss und als reine Fiktion entlarvt werden kann.
349 Um wieviel mehr ist dann die Idee einer verfahrensmäßig nicht geregelten ‚Repräsentation‘ eines ‚formlosen und ‚sich‘ formgebenden Volkes‘ eine verschleiernde Fiktion!
350 Kelsen 2006b, 176.
351 Ebd., 177.
352 Ebd.
Kritik, die schließlich sogar zur Verabschiedung der Volkssouveränitätsidee führen wird?
Er unterscheidet zunächst zwei Bedeutungen von Organschaft: Die „Rechtswesensbeziehung“ der Repräsentation des Staates durch ein Organ, bzw. der Zurechnung des Willens des Organs zum Staatswillen, also zur „Einheit der Rechtsordnung“ 353 (‚Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil‘). Im Gegensatz zu Schmitt geht Kelsen davon aus, „daß der Staat einen Willen nur durch seine Organe (als seine Repräsentanten) äußern kann“, denn „der ‚Wille‘ des Staates ist ja nur der Wille des Organs“.354 Während es im Verhältnis Staat-Organ „neben dem Willensakt des Organs keinen Tatbestand gibt, der als Wille des Staates gedeutet werden könnte“,355 sei dies im Verhältnis zweier Staatsorgane zueinander anders: Hier gelte „der Wille des einen Organs als derjenige eines anderen Organs“, was Kelsen zufolge offenbar keine dem Recht wesentliche Bestimmung ist, sondern eine inhaltliche Ausgestaltung bestimmter Rechtsordnungen – ein „rechtsinhaltliches Verhältnis“.356 „Organschaft im Rechtswesenssinne“ sei keine Stellvertretung, weil hier schlicht kein Wille existiere, der vertreten werden könne. Der Staat sei nichts anderes als die Einheit der Rechtsordnung, kein Mensch, der nur durch seine Organe hindurch wollen kann, „wie Kinder und Geisteskranke“.357 Stellvertretung hingegen sei eine rechtsinhaltliche Beziehung zwischen Tatbestände setzenden Menschen, die nicht auf zivilrechtliche Relationen zu beschränken ist. Im Falle des Verhältnisses des Wahlvolkes zum Parlament gelte nun in der alltäglichen Vorstellung das Parlament als „Organ eines Organs, des repräsentierten Volkes“.358 Diese Deutung lehnt Kelsen aber ab. Die positivrechtliche Institution der Stellvertretung, die bereits im Zivilrecht existiert, wird von ihm als Modell genommen. Hier gelte der Wille von B als derjenige von A. Die „Grund- und Hauptregel“ sei allerdings: Ein von A gesetzter Tatbestand x hat die Rechtsfolge y für A.359 Die Stellvertretung sei so lediglich eine Ausnahme von dieser Regel, die eine „Fiktion enthält“. Denn positivrechtlich gelte der Wille von B als Wille von B und nicht als der Wille von A. Nur der Wille von B habe eine Rechtswirkung, nämlich die Rechtsfolge y. Die Stellvertretung arbeite nun unter Ausnahmebedingungen mit der „sprachliche[n] Fiktion“, dass hier der Wille von A tätig geworden sei („als ob“):
„Wenn A den Tatbestand x setzt, soll die Folge y eintreten, wobei der Tatbestand y sich seinem Inhalt nach gegen A richtet. Nun gibt es aber Aus-
353 Kelsen 2006a, 37.
354 Ebd., 36. Dagegen hat Schmitt bereits 1921 (am Beispiel Georg Jellineks) polemisiert (von dieser Theorie „müßte man sagen, daß sie den Staat, weil er für sie nur in der Organtätigkeit vorhanden ist, als den Träger einer Einheit ansieht, aber einen Träger, der nichts tragen kann, sondern von den Organen getragen wird, die er trägt.“ (D, 138)) und die bekannte Idee des Volkes über der Verfassung als „das unorganisierbar Organisierende“ (D, 139) stark gemacht.
