3. Substanzieller Dezisionismus – Verfassung, Verfassungssubstanz und Volkssouveränität
Im Folgenden soll der Zusammenhang von Schmitts politischer Theorie und Rechtstheorie untersucht werden. Hier kann von einer offensiven Politisierung des Rechts gesprochen werden, die für die Stellung des Individuums als Rechtssubjekt fatale Konsequenzen hat. Schmitts rechtstheoretisches Denken wird dabei zwar korrekterweise mit dem Begriff des Ausnahmezustands und des Dezisionismus in Verbindung gebracht. Bisweilen wird dabei aber unterschlagen, dass er zugleich augenscheinlich naturrechtlich argumentiert und ihm nichts mehr zuwider ist als der „Formalismus“ des Kelsenschen Rechtspositivismus. Das Individuum ist in diesem „Naturrecht“ allerdings kein normativer Ausgangs- oder Bezugspunkt mehr. Vielmehr steht es unter Vorbehalt eines höheren „Rechts“subjekts, des Staates oder des Volkes, das zudem irrationalistisch konzipiert wird. Angesichts dieser eigentümlichen Verbindung von Dezisionismus und Naturrecht ist der Begriff des „substanzielle[n] Dezisionismus“,245 den Hubert Rottleuthner für das NS-Rechtsdenken geprägt hat, eine zunächst paradox anmutende, aber treffende Bezeichnung für das Schmittsche Zusammendenken von Politik und Recht. So kann eine starke Kontinuität in Schmitts Denken konsta-
Ausstattung des Menschen“ (Mouffe 2007, 34). Auch die „Apologie des Konflikts“, der freilich inhaltlich völlig entleert wird, bzw. der Konflikt als „Selbstzweck des Politischen“ eint Schmitt und seine postmodernen Adepten, worauf Michael Hirsch treffend hinweist (Hirsch 2009, 207).
241 Vgl. ausführlich Elbe/Ellmers/Eufinger 2012; Elbe 2012, 172-178; Elbe 2010b, Teil 2; Heinrich 2012; Wallat 2012, 155-169; Wolf 2005.
242 Für Schmitt gilt entweder: Herrschaft des Rechts=Herrschaft der positiven Gesetze= Legitimierung des status quo=der Herrschaft derjenigen, denen dieser Zustand nützt oder: Herrschaft des Rechts=Herrschaft des Naturrechts=gegen positives Recht gestellter Herrschaftsanspruch derjenigen, „die sich auf das höhere Recht berufen können und darüber entscheiden, was sein Inhalt ist“ (BP, 66). Mit der letzten Variante hat er übrigens präzise seine eigene Programmatik beschrieben, vgl. dazu den folgenden Abschnitt 3). 243 Vgl. Breuer 1985, 195.
