2.4 Der Ernst des Lebens
Wie sehr Schmitts Sinnstiftungsversuch des Krieges aufklärerischem Denken entgegengesetzt ist und wie sehr der Diskurs des Opfers sich hier verändert, zeigt ein Vergleich mit Friedrich Schillers Begriff des Ernstes. Schiller, den Schmitt als „durchtrieben[en]“ und „geniale[n] Verbrecher“ denunziert (G, 318f.), unterscheidet Anmut und Würde als Ausdrucksformen des menschlichen Geistes: Anmut wird verstanden als Ausdruck einer „schönen Seele“, in der sittliche Pflicht – für Schiller nichts anderes als der kategorische Imperativ Kants – und Neigung harmonisch verbunden sind und die Affekte die „Leitung des Willens“ übernehmen können, ohne Gefahr zu laufen, mit den Forderungen der Pflicht „im Widerspruch zu stehen.“181 Die schöne Seele bezeichnet also eine habitualisierte Form der Moralität, die „de[n] ganze[n] Charakter“ umfasst und phänomenal als Anmut erscheint,182 weil Sinnlichkeit der Moral hier nicht unterworfen, sondern mit
174 Balke 1990, 50. Zur Pervertierung des Erhabenheitsbegriffs im Zuge des 20. Jahrhunderts vgl. auch Marcuse 2004a, 223: Im „heroische[n] Kult des Staates“ und der nationalen „Erhebung“ werde das „Individuum […] völlig geopfert“ und „soll jetzt in der Größe des Volkes das Glück des einzelnen verschwinden.“
175 Balke 1990, 51.
176 Kant 1998k, 357.
177 Ebd., 331.
178 Tatsächlich, so Balke, nenne ja auch Kant den – wohlgemerkt: gerechten – Krieg erhaben (vgl. Kant 1998k, 351) und nähere sich, wenn auch im Widerspruch zu seinem restlichen Werk, damit der später von Hegel betonten polemischen Antibürgerlichkeit (Balke 1990, 53f.). Gegen die Annäherung des traditionellen Erhabenheitskonzepts von Kant an das faschistische, die auch bei Balke durchscheint, wendet sich allerdings Schweppenhäuser 2007, 90: „Kant und Burke hatten das Erhabene nicht als die Macht beschrieben, die alle individuellen Differenzen einebnet und das Subjekt seiner transzendenten Allgewalt unterwirft. Sie hatten vielmehr versucht, die in sich widersprüchlichen Empfindungen zu rekonstruieren, die bestimmte Phänomene im Menschen auslösen.“
179 Meuter 1994, 364. 180 Vgl. ebd., 361.
181 Schiller 2006a, 111.
182 „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.“ (ebd., 111) Schiller bleibt al
ihr „versöhnt[…]“ ist.183 Der anmutige Mensch „ist einig mit sich selbst“, hat ein Bedürfnis, das Richtige zu tun, seine Moralität äußert sich als „Leichtigkeit“184 und trägt Züge „des Spiels“.185 Schiller betrachtet diese Harmonie von Pflicht und Neigung als anzustrebendes Ideal und selber wiederum als natürliche „Verpflichtung“, die einfach aus dem Charakter des Menschen als vernünftiges Sinnenwesen resultiere.186 Er ist sich allerdings bewusst, dass dieses Ideal aufgrund der Kontingenz menschlicher Existenz, seiner Naturbedingtheit, Leidensfähigkeit und Endlichkeit nicht vollständig zu realisieren ist:187 „Die Gesetzgebung der Natur durch den Trieb kann mit der Gesetzgebung der Vernunft aus Prinzipien in Streit geraten, wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fordert, die dem moralischen Grundsatz zuwiderläuft.“188 In diesem Fall „kann sich die Sittlichkeit des Charakters nicht anders als durch Widerstand offenbaren“189, und unter den Ansprüchen sittlicher Pflichten „wird sich die Sinnlichkeit in einem Zustand des Zwangs und der Unterdrückung befinden, da besonders, wo sie ein schmerzhaftes Opfer bringt.