355 Kelsen 2006a, 36.
356 Ebd., 37.
357 Ebd., 40.
358 Ebd., 37.
359 Vgl. ebd., 38.
nahmen von dieser Regel. Es gibt Fälle, in denen die Willensäußerung eines anderen dieselbe Rechtsfolge hat wie die eigene.“ Dies stelle die „Ausnahme von der allgemeinen Regel [dar], daß man nur durch ein selbstgesetztes […] Rechtsgeschäft berechtigt bzw. verpflichtet wird.“360
Die Vormundschaft als gesetzlich zwingend vorgeschriebene Stellvertretung sei die radikalste Form der zivilrechtlichen Stellvertretung – hier hat der Wille von A keinerlei Rechtswirkung für A, nur der Wille von B hat Rechtswirkung für A. Dagegen werde im Stellvertretungsverhältnis durch Vertrag eine bedingte Bevollmächtigung des B durch A geregelt. Es werden hier „die Rechtsakte bestimmt, zu deren Setzung der B bevollmächtigt ist. […] B kann rechtlich nur wollen, was A will“,361 d.h. B ist rechtlich an den tatsächlichen Willen von A gebunden. „In diesem Falle kann keine Rede davon sein, daß der Vertretene ‚keinen Willen‘ habe oder seinen Willen nur durch den Vertreter äußern könne.“ Denn das Vertretungsverhältnis werde durch den Willen von A erst begründet und A muss B „Instruktionen geben, […] welche Akte er von ihm gesetzt haben will“. In diesem Falle habe B das „Mandat“ des A.362 Es stellt sich nun die Frage, wann die zivilrechtliche und die öffentlich-rechtliche Stellvertretung real sind und wann sie eine Fiktion darstellen. Die positivrechtliche Stellvertretung des Volkes durch das Parlament (im Gegensatz zur „in Widerspruch zur Rechtswirklichkeit“ stehenden Fiktion363) wäre für Kelsen in genauer Analogie zum zivilrechtlichen Institut der Stellvertretung dann gegeben, wenn „eine positive Rechtsregel bestünde, die im allgemeinen den Beschlüssen des ‚Volkes‘ die Wirkung von Gesetzen gibt; ausnahmsweise aber das Parlament Beschlüsse fassen könnte, als ob sie vom Volk selbst gesetzt worden wären.“ Dies sei in „manchen Verfassungen unmittelbarer Demokratien der Fall“.364 Ein anderer, bei positivrechtlich garantierter, exklusiv parlamentarischer Gesetzgebung möglicher Fall, sei das imperative Mandat, die rechtliche Bindung des Willens der Volksvertreter (hier im wörtlichen Sinne) an die „Instruktionen ihrer Wähler“.365 Bei Zuwiderhandlung könne das Recht auf Abberufung der Abgeordneten ausgeübt werden.
In sogenannten „‘repräsentativen‘ Demokratien“ sei beides aber nicht der Fall. Hier sei „das Volk von der Gesetzgebung grundsätzlich ausgeschlossen“ und diese exklusive Befugnis des Parlaments. Es wird nun dennoch vom Parlament als Stellvertreter des Volkes gesprochen, was Kelsen zufolge aber „keine positivrechtliche Regel, wohl aber ein politisches Dogma“ ausdrückt – „das Dogma der Volkssouveränität“, 366 wonach allein dem Volk Gesetzgebungskompetenzen zukämen, die nur ausnahmsweise und diese Regel einschränkend vom Parlament wahrge-
360 Ebd., 38.
361 Ebd., 39.
362 Ebd.
363 Ebd., 41. Einmal verwendet Kelsen ‚Fiktion‘ im Sinne einer falschen Kennzeichnung eines positivrechtlichen Sachverhalts (41), dann als eine innerhalb des positiven Rechts verwendete Vorgehensweise der Zurechnung des Willens von B zu A (38). Letztere Fiktion scheint er nicht als illegitim abzulehnen, erstere dafür sehr wohl.
364 Ebd., 41.
365 Ebd., 42.
366 Ebd., 41f.
nommen werden könne.367 Dieses Dogma sei eine „echte Fiktion“, weil sie im Widerspruch „zur Rechtswirklichkeit“ stehe.368 In der ‚repräsentativen‘ Demokratie sei auch jegliche Bindung des Abgeordnetenwillens an den Willen seiner Wähler rechtlich ausgeschlossen. Die Abgeordneten sind nur der Verfassung und ihrem Gewissen verpflichtet. Die rein fiktive Idee der Repräsentation werde hier mit der „contradictio in adjecto“ des Begriffes „freies Mandat“ aufrechterhalten. Die Ablösung der Abgeordneten von den Volkswillen werde durch die falsche Behauptung „gedeckt: jeder Abgeordnete repräsentiert das ganze Volk. Daraus schließt man aber: er hat keine Instruktionen von einzelnen Wählergruppen zu empfangen. Das ganze Volk aber ist stumm.“369 Die ideologische Funktion der Repräsentations- und Volkssouveränitätsidee beschreibt Kelsen wie folgt: „Indem sie die positive Rechtslage verschleiert, will sie diejenigen, die durch die Verfassung von der Gesetzgebung ausgeschlossen sind, glauben machen, daß sie, wenn auch nur vom Parlament repräsentiert, doch den Willen des Staates bestimmen.“ 370 Indem sie denjenigen, die positivrechtlich von der Gesetzgebung ausgeschlossen sind, glauben macht, es werde dennoch ihr Wille nur repräsentiert und sei damit ausschlaggebend für die Gesetzgebung, „läßt sie eine demokratische Entwicklung zu wirklicher Volksgesetzgebung als überflüssig erscheinen.“371
Auch die Tatsache, dass das Volk die Berechtigung hat, die Parlamentsvertreter turnusmäßig zu wählen, sei kein Gegenargument. Hier liege schlicht „eine Vermengung des Berufungs- mit dem Subordinationsverhältnis vor“. Aus dem Recht zur Berufung eines Gesetzgebers folge nicht das Recht zur Unterordnung seines Willens unter den des Berufenden. „Das Volk – richtiger: die zur Setzung eines selbständigen Wahlaktes organisierten Wahlkörper – sind lediglich Kreationsorgane.“ 372 Das „Repräsentationsverhältnis“ als „Rechtsverhältnis“ ist somit eine „nackte Fiktion“. Dass faktische Abhängigkeiten zwischen den Abgeordneten und der Gruppe, „die für die Wahl und daher auch für eine eventuelle Wiederwahl von Entscheidung ist“373 bestehen, leugnet Kelsen nicht. Nur seien dies erstens keine rechtlichen Verpflichtungen der Abgeordneten und zweitens bewirkten diese Abhängigkeiten und die eventuell damit verbundene informelle und indirekte Weisungsmacht dieser Gruppen keineswegs eine Repräsentation des ganzen Volkes, sondern lediglich bestimmter Interessengruppen. Das Volk habe in ‚repräsentativen‘ Demokratien keine andere rechtliche Funktion als die Wahl des Parlaments. Dieses sei dann aber kein (Willens-)Organ des Volkes, sondern „neben dem Volke mit diesem Organ des Staates“,374 d.h. der Einheit der Rechtsordnung.