244 Scheit 1999, 11.
245 Rottleuthner 1983, 20.
tiert werden,246 die sich um das Programm einer rechtstheoretisch fundierten und politisch praktizierten Entmachtung des parlamentarischen Gesetzgebers und des einzelnen Rechtssubjekts dreht – zugunsten einer autoritär umgedeuteten und mit einem irrationalistischen Gemeinschaftsnaturrecht verbundenen (Volks-)Souveränität. Immer wieder begegnet dabei folgende Argumentationsstruktur: Es gibt vorpositive Rechtsquellen (absolute Norm, wahrer Wille des Volkes, konkrete Ordnung, politisches Sein, Lebensrecht des Volkes), die wahlweise von den Juristen, dem Reichspräsidenten oder dem Führer existenziell erkannt und repräsentiert sowie gegen die Anmaßungen ‚zufälliger‘ Mehrheitsentscheide und ‚formalistischer‘ Rechtsauffassungen geltend gemacht werden. Was als wahrer Wille des Volkes, konkrete Ordnung, Substanz der Verfassung usf. gilt, entscheiden also die genannten Instanzen und Personen.247
3.1 Existentieller Verfassungsbegriff
Diese Argumentationsstruktur soll zunächst anhand von Schmitts Verfassungstheorie verdeutlicht werden, in deren Rahmen er sein ‚existenzielles‘ Programm gegen ‚normativistisches‘ Denken in Anschlag bringt. Zwar formulieren beide Ansätze einen, wie er sich ausdrückt, absoluten Verfassungsbegriff, der sich vom Verständnis der Verfassung als bloßer Summe einzelner Gesetze unterscheidet, also absolut genannt wird, weil er „ein […] Ganzes angibt“, auf das die politische Einheit als Einheit bezogen ist. Doch während der Normativismus diese Einheit als „ein geschlossenes System von Normen“, eine „gedachte, ideelle Einheit“ fasse, beziehe sich der Existenzialismus auf die „besondere, konkrete Art und Form der staatlichen Existenz“. Hier bezeichne Verfassung einen „Gesamtzustand“, eine „konkret existierende“ Einheit des Politischen (VL, 3). Der Normativismus verstehe unter Verfassung also ein „einheitliches, geschlossenes System höchster und letzter Normen (Verfassung = Norm der Normen)“ (7). Sie sei etwas wesentlich Gesolltes – der Staat werde „zu einer auf der Verfassung als Grundnorm248 beruhenden Rechtsordnung […] Alle anderen Gesetze und Normen müssen auf diese eine Norm zurückgeführt werden können“ (7). Wir wissen schon durch Kelsens Unterscheidung von statischer und dynamischer Rechtsordnung, dass
246 Meuter arbeitet heraus, „daß Schmitt – allem dezisionistischem Habitus zum Trotz […] von Anfang an eine spezifische Art von Ordnungsdenken im Sinn hatte“ (Meuter 2000, 6). „Das konkrete Ordnungsdenken [von 1934ff.] bewahrt den Anspruch eines ‚Naturrechts ohne Naturalismus‘, den Schmitt bereits 1914 […] aufgestellt hatte.“ (11) So „war“, wie auch Hofmann konstatiert, „Schmitts Dezisionismus niemals […] konsequent. […] Er verlangte vielmehr von Anfang an nach der autoritären Bestimmung eines substanziellen […] Ordnungsprinzips“ (Hofmann 2002, 172). Zwar ist im Wert des Staates von Volkssouveränität noch nicht die Rede, aber auch dort entscheidet ein mit dem Rechts-Staat geradezu verschmolzener jeweiliger Regierender. Schmitts Bezug auf Normen im Wert des Staates entspricht sein Bezug auf substanzhafte Werte im späteren Werk. Beide haben die Funktion, das autoritär reklamierbare ‚Recht‘ einer übersubjektiven Einheit gegen die Individuen geltend zu machen; zu dieser Kontinuität vgl. Maus 1980, 85f., Otten 1995, 44f., Hirsch 2007, 42 und Teschke 2011, 77ff.
247 Vgl. bereits Fraenkel 1974, 38, 175, 177.
248 Schmitt unterscheidet hier nicht zwischen höchster positiver Norm und Grundnorm als ‚Verfassung‘ im rechtslogischen Sinn.