“190 Nun geht „die schöne Seele […] ins Heroische über“, wirkt die reine „Geistesfreiheit“, deren Erscheinungsform als Würde, moralische Größe oder Erhabenheit bezeichnet wird.191 Schiller resümiert: „Wo also die sittliche Pflicht eine Handlung gebietet, die das Sinnliche notwendig leiden macht, da ist Ernst und kein Spiel, […] da kann also nicht Anmut, sondern Würde der Ausdruck sein.“192 Ungeachtet der scheinbaren Naturalisierung dieses Konflikts („Naturtrieb“ vs. Pflicht) impliziert Schillers Idee der Würde eine Unterscheidung in unausweichliche Konflikte zwischen Pflicht und Neigung und unsinnige Konflikte. Denn, so Schiller, Würde könne phänomenal mit Härte verwechselt werden, die sich dadurch auszeichne, sinnliche Ansprüche des Individuums nicht den Imperativen der Sittlichkeit, sondern einem anderen verborgenen sinnlichen Bestimmungsgrund zu opfern:
„Würde allein beweist zwar überall, wo wir sie antreffen, eine gewisse Einschränkung der Begierden und Neigungen. Ob es aber nicht vielmehr Stumpfheit des Empfindungsvermögens (Härte) sei, was wir für Beherrschung halten, und ob es wirklich moralische Selbsttätigkeit und nicht vielmehr Übergewicht eines andern Affektes, also absichtliche Anspannung sei, was den Ausbruch des gegenwärtigen im Zaume hält, das kann nur die
lerdings ganz Kantianer, wenn er feststellt, „daß der Anteil der Neigung an einer freien Handlung für die reine Pflichtmäßigkeit dieser Handlung nichts beweist. (106)
183 Ebd., 107.
184 Ebd., 102.
185 Vgl. ebd., 105.
186 Ebd., 107.
187 Vgl. ebd., 113.
188 Ebd., 116.
189 Ebd., 118.
190 Ebd., 123.
191 Ebd., 119.
192 Ebd., 124.
damit verbundene Anmut außer Zweifel setzen.“193 Die „falsche Würde […] ist nicht bloß streng gegen die widerstrebende, sondern hart gegen die unterwürfige Natur und sucht ihre lächerliche Größe in der Unterjochung und, wo dies nicht anders gehen will, in Verbergung derselben.“194
Es ist frappierend, wie Schiller hier das Ideal der Härte, der (An-)Spannung, des verkehrt Heroischen, des Hasses aufs Materielle und Individuelle, die „lächerliche Größe“195 des Beharrens auf einem sinnlosen Opfer antizipiert, die 140 Jahre später im faschistischen Wertekanon nicht nur eines Carl Schmitt in aller Radikalität vertreten wird.
Die Gegensätze sind damit klar: Bei Schiller ist der Ernst des Lebens stets bezogen aufs moralische Gesetz des kategorischen Imperativs und dessen Geltendmachung gegen nicht harmonisierte oder harmonisierbare Affekte und empirische Situationen. Ernst ist hier aber kein Selbstzweck oder etwas Anzustrebendes, sondern Ausdruck nichtversöhnter Konflikte, die als solche nichts Gutes sind. Das Ideal bleibt die Versöhnung und die Vermittlung von Empirie/ Besonderem und moralischem Gesetz/Allgemeinem. Für Schmitt hingegen ist Ernst als solcher der höchste Wert, und zwar Ernst im Sinne der tragischen196 Betätigung des Individuums im Konflikt-/Ausnahmefall. Die Opferung des Sinnlichen/ Besonderen für das Allgemeine/die politische Einheit ist Zweck, der wiederum aus einem gesellschaftlich konstituierten und pervertierten sinnlichen Motiv heraus entsteht – wie noch erläutert werden soll. Das Allgemeine ist nicht mehr das moralische Gesetz, sondern die kontingente politische, also potentiell einen Feind bekämpfende Einheit. Dieser spezifisch politisch artikulierte Konflikt wird schließlich anthropologisiert.