367 Hier ist also ausschließlich vom Volk in der Verfassung die Rede, eine Volkssouveränität vor der Verfassung ist für Kelsen eine nicht einmal der Thematisierung werte Fiktion.
368 Ebd., 42.
369 Ebd., 43. 370 Ebd. 371 Ebd., 49.
372 Ebd., 44.
373 Ebd.
374 Ebd., 46.
3.5 Naturrecht des Stärkeren
Das Naturrecht des Stärkeren und der substanzielle Dezisionismus bleiben zentrale Topoi in Schmitts Werk, wie sich anhand der Schrift zur Lage der europäischen Rechtswissenschaft aus dem Jahre 1943/44 und dem Spätwerk Der Nomos der Erde (1950) zeigen lässt. Schmitt präsentiert seine eigentümliche Geltungstheorie des Rechts hier in der Maske Friedrich Carl von Savignys. Er zitiert zunächst als Krisendiagnose das berühmte Diktum Julius von Kirchmanns: „’Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.’“ (RW, 399)375 aus dem Jahr 1848 und fragt, was von einer Wissenschaft übrig bleibe,
„deren Sinn und Zweck nichts anderes ist als die kommentierende und interpretierende Begleitung fortwährend wechselnder, positiver Anordnungen von staatlichen Stellen, die ihrerseits doch wohl selber am besten wissen und sagen können, was ihr eigentlicher Wille und was der Sinn und Zweck ihrer Anordnungen ist.“ (400)
Welches Bild von Rechtswissenschaft wird hier transportiert? Offenbar hat diese für Schmitt die Aufgabe, nach einem wahren oder richtigen Recht zu suchen, statt bloß als „Begleitung fortwährend wechselnder, positiver Anordnungen von staatlichen Stellen“ zu fungieren, also das positive Recht zu beschreiben. Sie soll damit selbst eine rechtsnormierende Funktion haben, „Sinn und Zweck“ von Anordnungen bestimmen. Nur wenn ein solches Verständnis von Rechtswissenschaft zugrunde gelegt wird, kann von einer „Wertlosigkeit“ (399) des Gesetzespositivismus die Rede sein. Dass Schmitt in diesem Aufsatz seine Begeisterung für den das Recht schützenden und unmittelbar setzenden ‚Führer’ (1934) oder auch nur für den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung (1931/32), also für den Übergang der Gesetzgebungsmacht auf die Exekutive, in eine larmoyante Huldigung376 der Rechtswissenschaft ummünzt, die ihm zufolge plötzlich wieder „zum letzten Asyl des Rechtes selbst geworden ist“ (408), ja zur „Hüterin des nicht nur gesetzten Rechts“ (411), soll hier nicht weiter interessieren. Die Wendungen und Drehungen des Schmittschen Denkens, sein Austauschen des Trägers der Funktion antidemokratischer Rechtssetzungsinstanzen, sind hier nicht von Belang. Entscheidend bleibt die reaktionär aufgeladene Idee der objektiven Vernunft des Gesetzes und der politischen Einheit sowie die Kontinuität dessen, was Schmitt seit 1934 ‚konkretes Ordnungsdenken’ nennt, aber sein Werk schon wesentlich früher geprägt hat. Schmitts „existenzielle Besinnung“ der Rechtswissenschaft sieht nun so aus:
375 Original in Kirchmann 1848, 17.
376 „Besinnen wir uns wieder auf unsere Leidensgeschichte, denn unsere Kraft wurzelt in unserem Leidvertrauen.“ (426) Es ist infam und schwer erträglich, wie hier ein Verfolger und NS-Täter sich zum Verfolgten stilisiert, mit einem klebrigen Pathos eine gesamteuropäische Leidensgeschichte der Rechtswissenschaftler antipositivistischer Provenienz herbeiphantasiert. Wer die ‚Verfolger’ sind, die das Recht „termitisieren“, kann man sich vorstellen. Im Glossarium sind ‚raumfremde‘ bzw. ‚-feindliche‘ Juden und kritische Intellektuelle sogar – als Resultat der „Freud-indizierten Neurosentherapie“ zu „reine[n] Termiten und Insekten geworden.“ (G, 318)
„Das Recht als konkrete Ordnung läßt sich nicht von seiner Geschichte loslösen. Das wahre Recht wird nicht gesetzt, sondern entsteht in einer absichtslosen Entwicklung. Was wahres Recht ist, bestimmt sich demnach heute in der konkreten geschichtlichen Existenzform des Juristentums, in welchem das Wachstum zum Bewußtsein kommt.“ (411)
Wieder offenbart sich die Struktur des substanziellen Dezisionismus: Vorpositive Rechtsquellen werden – hier nun – von den Juristen repräsentiert und kommen in ihnen zum Ausdruck. Was Recht ist, bestimmt eine Elite von Menschen, die mit solchem Geraune wie ‚konkrete Ordnung und Ortung’ (N, 39), ‚elementare Ordnung des terrestrischen Daseins‘ (6), ‚raumhaft’ (39), ‚bodenhafter Urgrund’ (17), ‚Heimat’ (41), ‚Wachstum’, ‚echte Herkunft’, ‚Ursprung’ (RW, 411), ‚höhere Art Sein’ (VL, 210), ‚existierend’ (42), ‚tellurisch‘ (TP, 77), usw. usf. ‚erkennen’, was „das wahre Recht“ ist und dies dem ‚entsubstantialisierten Formalismus’ des demokratischen Gesetzgebers und seiner ‚hinterherhinkenden’ rechtspositivistischen Interpreten entgegenhalten.
So sei bei Savigny das Positive des Rechts „etwas Gegebenes, nicht Gesetzes“. „Der spätere Positivismus“ hingegen, kenne „überhaupt keinen Ursprung und keine Heimat mehr.“ (RW, 411) Hier zeigt sich der Rechtsfetischismus377 Schmitts in reinster Form: Die Annäherung des Rechts an den Boden, an „Gegebenes“, das durch bloße – dauerhafte378 – Existenz legitimiert sei. „Quelle“ ist ihm im Gegensatz zum Positivismus keine „unverbindliche Metapher“ (411), sondern „im vollen Sinn der echten Herkunft und der echten Heimat wirkliche Quelle.“ (411f.) Was Schmitt über Savignys „geschichtliche Größe“ sagt, ist eine Selbstauskunft über seine Programmatik, „die Rechtswissenschaft zum Gegenpol des bloß faktischen Setzungsrechtes“ zu machen, „ohne das Recht in die Bürgerkriegsparolen des Naturrechts zu werfen.“ (418) Die Rechtswissenschaft soll sich sowohl von Philosophie/ Theologie als auch von „einer bloß technischen Normenkunde“ (420) abgrenzen. Man muss nicht lange rätseln, was das inhaltlich bedeutet: Sie soll weder eine deskriptive Normwissenschaft sein und damit dem (möglicherweise demokratischen) Gesetzgeber das Feld überlassen, noch soll sie sich zu sehr dem Begriff der Vernunft379 verpflichtet fühlen, um sich womöglich für gesellschaftskritische „Bürgerkriegsparolen“ zu eignen – erkennt doch schon Savigny in seiner
377 Gemeint ist damit die Verdinglichung, ja teilweise schon wieder religiöse Hypostasierung des Rechts. So redet Schmitt von „Unmittelbarkeit“ der Rechtskraft (N, 42), den „mythischen Quellen rechtswissenschaftlichen Denkens“ (5), beschwört mit einem Weber-Zitat die „inhaltliche[…] Heiligkeit“ (G, 116) des Rechts und legt sein Buch über den Nomos der Erde „auf dem Altar der Rechtswissenschaft nieder“ (N, 5). Zum Begriff des Rechtsfetischismus vgl. Paschukanis 1969, 41f,. 60, 62, 89, 95f., der sich aber noch am rationalen bürgerlichen Naturrecht und der Kelsenschen Grundnorm abarbeitet.
378 Vgl. PR, 72: „die Dauer systematisch zur Grundlage der Berechtigung zu machen“. Vgl. auch in kritischer Absicht Blumenberg 2007, 107: „Legitimität ist für Schmitt ein diachronischer, historisch-horizontaler Fundierungszusammenhang, gleichsam aus der Tiefe der Zeit die Unverbrüchlichkeit von Ordnungen produzierend“.