diese Zurückführung auf zweierlei Weise geschehen kann, die Schmitt als konsequenten und entleerten Normativismus kennzeichnet: Beide Varianten bezeichnen ihm zufolge die Verfassung „als ‚souverän‘“, was zwar eine „unklare Redensart“ sei (7), aber hinsichtlich des konsequenten Normativismus noch einen politischen Sinn ergebe. Dessen Topos einer Herrschaft des Gesetzes habe den konkret- historischen Sinn, „das Gesetz mit seinen Garantien der bürgerlichen Freiheit und des Privateigentums über jede politische Macht zu erheben.“ (8) Dies sei „die typische Antwort der Liberalen“, die damit ihren Zweifrontenkrieg gegen Absolutismus und Demokratie führten. Die Idee der Herrschaft der Norm/des Gesetzes repräsentiere also die Herrschaft des Bürgertums und einen inhaltlich gefüllten Normativismus, dem Schmitt noch etwas abgewinnen kann – er spricht von der „richtigen Erkenntnis, daß eine Norm nur insoweit ‚souverän‘ heißen kann, als sie nicht positiver Wille und Befehl, sondern das rational Richtige, Vernunft und Gerechtigkeit ist, also bestimmte Qualitäten hat; denn sonst ist eben derjenige, der will und befiehlt, souverän.“ (8) Zwar ist für Schmitt die Herrschaft einer Norm eine falsche Vorstellung und mit ‚Gerechtigkeit‘ wird für ihn offenbar nur ein partikulares politisches Programm bezeichnet. Werde sie aber in einer konkreten Situation als politischer Kampfbegriff des Bürgertums „gegenüber der persönlichen Willkür des Dezisionisten“ (DA, 12)249 verwendet, so eigne ihr eine bestimmte historische Legitimität. Die Natur- und Vernunftrechtssysteme des 17. und 18. Jahrhunderts begreift Schmitt jedenfalls deshalb als „konsequente Normativität“ (VL, 9), weil sie die positiven Rechtsordnungen auf ein System inhaltlicher Normen als Geltungsgrund zurückführen oder diesen positiven Rechtsordnungen den Charakter der Geltung absprechen
Dem gegenüber stehe die entleerte Normativität des normativistischen Rechtspositivismus Kelsens. Diesem zufolge gelten die Rechtsnormen „ohne Rücksicht auf Qualitäten wie Vernünftigkeit, Gerechtigkeit usw.“. Schmitt zufolge verliert aber eine Theorie, die eine inhaltsleere Grundnorm als Geltungsgrund aller weiteren positiven Verfassungsnormen unterstellt, bzw. lediglich den Inhalt hat: ‚Den Befehlen des ersten Verfassungsgebers ist zu gehorchen‘/‘x ist zur Verfassungsgebung befugt‘, ihren normativistischen Charakter und wird zur reinen Machttheorie, zur „Tautologie einer rohen Tatsächlichkeit“ (9). Damit bleibe nur die Alternative konsequenter Normativismus oder existenzielle Verfassungstheorie:
„Eine Norm kann gelten, weil sie richtig ist; dann führt die systematische Konsequenz zum Naturrecht und nicht zur positiven Verfassung; oder eine Norm gilt, weil sie positiv angeordnet ist, d.h. kraft eines existierenden Willens.“ Aber: „Zu sagen, daß eine Verfassung nicht wegen ihrer normativen Richtigkeit, sondern nur wegen ihrer Positivität gelte und trotzdem als reine Norm ein System oder eine Ordnung von reinen Normen begründe, ist eine widerspruchsvolle Verwirrung.“ (9)
249 Man könnte einwenden, an dieser Stelle werde Schmitts konkretes Ordnungsdenken aus dem Jahr 1934 fälschlicherweise mit seiner Verfassungslehre aus dem Jahr 1928 vermischt. Allerdings wird sich zeigen, dass hier keine Vermischung heterogener Theoriemodelle, sondern eine inhaltliche Kontinuität vorliegt.