Schmitt verwirft mit der These, es gebe „keinen rationalen Zweck, […] kein noch so schönes soziales Ideal […], die es rechtfertigen könnte[n], daß Menschen sich gegenseitig dafür töten“ (BP, 49f.), also keineswegs den Krieg. Er lehnt lediglich jede normative Rechtfertigung von Kriegen aus anderen als politischen Gründen ab.197 Damit besteht zugleich auch keine Möglichkeit mehr, einen Krieg
193 Ebd., 126. Die Probleme, die mit Schillers Versuch verbunden sind, ein sinnliches Kriterium für die Unterscheidung moralischer von unmoralischen Handlungen im pflichtethischen Sinn anzugeben, sollen uns hier nicht weiter beschäftigen.
194 Ebd., 134.
195 Vgl. auch ebd., 123: „Da die Würde ein Ausdruck des Widerstandes ist, den der selbständige Geist dem Naturtriebe leistet, dieser also als eine Gewalt muß angesehen werden, welche Widerstand nötig macht, so ist sie da, wo keine solche Gewalt zu bekämpfen ist, lächerlich, und wo keine solche Gewalt zu bekämpfen sein sollte, verächtlich.“
196 Vgl. dazu vor allem Hamlet oder Hekuba (HH, 40ff., 46).
197 Das Politische ist kein Mittel zu einem weiteren Zweck, sondern „Politik ist das Schicksal“ (BP3, 21). Frappant sind die Übereinstimmungen mit anderen Autoren des heroischen Realismus, wie Ernst oder Friedrich Georg Jünger. So schreibt letzterer: „der Krieg ist kein sittliches Phänomen; es gibt keine ethische Kategorie, in der er untergebracht werden könnte […], das macht ihn für das heroische Bewußtsein, welches in ihm sein Element und Schicksal ehrt, erst bedeutsam. […] Der geborene Krieger“ ist „von der Schicksalhaftigkeit des Krieges ganz und gar durchdrungen.“ (Jünger 1930, 63) Vgl. dazu Fromm 1989c, 176: „Im Namen Gottes, des Vergangenen, des Naturlaufs, der Pflicht ist Aktivität möglich, nicht im Namen des Ungeborenen, Zukünftigen, noch Ohnmächtigen oder des Glücks
aus Unrentabilität oder moralischer Verwerflichkeit zu unterlassen. Wie Karl Löwith treffend resümiert, „bleibt als Wozu der Entscheidung nur übrig der jedes Sachgebiet übersteigende und es in Frage stellende Krieg, d.h. die Bereitschaft zum Nichts, welches der Tod ist, verstanden als Opfer des Lebens an einem Staat, dessen eigene Voraussetzung schon das Entscheidend-Politische ist.“198 Man könnte nun einwenden, es bleibe doch die „eigene[…] Art Existenz“ (27), ihre Bedrohung und Behauptung. Die Formulierung muss aber zwangsläufig zur Leerformel erstarren, wenn von allen jenseits des Krieges liegenden normativen oder evaluativen Elementen abgesehen wird, also von allem, was eine Art und Weise von Existenz bedeuten könnte. Bernd Ladwig zufolge ist Schmitts Existenzbegriff daher „eine zeittypische Floskel zur Bemäntelung kriterialer Nacktheit“. Wenn sie einen angebbaren Sinn haben solle, dann verweise sie auf „Standards der Rechtfertigung“,199 auf Inhalte wie den Wert des Überlebens einer Gruppe, der territorialen Integrität eines Staates, der nationalen Autonomie usf. Schmitt konfundiere schlicht die normengeleitete Entscheidung zum Krieg mit der situativen Entscheidung und Feinderfahrung im Krieg: Der Soldat müsse „damit rechnen […], als Feind bekämpft zu werden“200, ohne dass diese Möglichkeit auf seine Überzeugungen oder Intentionen Rücksicht nähme, ohne dass er von den ebenfalls in der Kampfsituation stehenden Feinden als „moralischer Scheusal oder als möglicher Konkurrent“ betrachtet werde, „sondern einfach, weil er als Kämpfender kenntlich ist.“201 Betont wird also die relative Ohnmacht der Kombattanten angesichts des Kugelhagels oder „unter dem Eindruck von Streubomben“.202 Um das Leben unter der Drohung, in eine solche Situation zu geraten, geht es Schmitt. 203 Man könnte auch spekulieren, ob bei Schmitt die völkerrechtliche Sym
schlechthin. Aus der Anlehnung an die höheren Gewalten zieht der autoritäre Charakter seine Kraft zu aktivem Handeln […]. Leiden, ohne zu klagen, ist höchste Tugend, nicht die Abschaffung […] des Leidens. Sich dem Schicksal fügen, ist der Heroismus des Masochisten“.