379 Auch wenn Schmitt immer wieder Worte wie Vernunft oder Gerechtigkeit für die Charakterisierung seiner überpositiven Rechtsquellen verwendet, haben sie keinen angebbaren Inhalt mehr. Es handelt sich hier nur noch um rhetorische Floskeln.
Konfrontation mit Hegel, dass bei aller konservativen Ausrichtung des letzteren die Gefahr einer Verselbständigung des Vernunftbegriffs gegen das Bestehende gegeben ist.380 Schmitt stellt beidem, dem Satz ‚Jeder Inhalt kann Recht sein’ und der Vernunftprätention eines philosophischen Naturrechts, den „’Positivismus der historischen Quelle’ entgegen“ (421). Gegen die
„Motorisierungen der Gesetzgebungsmaschine“, ihre „Gefahr der Mechanisierung, Technisierung und Termitisierung“ (423), die „im Grunde nur die Revolution in Permanenz [hält] und nur noch die Revolution als eine der Legalität überlegene, legitime Kraft gelten [läßt]“ (424), „bleibt uns wirklich nur der Aufruf zur Rechtswissenschaft als der letzten Hüterin der absichtslosen Entstehung und Entwicklung des Rechts.“ (423)
Was steht aber am ‚Ursprung’ dieser Entwicklung? Vor allem anderen die blanke Gewalt, die sich historisch verstetigen kann, eine „Usurpation, die historischen Bestand hat“ (PR, 73),381 wie Schmitt bereits in der Politischen Romantik mit Verweis auf Savigny sagt, der „Nomos“, den er später mit „Nahme“ (N/T/W, 491) übersetzt und als „konstituierendes geschichtliches Ereignis, […] Akt der Legitimität“ begreift, „der die Legalität des bloßen Gesetzes überhaupt erst sinnvoll macht“ (N, 42).382 „Jede staatliche Verfassung“, schreibt Schmitt, „geht auf ein vorstaatliches Recht zurück; sie ist also nicht bloßes Faktum“ (51). ‚Nomos‘ ist der neue Schlauch, in den der alte Wein der die Verfassung im positiven Sinne (die konkrete Ordnung) konstituierenden Gewalt gefüllt wird (vgl. 50f.), die wiederum ein vorpositives Existenzrecht besitzt, einer ‚Idee‘ folgt – hier wird wieder „das ursprüngliche Faktum der Eroberung unter dem Mantel des ‚Naturrechts’ verb[o]rgen“.383 Den Nomosbegriff will Schmitt von der „substanzlosen, allgemei-
380 Hegel hält, Gunter Scholtz (1991, 68) zufolge, den „Anspruch […] aufrecht […], daß sich das Recht muß von der Vernunft als Recht begreifen lassen. Diesen Anspruch hat Savigny aufgegeben und hat so die Sachlage umgekehrt: Die Vernunft muß sich vor dem geschichtlich gegebenen Recht legitimieren.“ Dieses Recht, dessen Quelle der ‚Volksgeist‘ sein soll, wird aber von den Rechtswissenschaftlern als das gegebene Recht definiert und fortgebildet und keinesfalls dem wirklichen Volk überlassen. Auch bei Savigny findet sich demnach eine Analogie zu Schmitts substanziellem Dezisionismus, vgl. ebd., 69f. sowie Krockow 1990, 96. Vgl. auch Meuter 1994, 482-491, der die Apotheose des ‚Wirklichen‘ im Konservatismus allgemein herausarbeitet.