Gerade wegen der (aus dessen konkreter Feindbestimmung resultierenden) Hochschätzung des klassischen neuzeitlichen Naturrechts hält Schmitt daran fest, dass „das Gesetz […] mit dieser ‚Herrschaft des Gesetzes‘“ lediglich „die konkrete Königs- oder Führer-Ordnung“ zerstöre: „die Herren der Lex unterwerfen den Rex.“ (DA, 13) Auch hier erweise sich der Topos einer Herrschaft des Gesetzes als Verschleierung der Tatsache, dass „richtigerweise […] nur etwas konkret Existierendes, nicht eine bloß geltende Norm souverän sein“ kann (VL, 7), weil eine Norm sich nicht selbst setze (9). Der ‚existenzielle‘ Geltungsgrund der Verfassung, der diese bei allem Rekurs auf einen „konkrete[n] Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung“250 (4) zumindest auch als Normensystem konstituieren muss, da ansonsten der Sinn der Rede vom Gelten unerfindlich bliebe, besteht Schmitt zufolge nun im Willen der politischen Einheit. Diese „seinsmäßige Größe“ betrachtet er „als den Ursprung eines Sollens“: „In Wahrheit gilt eine Verfassung, weil sie von einer verfassunggebenden Gewalt (d.h. Macht oder Autorität) ausgeht und durch deren Willen gesetzt ist.“ (9) Ein ‚konkretes‘ Subjekt stiftet die Einheit, die somit kein systemisches oder anonymes Resultat ist.251 Der hier angesprochene Geltungsgrund wird im Folgenden noch zu untersuchen sein. Vor allem stellt sich die Frage, ob Schmitt nicht in die Machttheorie des Rechts zurückfällt, die er am Rechtspositivismus Kelsens letztlich auch kritisiert. Geht also bei Schmitt im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses aus einem Sein ein Sollen hervor oder steht hinter dem Willen noch ein Sollen, gar eine überpositive Norm? Was genau bedeuten die Kategorien Wille, Macht und Autorität?
Zunächst müssen aber Schmitts Vorbehalte gegen einen relativen Verfassungsbegriff erläutert werden. Sein Plädoyer für ein existenziell-absolutes Verfassungskonzept bezieht seine Plausibilität aus der Suche nach dem positivrechtlichen Einheitsgrund der Weimarer Reichsverfassung. Diese bestehe aus einem widersprüchlichen Konglomerat einzelner Verfassungsgesetze, dessen Einheitsgrund daher in einem metarechtlichen Prinzip zu suchen sei. Werde dieses Prinzip geleugnet, so verbleibe nur ein relativierter Verfassungsbegriff. Weil im Rahmen des normativistischen Paradigmas der Glaube an naturrechtliche Fundamente vergangen sei, reduziere sich die Verfassung hier letztlich doch auf „eine unsystematische Mehrheit oder Vielheit verfassungsgesetzlicher Bestimmungen“ (11), die die Signatur kontingenter politischer Kräfteverhältnisse trügen und keineswegs immer den Status „echte[r] Fundamentalbestimmungen“ (12) hätten. Alle Verfassungsbestimmungen würden auf den Status einfacher Verfassungsgesetze „herabgedrückt“ (12) und so – zumindest gemäß Weimarer Reichsverfas-
250 Diese Beschreibung des existenziellen Verfassungsbegriffs ist so vage, dass man das Vorhandensein eines Informationsgehalts durchaus in Zweifel ziehen kann. Je mehr mit dem Wort ‚konkret‘ hantiert wird, desto abstrakter gerät die ganze Veranstaltung.
251 Vgl. Breuer 1985, 195: Schmitt versuche, eine politizistische und personalistische Sozialontologie, die „Kohärenz und Einheit nur als Leistung eines Subjekts zu denken vermag“, in Zeiten apersonaler Herrschaft und Dezentrierung des Politischen zur Anwendung zu bringen.