198 Löwith 1984, 44.
199 Ladwig 2003, 56.
200 Ebd., 57.
201 Ebd., 58. Vgl. zur partiellen Ersetzung von Reflexion durch quasi automatisierte Routine in unmittelbaren Kampfhandlungen auch Römer 2012, 355 (dagegen: ebd., 358f.). Allerdings trifft diese situative Außerkraftsetzung des Einflusses normativer Faktoren nicht auf alle Soldaten im gleichen Maße zu. Römer zeigt am Beispiel des Vernichtungskrieges der Wehrmacht im Osten, dass hier sogar die mittleren und unteren Truppenführer einen großen Handlungsspielraum besaßen und ihre ideologischen Motive einen bedeutenden Einfluss auf die Art der Kriegsführung hatte, vgl. ebd., Kapitel VII sowie 432. Einen anderen Modus der Verdrängung inhaltlicher Motive des Zwecks der Kriegsführung schildert Römer ebenfalls – hier geht es um den Fall der selbstzweckhaften Berauschung an der Gewalt: „Durch den Spaß an der Zerstörung vergaßen die Soldaten nicht selten, warum und wofür sie dies alles taten.“ (324) Dabei spielten Bejahung soldatischer Tugenden, Gewöhnung an Gewalt, Imagination eigener Handlungsfähigkeit inmitten ohnmachtsgenerierender Verhältnisse, Ästhetik der Waffen und maskuline Technikbegeisterung eine bedeutende Rolle.
202 Ladwig 2003, 58.
203 Auch F.G. Jünger gewinnt aus dieser Situation seinen „Maßstab“ einer intrinsischen Sinnerfülltheit des Krieges: „Hier ist der Maßstab, der Gültigkeit besitzt: die Haltung des Men
metrisierung des Krieges in Europa seit dem 17. Jahrhundert zur Idee der normativ nicht begründbaren Kriegführung mutiert. In der Symmetrisierung der Kriegführung wird die Idee des gerechten Krieges zurückgedrängt: „Staaten durften sich nun, ohne weitere Prüfung von Gründen und Ansprüchen durch einen Dritten, den Krieg erklären“.204 Wenn die normativen Kriegsgründe völkerrechtlich als nicht mehr relevant erachtet wurden, bedeutet das aber nicht, dass keine normativen Gründe mehr vorlagen.
Zwar erinnert Schmitt zu Recht an die Tatsache, dass Staaten von ihren Bürgern Todes- und Tötungsbereitschaft verlangen können, solange es ein „Pluriversum“ (54) von politischen Einheiten gibt. Diese wenig spektakuläre Einsicht nutzt Schmitt aber, um selbst ein normatives Programm zu verfolgen – die weitgehende Entkopplung der Legitimation von Politischem und Staat von allen nichtbellizistischen Motiven. Er überschreitet damit die im liberalen Staatsdenken noch vorhandene „Rationalitätsgrenze“205 für Opfer- und Tötungsbereitschaft,206 indem er die politische Einheit nicht auf wechselseitige Kooperationsvorteile egoistischer Warenbesitzer oder auf die Realisierung im kantischen Sinne moralitätskonformer sozialer Verhältnisse rückbezieht, sondern sie zur „höhere[n] und
schen in der Schlacht, die das Urverhältnis einer schicksalhaft gerichteten Ordnung ist“ (Jünger 1930, 62).