381 Vgl. auch N, 48-50, wo Schmitt die Differenz zwischen dem Gewaltakt als Nomos und dem bloßen Gewaltakt an der Dauer der dadurch hervorgebrachten Ordnung festmacht: „Selbstverständlich ist nicht jede Invasion oder jede vorübergehende Okkupation schon eine Ordnung begründende Landnahme. Es hat in der Weltgeschichte genug Gewaltakte gegeben, die sich sehr schnell selbst zerstört haben.“ (N, 48)
382 Der durchgängige Topos einer Entgegensetzung von Legitimität und Legalität taucht auch hier wieder auf: „Die heutige Lage ist seit Jahrzehnten durch den Mißbrauch der Legalität des zentralistischen Gesetzgebungsstaates gekennzeichnet, deren einziges, heute ziemlich hilflos gewordenes Korrektiv der Begriff der Legitimität ist.“ (N, 41)
383 MEW 18, 59. Schmitt selbst verweist in ähnlichem Zusammenhang auf ein vermeintliches Goethe-Zitat von Marx im Kapital, das dort aber nicht auftaucht. Es lautet in seiner Version: „Lehrer: Bedenk, o Kind, woher sind diese Gaben? Du kannst nicht alles von dir selber haben. Kind: Ei, alles hab’ ich vom Papa. Lehrer: Und der, woher hat’s der? Kind: Vom
nen Bezeichnung jeder irgendwie gesatzten oder erlassenen, normativistischen Regelung“ (36) abheben, die er im jüdischen Gesetz (33, 39)384 und der sophistischen Trennung von nomos und physis (38, 44) angelegt und in der „Künstlichkeit“ des Positivismus des 19. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung gelangt sieht (39). Gegen das Verständnis von Nomos als „einem auferlegten Sollen, das sich vom Sein absetzt“ und eine künstliche, willkürliche Setzung durch Kräfte darstellt, „die nichts mehr konstituieren, sondern nur noch dirigieren“ (39),385 soll ein Verständnis von Nomos als rechtskonstituierender „Ur-Akt[…]“ (47) eines normierenden und durch sich selbst (oder durch Gott)386 normierten Seins wiedergewonnen werden, das, weil es eine ortsgebundene Ordnung hervorbringt, auch notwendig partikular sein muss.387 Die Nahme gehe der Teilung und dem Weiden voraus: „Am Anfang steht daher […] der Nomos in der Bedeutung der Nahme, konkret gesprochen: der Landnahme.“ (N/T/W, 493) Diese „Landnahme begründet Recht388 nach doppelter Richtung, nach Innen und nach Außen“. Sie könne herrenloses, aber auch bereits angeeignetes Land ‚nehmen‘ bzw. ‚wegnehmen‘ (N, 16) – die „Kolonisierung“ (48; NTW, 503) und der „Raub“ könnten „trotz aller Gewaltsamkeit der Tat Recht […] schaffen“ (N, 42). Schmitt verweist dabei auf das Primat der ursprünglichen Erwerbung des Bodens in Kants Rechtsphilosophie (18, 40), moniert aber dessen „ungeschichtlich“-transzendentale Konstruktion einer vereinigten distributiven Willkür, die diese Erwerbung verstattet, und wehrt so jede normative Begründung des Nehmens, Teilens und Weidens ab, die über die „Landnahme als eine reale geschichtliche Tatsache“ (17) hinausgeht. Doch auch Teilen und Weiden werden Schmitt zu Quellen des Rechts, weil sie ‚ver-ortet‘, auf die „Erde […] als die Mutter des Rechts“ (13) verwiesen seien. So wird in ungeniert irrationaler Weise mittels eines naturalistischen Fehlschlusses das Produkt der Landarbeit als gerechter „Lohn der Arbeit“ bezeichnet, den die Erde dem Menschen erstatte (13).389 Der Nomos als konkrete Ordnung wird dabei
Großpapa. Lehrer: Nicht doch! Woher hat’s denn der Großpapa bekommen? Kind: Der hat’s genommen.“ (NTW, 503)
384 Vgl. dazu ausführlich Gross 2005, 107-113.
385 Ein Schelm, wer dabei an die antisemitischen Kampfparolen vom schaffenden vs. raffenden Kapital und produktiven vs. parasitären Menschentypus denkt.
386 In RK, 15 soll es noch ein christlicher Naturbegriff sein, der in den ‚katholischen Völkern‘ wirksam ist und es ihnen plausibel erscheinen läßt, dass „menschliche Arbeit und organisches Wachstum, Natur und Ratio […] Eins“ sind. Daher, so meint Schmitt, scheinen diese Völker „den Boden, die mütterliche Erde, anders zu lieben.“
387 Vgl. N, 47, wo Schmitt sich gegen die Übersetzung von Sitte mit Noos in Homers Odyssee wendet und statt dessen Nomos lesen will, denn: „Nous ist das Allgemein-Menschliche, das nicht nur vielen, sondern allen denkenden Menschen gemeinsam ist, während Einfriedung, Hegung und die sakrale Ortung, die in dem Wort Nomos liegt, gerade die einteilenden und unterscheidenden Ordnungen zum Ausdruck bringt“.
388 „Aus diesem Ursprung nährt sich […] alles folgende Recht und alles, was dann später noch an Setzungen und Befehlen ergeht und erlassen wird.“ (N, 19)
389 Als „Wurzel von Recht und Gerechtigkeit“ müsse die Erde bezeichnet werden, weil „die fruchtbare Erde in sich selbst, im Schoße ihrer Fruchtbarkeit, ein inneres Maß“ berge. Denn, so meint Schmitt, „die Mühe und Arbeit, Saat und Bestellung, die der Mensch an
konsequent rückgebunden an personale Herrschaft: Herrschaft des Nomos bedeutet Schmitt zufolge eben nicht Herrschaft des Gesetzes im modernen vernunftrechtlichen oder positivistischen Sinne, sondern Herrschaft des mit dem Amt verschmolzenen Königs, „Nomos Basileus […] Nomos als König“ (42), oder wenigstens einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe (38). Zwar wehrt sich Schmitt gegen die Deutung dieser abenteuerlichen Konstruktion als bloße Verbrämung faktischer Gewalt und Willkür (42, 51), aber er kann kein Kriterium anbieten, dass einen Unterschied zwischen dem ‚Nomos Basileus‘ und einem ‚substanzlosen Cäsarismus‘ (33, 45) erkennen ließe – es sei denn, man gäbe sich mit verschwurbelten Phrasen einer resakralisierten Boden-Rhetorik zufrieden.