sung (WRV) Artikel 76252 – zur Disposition des demokratischen Gesetzgebers gestellt. Der einzige Unterschied zu nichtverfassungsgesetzlichen Normen sei dann die erschwerte Abänderbarkeit nur mit Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments (16f.). An dieser Stelle wird Schmitts Kritik der Formalisierung der Verfassung zum jederzeit änderbaren „Provisorium“ (19) in ihrer antiparlamentarischen Stoßrichtung erkennbar. Soll die Verfassung nicht zur Disposition des wirklichen, kompromisshaften, im Parlament artikulierten Willens stehen, muss der geltungsbegründende Wille zum Ausdruck der vorverfassungsmäßigen Volkssouveränität metaphorisiert und hypostasiert werden. „Die Einheit des Deutschen Reichs“ beruht dann nicht auf den Artikeln der WRV, sondern der „vorausgesetzte[…] einheitliche[…] Wille des deutschen Volkes“ begründet diese. (10) Der einheitliche Wille der der Verfassung vorausgehenden Entität namens ‚deutsches Volk‘ artikuliere sich als Substanz der Verfassung, die von der Summe der einzelnen Verfassungsgesetze zu unterscheiden sei und eine verfassungsinterne Werthierarchie einführe. Verfassung und Verfassungsgesetz sind dann nur zu unterscheiden, „weil das Wesen der Verfassung nicht in einem Gesetz oder einer Norm enthalten ist“ (23), sondern in der politischen Entscheidung des souveränen Volkes. Für die WRV seien solche Entscheidungen: Demokratie, Republik, parlamentarisch- repräsentative Form der Gesetzgebung, bundesstaatliche Struktur und bürgerliche Rechtsstaatlichkeit, die expliziert wird als „Entscheidung im Sinne der bürgerlichen Freiheit: persönlicher Freiheit, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Handel- und Gewebefreiheit usw.“ (125)253 Es seien die „Präambeln, in welchen die politische Entscheidung besonders deutlich […] ausgesprochen ist“ (25). Deren Bestimmungen,
„Sätze wie: ‚Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben‘; ‚die Staatsgewalt geht vom Volke aus‘ […] sind überhaupt keine […] Verfassungsgesetze […] Sie sind mehr als Gesetze und Normierungen, nämlich die konkreten politischen Entscheidungen, welche die politische Daseinsform des deutschen Volkes angeben“ (24).
Weil das Parlament die Verfassung nicht gegeben hat und deren bloßes Organ sei, so scheint Schmitt nahezulegen, könne es die Verfassung als solche auch nicht rechtmäßig radikal verändern. Da die Verfassungssubstanz nicht eine Summe verfassungsgesetzlicher Einzelbestimmungen sei, die gemäß §76 WRV vom Gesetzgeber revidiert werden könne (24)254, sei die existenziell tiefer gelegte
252 Artikel 76, Absatz 1 lautet: „Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich.“
253 Schmitt betont, dass „es keinen bürgerlichen Rechtsstaat ohne Privateigentum geben kann“ (VL, 172). Unklar bleibt der Status der Grund- und Freiheitsrechte in dieser Konstruktion. Vgl. Hofmann 2002, 120.
254 Die Hauptvertreter der These einer Änderbarkeit jedes Verfassungsartikels durch qualifizierte Parlamentsmehrheit waren in der Weimarer Republik Richard Thoma und Gerhard
Totalentscheidung für eine bestimmte Form der politischen Einheit eben nur vom Volk selbst, nicht vom Parlament zu revidieren:
„Das Deutsche Reich kann nicht durch Zweidrittel-Mehrheitsbeschluß des Reichstages in eine absolute Monarchie oder eine Sowjet-Republik verwandelt werden. […] nur der direkte, bewußte Wille des ganzen […] Volkes könnte solche fundamentalen Änderungen begründen“ (26).