204 Münkler 2010, 114.
205 Pauly/Heiß 2010, 156.
206 Diese Selbstaufgabe verlangen demnach auch liberale Staaten und ihre Theorien unter bestimmten Bedingungen. Pauly/Heiß sehen das selbst: Auch Grundrechtstheorien, die dem Staat „’die Wahrung der Subjektqualität des Individuums’“ (Dreier) zuordnen, können dem Dilemma des bürgerlichen Individuums nicht entgehen: „Wo bleibt der Anspruch [sic!] ohne Furcht als Individuum unterschieden und frei leben zu können, wenn das Leben des Einzelnen im Zwang überindividueller Zusammenhänge geopfert wird?“ (2010, 151f.). In der bürgerlichen Gesellschaft kann es aus diesem „’staatsrechtliche[n] Dilemma’“ (151) zwischen individualistischer Staatszweckbestimmung und der nichtindividualistischen, sich über individuelle Rationalitätsbedingungen notwendig (und oft auch übers Notwendige hinaus) hinwegsetzenden und darin eben souveränen Staatszweckrealisierung keinen Ausweg geben (173f.): Auch Grundrechtsargumentationen, die postulieren: „’[d]er Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen’“, bleiben auf Souveränität angewiesen, die das Individuum stets gefährden kann (Hobbes’ Einsicht und Problem) – und zwar nicht nur, wenn der Staat über seine Befugnisse hinaus geht, sondern auch im Falle des Schutzes der Grundrechte, z.B. durch Krieg und Ausnahmezustand. „Resultat ist gleichwohl die kollektive Gewaltsamkeit eines wie auch immer grundrechtlich funktionalisierten Staates, mit dem auch eine zwangsläufige Objektivierung des Individuums einhergeht, in die es sich als kollektiviertes Subjekt zu fügen hat.“ Es besteht „eine Nichtidentität zwischen Mensch als Individuum einerseits und als Person andererseits.“ In Grundrechtstheorien wird „[d]iese Differenz übergehend […] [sic!] dem empirischen Menschen die allgemeine Form der Rechtsperson und in diesem Sinne des Subjekts unterschoben. Daran ist nicht nur […] die rechtliche Anerkennung gekoppelt, sondern damit geht auch eine ‚Gemeinschaftsgebundenheit’ des Individuums’ einher, die sich etwa im militärischen Verteidigungsfall ‚aktualisiert’, wenn der Staat die Gefährdung von Leben ‚bis hin zum Lebensverlust fordern’ kann, ohne dass hierin [im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik] ein Würde- oder Grundrechtsverstoß gelegen wäre.“ (173f.). Hier nähern sich die Autoren stark den in Fn. 117 dargelegten Einsichten Benjamins an.
gesteigerte[n], intensivere[n] Art Sein“ (VL, 210) verklärt. Eine politische Einheit ist es dann erklärtermaßen wert zu existieren, weil sie existiert (vgl. ebd., 22) und sie ist dadurch definiert, die Möglichkeit des Krieges aufrecht zu erhalten – diese Möglichkeit ist für Schmitt in sich sinnvoll und darf nicht auf andere Gründe reduziert werden.207
Wenn der politische Sinn überhaupt noch auf das Individuum rückbezogen wird – und das muss er, schließlich sind es Individuen mit bestimmten Motivationen, die Krieg führen oder führen lassen, selbst in dem merkwürdigen Sinne von Schmitt –, dann steht er im Rahmen eines Opferungs- und Sinngebungsprozesses, der in faschistischen Bewegungen und Verlautbarungen anzutreffen ist. Die Idee des Opfers hat dabei zwei Bedeutungsebenen: a) eine allgemeine, auf der das Individuum vor seiner als Isolation und Ohnmacht erfahrenen gesellschaftlichen Situation flieht und Befriedigung