Um es noch einmal festzuhalten: Schmitts konkretes Ordnungsdenken ist stets dezisionistisch – die substanzhafte Ordnung wird durch eine Elite oder einen Führer bestimmt – und sein Dezisionismus ist niemals als völlig ungebundener gedacht – selbst in seinen am deutlichsten dezisionistischen Schriften wird stets ein diffuses Naturrecht bemüht. Christian v. Krockow bringt dieses merkwürdige Verhältnis von Dezisionismus und Naturrecht auf den Punkt: Schmitts Ordnungsdenken sei in dem Sinne naturrechtlich, als es die Gebundenheit aller Entscheidungen an eine überpositive, unverfügbare Wertordnung postuliere, der auch der Führer unterstehe. Dieses Naturrecht entbehre aber jeder Allgemeinheit und Notwendigkeit: Die postulierten substanziellen Werte seien partikulare, gälten nur für eine bestimmte Gemeinschaft, und ihr Gehalt sei zugleich in keiner Weise vernünftig auszuweisen, weshalb er „nur durch die autoritative Entscheidung fixiert werden“ könne.390 Was als ‚objektiv‘ gilt, wird so durch einen subjektiven Gewaltakt generiert, der sich wiederum legitimatorisch auf die vorgängige ‚objektive Substanz‘ bezieht, die er selbst definiert hat.391
Schmitts Rechtsauffassung ist für jedes autoritäre Regime eine Blaupause der Politisierung des Rechts und die – wenigstens partielle – Rückgängigmachung bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit. Insofern kann es auch kaum verwundern, dass sein substanzieller Dezisionismus geradezu zur offiziellen Rechtsauffassung und – praxis im Nationalsozialismus wurde.392 Schmitts ‚konkretes Ordnungsdenken
die fruchtbare Erde verwendet, wird von der Erde durch Wachstum und Ernte gerecht belohnt. Jeder Bauer kennt das innere Maß dieser Gerechtigkeit.“ (N, 13).
390 Krockow 1990, 103. Dies gelte bereits für das klassische vorkantische Naturrecht und umso mehr für solch obskurante ‚Substanzen‘ wie ‚Deutschheit‘ oder ‚Rasse‘.
391 Vgl. ebd.: Demnach „werden alle Entscheidungen autoritativ vom Führer getroffen. Und der Führer soll deshalb kein Diktator sein, weil er seinerseits unter dem Diktat der in der metaphysischen Substanz der Deutschheit inkarnierten Vorsehung steht. Was aber dieses Diktat der Vorsehung inhaltlich ist, darüber entscheidet wiederum nur: der Führer.“
392 Hubert Rottleuthner identifiziert als Kern der NS-Rechtauffassung: 1) Die Entscheidungen der Führung werden als ‚Ausdruck‘ substanzhafter Werte und des darauf gestützten Volkswillens interpretiert (Rottleuthner 1983, 27). 2) Die Ausdrucksbeziehung ist durch eine Gleichartigkeit zwischen Führung und Volk ohne geordnete Verfahren garantiert (28). 3) In der Justiz tritt an die Stelle der Gesetzesbindung die Treue zu den völkischen Werten und zum Führerwillen. 4) Der Wille der Führung ist Ausdruck der normativen Substanz, die „wenn nötig, dezisionistisch festgelegt wird“ (29) 5) Damit verbunden sind Verselbständigungen der Exekutive und Judikative gegenüber dem Gesetzgeber bzw. der Exekutive gegenüber allen anderen Gewalten (29) (vgl. auch Maus 1983, 181, derzufolge die
im NS ist eine konsequente Fortführung seines Plädoyers für exekutiv gehandhabte ‚substanzliche’ Verfassungsbestandteile, so wie die Rechtspraxis des Nationalsozialismus auch eine Fortführung der bereits in der Weimarer Republik begonnenen Methode juristischer Geltendmachung überlegaler Verfassungsprinzipien (‚Staatsnotwehr‘) gegen positive Verfassungs- und Gesetzesnormen darstellt. 393 Der „echte Rechts- und Ordnungsbegriff […] der reinen Gnade oder Ungnade“ (DA, 22), die im „Lebensrecht des Volkes“ (FR, 229) begründete konkrete Entscheidung des Führers, Reichspräsidenten oder Juristen, ist der Idealtypus dieser Rechtsauffassung. Statt formaler Rechte gewährleisten hier „Treue, Disziplin und Ehre“ (DA, 43; ebenso SBV, 36)394 den sozialen Zusammenhang, der wiederum auf vom Souverän bestimmter „Gleichartigkeit“ (VL, 228) oder „Artgleichheit“ (SBV, 42) aufruht. Die ‚substanzlich’ geleitete Maßnahme ersetzt dabei eine formale Legalitätsstruktur, die nur noch von „sekundäre[r]Bedeutung“ (15) ist: „Der Führer“, so Schmitt in seinem berüchtigten, aber lediglich eine bereits in der Weimarer Republik weithin geteilte Auffassung zuspitzenden Aufsatz aus dem Jahre 1934, „schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Au-