Da aber das Volk, wie Schmitt betont, nur bestenfalls akklamierende und beauftragende Gewalt sei, die ‚existenziell‘ repräsentiert werden müsse, z.B. durch einen Führer, wird der antidemokratische Gehalt seiner Volkssouveränitätslehre sichtbar. Nicht das Parlament, sondern nicht durch eine Wahl ‚legitimierte‘ elitäre Akteure sollen die verfassungsgebende Gewalt sein, die ständig über der Verfassung verbleibe.255 Verfassungsgebung und Verfassungsänderung sind demnach qualitativ ebenso verschieden, wie Konstituante und Parlament: Einzelne Verfassungsgesetze können durch Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments geändert werden, die Verfassungssubstanz „ist durch einfachen Mehrheitsbeschluß einer ‚verfassunggebenden Versammlung‘ zustande gekommen, die natürlich nicht kraft eigenen Rechts, sondern nur Kraft unmittelbaren speziellen Auftrags“ handeln konnte (26). Auf diesen Begriff der Volkssouveränität komme ich noch zurück. Das Votum für eine Beschränkung der parlamentarischen Befugnis zur Verfassungsänderung muss aus dem politischen und rechtsphilosophischen Kontext der Zeit verstanden werden. Missverständnisse sind sonst vorprogrammiert, zumal solche Beschränkungen in der Bundesrepublik im Gegensatz zur Weimarer Verfassung selbst Verfassungsrang erhalten haben (Art 79, Abs. 3 GG) und Schmitt sich selbst bis 1932 noch zum Verteidiger der Weimarer Verfassung stilisiert, der gegen ihre eigenen ‚formalistischen‘ und auf Selbstdestruktion durch verfassungsfeindlich gesinnte Mehrheiten hinauslaufenden Elemente einen substanziellen Wertekanon verteidigt, der im zweiten Hauptteil der Verfassung zu finden sei (LL, 44f., 91). Was aber als plausibles Argument zwecks Minderheitenschutz256 (41) und ‚wehrhafter‘ Demokratie (47) daherkommt, ist tatsächlich ein prinzipieller Versuch, bestimmte Rechtsinstitute der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Möglichkeiten legaler Verfassungsänderungen durch demokratische Institutionen zu immunisieren: „Man kann nicht“, wie Schmitt gegen die WRV gewendet feststellt, „die Ehe, die Religion, das Privateigentum feierlich unter den Schutz der Verfassung stellen und in ein und derselben Verfassung die legale Methode zu ihrer Beseitigung offerieren.“ (45) Zugleich wird, je nach Werkphase, einem diffusen Volk, Richtern, Rechtswissenschaftlern oder dem Reichspräsidenten überlassen, welche Verfassungssubstanz gegen das Parlament in Anschlag zu bringen ist. Die Kelsen-Schülerin Margit Kraft-Fuchs kritisiert Schmitts Vorge-
Anschütz (vgl. Stolleis 2002, 113). Dagegen betont Schmitt: „Im Wege des Art. 76 RV können Verfassungsgesetze, kann aber nicht die Verfassung als Ganzes geändert werden.“ (VL, 25)
255 Vgl. Maus 1980, 58.
256 Zur Irrelevanz dieses Topos bei Schmitt vgl. Meuter 1994, 157f. Stolleis betont zugleich, dass Schmitts wichtigster Schüler Ernst-Rudolf Huber bereits 1932 ein Plädoyer gegen die den Einzelnen schützenden Elemente der Grundrechte formuliert (Stolleis 2002, 112).
hen, „einen willkürlich herausgegriffenen Teil der positiv gesetzten Verfassungsgesetze mit der Verfassung schlechthin zu identifizieren und nur den anderen Teil zu relativieren.“257 Entgegen Schmitts Behauptung seien
„der Vorspruch, Artikel I und II, die Entscheidung für eine parlamentarischrepräsentative Form der Gesetzgebung und für den bürgerlichen Rechtsstaat […], wie auch die übrigen Artikel der Verfassung, positivrechtliche Normen und können daher durch Artikel 76 der Weimarer Verfassung rechtlich geändert werden.“
Wäre dies nicht der Fall, ginge „der Sinn der demokratischen Verfassung – die Möglichkeit zur Verwirklichung des jeweiligen Volkswillens“258 verloren. Der Reinen Rechtslehre zufolge gebe es zwar auch eine Verfassung im überpositiven, rechtslogischen Sinne – die Grundnorm, die „vorausgesetzt werden muß“.259 Diese besage aber lediglich, dass den Anweisungen des Verfassungsgebers gehorcht werden solle, also dass der jeweilige Verfassungsgeber auch zur Verfassungsgebung befugt sei. Für die WRV bedeutet dies, dass eine rechtmäßige Verfassungsänderung gemäß Art. 76 WRV ihre Grenze in der das Volk zur Verfassungsgebung befugenden Grundnorm finde. Ansonsten könne aber jeder einzelne positivrechtliche Artikel der Verfassung durch Zweidrittel-Mehrheit geändert werden: „Das Entscheidende ist, daß der ‚Wille des Volkes‘ als Gesetzgeber eingesetzt bleibt. Es ist nicht einzusehen, warum der Wille des Volkes die bürgerliche Republik nicht in eine sozialistische verwandeln könne sollte“.260