im Aufgehen in einem die Qualitäten der Macht, Größe und affektiven Verbundenheit aufweisenden Kollektiv erfährt. Hier spielen auch die Rituale einer ästhetisierten Politik eine Rolle, in denen der Einzelne die Zugehörigkeit zum Kollektiv sinnlich erfährt und anschaulich gemacht bekommt; und b) eine besondere, in der das Individuum in der noch gesteigerten Situation des Kampfes für dieses Kollektiv in der Bejahung des heteronomen Zwangs eine Pseudoaktivität und ein intensives Selbstgefühl entfaltet: Die allgemeine Bedeutungsebene (a), die bereits in Schillers Idee vom „Übergewicht eines […] Affektes“ im Fall der Härte erahnt wurde, wird in der Theorie des autoritären Charakters bestätigt, die Erich Fromm seit den 1930er Jahren entwickelte. Er weist die gesellschaftlich konstituierte autoritär-masochistische Bedürfnisstruktur auf, die hinter der faschistischen Verherrlichung von Opfer, Krieg und nationaler Größe stehe. Die faschistische Idee des Ernstes ist demnach Resultat eines erfolglosen Fluchtversuchs der Individuen vor einer in ihren Ursachen unbegriffenen Situation gesellschaftlich konstituierter Ohnmacht und einer als bloße Prekarität (oder bloßer ‚Nihilismus‘) erfahrenen Privatautonomie – eine Flucht, die zur masochistischen Unterordnung unter eine irrationale, unverlierbare Teilhabe an kollektiver Macht versprechende Autorität208 führe und zugleich innere
207 Vgl. Hofmann, der feststellt, „daß Schmitt in seinem existenziellen Begriff des Krieges das sachliche ‚Wofür‘ des Kampfes eliminiert hat.“ (Hofmann 2002, 156)
208 Michael Großheim liefert eine ähnliche Deutung des politischen Existentialismus als Versuch einer spezifisch politischen Bewältigung von als Haltlosigkeit und Last erfahrener individueller Freiheit (die er allerdings idealistisch als Resultat einer bloß intellektuellen Fehldeutung begreift): „Am Anfang“, so Großheim, „steht die Erfahrung radikalisierter personaler Emanzipation“ (1999, 157) – allerdings, wie zu ergänzen ist, einer, die den Bezug zur Welt und zu den anderen Mensch bloß kappt, einen „‘Schrecken vor der Leere‘“ erzeugt. Der politische Existenzialismus (von Schmitt, Jünger, Heidegger u.a.) reagiere mit der „Sehnsucht nach Härte und Schwere […][,] nach Geborgenheit in einem Gehäuse (Gemeinschaft, Staat, Nation etc.).“ (152) nach einer unmittelbaren, „nicht distanzierbaren“ (136) Verbundenheit und Ergriffenheit. Diese müssen unverrückbar und total sein. (vgl. 154) Eine die subjektive Willkür übersteigende, bindende ‚Sache‘, ‚Aufgabe‘ oder das objektive, undiskutierbare Kriterium für das eigene Handeln, werden dabei aber Großheim zufolge vom Subjekt willkürlich gewählt, weil es eben kein Kriterium zwanglos zwingender, vernünftiger Art mehr angeben kann und auch nicht mehr naiv im Glauben an irrationale Mächte steht. Daher die eigentümliche Inhaltsleere all der verbindlichen Substanzen,
Konflikte und Krisenursachen in projektiver Weise auf innere und äußere Feinde projiziere.209 Durch die Art, wie diese politische Einheit zustande kommt und sich erhält, ist also zugleich die Ewigkeit der Feindschaft gesichert. Armin Steil bestätigt diese Diagnose und betont dabei auch die besondere Bedeutungsebene (b). Er charakterisiert einen Grundzug der faschistischen Ideologie als „imaginäre Aufhebung“ der „ökonomische[n], politische[n] und kulturelle[n] Vereinzelung“ 210 der Individuen im Kapitalismus, dessen Zwecke sich vollends von den Bedürfnissen der Einzelnen emanzipiert hätten.211 Das Imaginäre stelle die