Entkopplung von der Gesetzesbindung zur Politisierung der Justiz und damit auch zum direkten Durchgriff exekutiver Instanzen auf die Rechtsprechung führt). 6) Die Werte des substanziellen Dezisionismus „versprechen feste Orientierung, liefern aber letztlich nur den politischen Interventionen aus“, haben also maßnahmenstaatlichen Charakter (Rottleuthner 1983, 30). Wenn Schmitt in bestimmten Phasen der Weimarer Republik vor einer Politisierung der Justiz warnt (vgl. DRP, 246f.; HV, Teil I), ist das kein Argument gegen die Kontinuität seines substanziellen Dezisionismus. Er besetzt lediglich die dezisionistische Position an dieser Stelle mit einer anderen Instanz, vor allem dem Reichspräsidenten (obwohl es auch hier verschiedene Phasen und Radikalitätsstufen in seinem Werk gibt – man vergleiche in dieser Frage DRP mit LL oder gar FR)). Der ideologische Gehalt seiner Vorbehalte gegenüber der Idee eines Verfassungsgerichts in der Weimarer Republik wird von Ingeborg Maus auf den Punkt gebracht, vgl. Maus 1980, 103.
393 Zur bis zum Reichsgericht hinaufreichenden, nationalistisch begründeten Rechtfertigung von Mord und Gesetzesbrüchen in der Weimarer Justiz vgl. die Darstellung von Ingo Müller 1989, 31-34. So stellt das Leipziger Reichsgericht in seinem „Ponton-Urteil“, das die journalistische Aufdeckung von staatlicher Seite begangener Rechtsbrüche als „publizistischen Landesverrat“ qualifiziert, fest: „Die uneingeschränkte Anerkennung des Gedankens, daß die Aufdeckung und Bekanntgabe gesetzwidriger Zustände dem Reichswohle niemals abträglich, nur förderlich sein könne, weil das Wohl des Staates in seiner Rechtsordnung festgelegt sei und sich in deren Durchführung verwirkliche, ist abzulehnen“ (RGSt 62/1929, 67). Das Gericht führt gegen formale Legalität das „natürliche Recht“ auf Verteidigung der Staatsinteressen an (65).
394 „Ein normativistisches Gesetzesdenken dagegen vermag die Fahnenflucht eines Deserteurs oder den Treubruch eines Verräters nur als ‚strafbedrohte Handlung‘, nur als tatbestandsmäßige Voraussetzung eines staatlichen Strafanspruchs, nicht aber in dem wesentlichen Unrecht und in dem eigentlichen Verbrechen der Eidesverletzung und Treulosigkeit zu erfassen.“ (DA, 43) Diese Ersetzung eines formalrechtlichen durch ein emotionales Band der Ehre und Huldigung zeigt die „Wiedererzeugung [des Archaischen] in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst“, die Adorno als faschismustypischen Zug des Rekurses auf Gemeinschaft identifiziert; vgl. Adorno 1991b, 42. Ingo Müller zeigt anhand des NSRechts, dass diese Vorgaben Schmitts dort nicht nur rechtstheoretisch geteilt bzw. übernommen wurden (vgl. Müller 1989, 80-89), sondern auch Muster für tausendfache Todesurteile waren (Müller schätzt ca. 50000-80000 in der Zeit des NS (201)).
genblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft“ (FR, 228). Dabei soll die Artgleichheit zwischen Führer(n), Richtern und Volk nicht nur „gegenseitige Treue“ (SBV, 42) an die Stelle verfahrensmäßiger Kontrolle setzen, sondern angesichts der Zunahme „unvermeidlich[ er] und unentbehrlich[er]“ Generalklauseln sogar die einzige Garantie für Rechtssicherheit unter den Volksgenossen sein (43f.). Die verfassungstheoretische Grundstruktur von Schmitts Modell des substanziellen Dezisionismus wird u.a. von Hans Frank, persönlicher Förderer von Schmitt,395 NSReichsjustizkommissar und späterer „Generalgouverneur“ von Polen, aufgenommen: „’Der Führer und Reichskanzler ist der verfassunggebende Abgeordnete des deutschen Volkes, der ohne Rücksicht auf formale Voraussetzungen die Gestaltung der äußeren Form des Reiches, seinen Aufbau und die Gesamtpolitik bestimmt.’“ 396
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