Um dies zu verhindern, identifiziert Schmitt in Legalität und Legitimität drei „außerordentliche[…], übergeordnete[…] neben einem ordentlichen, untergeordneten Gesetzgeber“ (LL, 58): Die „überlegale Würde“ (56) der „sachinhaltlich und substanzlich gedachten Aufstellungen des zweiten Verfassungsteils“ (45), der Plebiszit261 (58) und der Reichspräsident als „Aktionskommissar der abnormen Lage“ (66) stehen über dem Parlament. Dieses muss also entweder ausgeschaltet oder vor seiner eigenen Dynamik geschützt werden. Schmitts Parlamentarismuskritik funktioniert dabei nach einem ebenso simplen wie suggestiven Muster: Im 19. Jahrhundert sei das Parlament eine vertrauenswürdige Institution gewesen, gegenüber der die Legitimitätsunterstellung berechtigt gewesen sei, der Volkswille repräsentiere die Vernunft und das Parlament repräsentiere durch rationale Debatte den ‚wahren‘ Volkswillen.262 Im Zeitalter der Massendemokratie aber
257 Kraft-Fuchs 1930, 530.
258 Ebd., 532.
259 Ebd., 533.
260 Ebd.
261 Vgl. dagegen Di Fabio 2004, 642, 644: „Wenn das Volk sich in Abstimmungen hoheitlich artikuliert, etwa Gesetzesbeschlüsse faßt, so wird öffentliche Gewalt ausgeübt, die allen verfassungsgesetzlichen Bindungen unterliegt.“ „Das im Volksbegehren und Volksentscheid organisierte Volk ist nicht der allem vorausliegende pouvoir constituant, sondern weiterer Mitspieler im verfassungsrechtlichen System der Gewaltenteilung.“ 262 Konkret bestehe das Legitimitätsprinzip des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats in folgender Gleichung: Recht = Vernunft/Gerechtigkeit = wahrer, homogener Volkswille = Mehrheitswille = parlamentarischer Mehrheitswille qua rationaler Debatte = Gesetz (vgl. LL, 24-27). Das „Vertrauen auf die Vernunft und Gerechtigkeit des Gesetzgebers selbst und
bestehe die „rein funktionalistische[…] Denkweise, Recht und Gesetz ohne Beziehung zu irgendeinem Inhalt als den jeweiligen Beschluß der jeweiligen Parlamentsmehrheit aufzufassen“ (28), weshalb der Begriff des Rechts antipositivistisch vom Gesetzesbegriff emanzipiert und diesem übergeordnet werden müsse. 263 Parlamentarismus ist also solange buchstäblich ‚in Ordnung‘, wie er die ‚richtigen‘ Entscheidungen produziert. Diese ideologische Operation nennt Ingeborg Maus treffend die
„spätbürgerliche[…] Hypostasierung eines ‚rationalen’ Rechtsbegriffs im Sinne einer inhaltlichen Vorentscheidung für die gleichen Interessen, die vorher im Gesetz als dem Endpunkt einer ebenso ‚rationalen’ Diskussion des noch klassenhomogenen Parlaments ihren Niederschlag gefunden hatten.“ 264
Michael Stolleis weist schließlich darauf hin, dass Schmitt zwar tatsächlich noch 1932 das autoritäre Präsidialsystem gegen verfassungsfeindliche parlamentarische Kräfte verteidigen wollte, es aber dieses System und der Artikel 48 WRV gewesen sei, das zum „Einfallstor“ für die Zerstörung der Republik wurde,265 keineswegs aber der Artikel 76
„So ergab sich die paradoxe Lage, daß diejenigen, die Republik und Demokratie in ihrer verfassungsmäßigen Form erhalten wollten, gegen eine Beschränkung der Verfassungsänderung auftraten, während ein Großteil derjenigen, denen die Republik wenig erhaltenswert erschien, die ‚Grenzen der Verfassungsänderung‘ betonten.“266
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