„zugleich fiktive und doch real erlebte und gelebte Präsenz des Sinns inmitten der Sinnlosigkeit, […] gelebte Autonomie in unveränderten Verhältnissen der Fremdbestimmtheit [dar], […] erlebte Identität der Zwecksetzungen und Bedürfnisse mit den entfremdeten gesellschaftlichen Formen, in denen sie zugleich kompensatorische Verwirklichungsmöglichkeiten finden“.212
Eine wichtige Rolle spielten dabei „Rituale[…] und Praxisformen, in denen die fiktive Sinnwelt als unmittelbar präsent erlebt wird“.213 Real erlebt wird eine fiktive, weil die sozialen Widersprüche und Krisen nicht aufhebende, harmonische Gemeinschaft und eine fiktive, weil keine rationale und effektive Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen erlaubende, Handlungsfähigkeit. Eine Moral des ‚Ernstes‘ und der ‚Erhabenheit’ als Bejahung von Askese, Selbstüberwindung und -opferung, ihre Ästhetisierung von harter Arbeit und Kampf gelten dabei als Kern faschistischer imaginärer Sinnproduktion:
Werte, Mythen, Normen, Seinsgründe, Glaubenssätze usf., die beschworen werden. „Der angestrengte Wille zur Bindung“ ist demnach ein wesentliches Kennzeichen des politischen Existentialismus: „Das Problem liegt sozusagen in dem Satz ‚ich will mich binden lassen‘ oder ‚ich will gebunden werden‘.“ (155) Schmitt versucht dieses Dilemma zu kaschieren, indem nur der Souverän diese Substanz bestimmen können soll, an die er vermeintlich selbst gebunden ist und seine Untertanen bindet. Für den Untertanen ist damit die Wahl ausgeschlossen. Der vom Souverän ausgerufene Ausnahmezustand und „das Auftauchen des Feindes“, so Großheim, sind „Gelegenheiten, in denen plötzlich auftretende personale Regression die Tendenz zur endlosen personalen Emanzipation aufhebt und dem Subjekt wieder ein unverfügbares und damit gefestigtes Sosein verschafft“ (162f.).
209 Vgl. dazu Fromm 1989c und 2000; Adorno 1993a, Rensmann 1998.
210 Steil 1984, 13.
211 Das bemerkt Schmitt, wie gezeigt, bereits in seiner Frühschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen und affirmiert diese Entwicklung, vgl. WS, 90f.
212 Steil 1984, 21. Hier sind Überschneidungen zu Cassirers Theorie des Mythos zu konstatieren, vgl. Fn. 131.
213 Steil 1984, 21. Vgl. ebd., 165: Der Faschismus ermögliche nicht nur in seinen Massenaufmärschen und Totenkulten „[d]as sinnliche, unmittelbare Erlebnis der Volksgemeinschaft“. Walter Benjamin (1992, 44) spricht in diesem Zusammenhang 1936 von der „Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt“. Dass die Massen hier „zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen“, wie Benjamin meint (42), weist darauf hin, dass sie „an der Staatsdarstellung“ mitwirken, von der „Staatsführung (in der Perspektive des Staatsabbaus)“, also von kollektiver Handlungsfähigkeit, aber ausgeschlossen bleiben (Behrens 1980, 106; vgl. auch Hirsch 2007, 60f.). Zur Produktion der Erfahrbarkeit volksgemeinschaftlicher Einheit durch Teilnahme an antisemitischer Gewalt, die zugleich mit konformistischer Regelverletzung das Gefühl von Wirkmächtigkeit vermittelt, vgl. die instruktive Studie von Wildt 2003.
„In den Bereichen der Arbeit und vor allem des Krieges schafft sich der Faschismus seine eigene ‚künstliche Welt’, in der die Erfahrung der Selbstbestimmung möglich ist – allerdings nur in der Form negativer Selbstbestimmung. Die harte, entbehrungsreiche Arbeit und – noch mehr – die Todesgefahr im Krieg stellen die Individuen vor die Entscheidung zur Selbstüberwindung und Selbstopferung“.214
So ungeheuerlich es klingt, allein die Möglichkeit des Tötens und Getötet- Werdens verleiht der menschlichen Existenz dieser Weltanschauung zufolge Inhalt und Ernst. Politisches und Krieg haben nur die politische Spannung des menschlichen Lebens aufrecht zu erhalten, die aber wieder auf die reale Möglichkeit des Krieges verweist und dieser Möglichkeit ihre Existenz verdankt. Nichts widert Schmitt offenbar mehr an, als das Beharren auf Glücksansprüchen des Individuums gegen eine vollends nichtlegitimierbar gewordene Welt politischer und ökonomischer Strukturen: „Die, deren reale Ohnmacht andauert“, schreibt Adorno, „ertragen das Bessere nicht einmal als Schein“.215
In einer Fußnote zur dritten Auflage des Begriffs des Politischen von 1933 und dem kurzen Artikel Politik aus dem Jahr 1936 weicht Schmitt scheinbar von dieser Sinngebung des Politischen ab. Im Gegensatz zur Auffassung eines „Nichts-als- Kriegertums“ im heroischen Realismus Ernst Jüngers, werde der Krieg der „politischen Ansicht“ gemäß „des Friedens wegen geführt“ (P, 137), bzw. zwecks „Herbeiführung von Herrschaft, Ordnung und Frieden“ (BP3, 10). Aber auch hier darf man sich nicht in die Irre führen lassen, zeigt doch der Hinweis darauf, dass diese politische Ansicht auch der „auf den Frieden gerichteten […] Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler zugrunde liegt“ (P, 137), die offenbar zeitbedingte, politstrategische Ausrichtung dieser Ausführungen, die zudem sämtlichen anderen Aussagen in Schmitts Begriff des Politischen widersprechen. Schmitts Sätze sind genauso lügenhaft wie Hitlers ‚Friedenspolitik‘ Mitte der 30er Jahre. Es gibt aber noch einen gewichtigeren Grund für diese Ablehnung Jüngers: Dass Schmitt im „agonale[n] Prinzip“ Jüngers den Gegner nur als „‘Antagonist[en]‘, Gegenspieler [!] oder Gegenringer, nicht [als] Feind“ (BP3, 10) auftreten sieht, deutet an, dass er in Jüngers Haltung offenbar ein gewisses Maß an politischer Romantik oder zumindest romantischer Politik (vgl. PR, 152f.) identifiziert, ihm hier zu sehr das den Krieg als Gelegenheit betrachtende Individuum im Mittelpunkt steht. Jünger scheint Schmitt noch zu sehr mit „produktive[r] Ironie“216
214 Steil 1984, 47f. Vgl. auch Arendt 1998, 710f., die das Fronterlebnis als „Erfahrung einer ständigen, zerstörerischen Aktivität im Rahmen einer durch keine Aktion abzuwehrenden Fatalität“ beschreibt. Die weltanschaulichen Bewältigungsversuche von „Tod, Schmerz, Angst, Verstümmelung, der mörderischen Gleichheit und der völligen Bedeutungslosigkeit des einzelnen“ im Ersten Weltkrieg rückt auch Michael Wildts Studie über das des Personal des Reichssicherheitshauptamts in den Blick (Wildt 2008, 848). Zum kriegerischen Homogenitätserlebnis vgl. auch Greiffenhagen 1986, 264.
215 Adorno 1993a, 23.
216 Großheim 2002, 180. Der produktiven Ironie („sich auf alles entwerfen können“) steht Großheim zu Folge notwendig die „rezessive Ironie“ zur Seite („sich aus allem zurückziehen können“ (ebd., 34). Von dieser Haltung unterscheidet er die wirkliche politexistentialistische „Konversion“, die er als „den Wechsel vom ironischen Spiel in feste Gehäuse“ (171)
behaftet zu sein, in der das Subjekt nur äußerlich und schwankend mal diese, mal jene Bestimmung annimmt, sich zugleich davon stets souverän distanzierend. Dagegen soll bei Schmitt der Einzelne mit Haut und Haar vom politischen Souverän ergriffen sein und zugleich ‚wirkliche‘ Feinde, vorrangig Feinde des Politischen, bekämpfen
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