3.2 Faschistische ‚Demokratie‘
Schmitts Verfassungstheorie, die er als Theorie demokratischer Verfassungsgrundlagen und demokratischer Legitimität versteht,267 kann schematisch wie folgt dargestellt werden:
aller am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Instanzen“ (23) sei damit der konstitutive Legitimitätsglaube.
263 Seine Parlamentarismuskritik ist also zugleich eine Kritik am Rechtspositivismus unter parlamentarisch-demokratischen Bedingungen.
264 Maus 1980, 44.
265 Vgl. auch Teschke 2011, 77ff. sowie Meuter 1994, 146Fn., der gegen die Schmitt-Apologetik feststellt, „daß die Option für eine Variante nicht dasselbe ist wie die Option für eine Alternative zu demjenigen Regime, das dann auch tatsächlich zur Herrschaft kam.“ Zudem sei es zur Einschätzung des Schmittschen substanziellen Dezisionismus entscheidend, „zu welchen politischen Zwecken“ er sich „verwenden läßt, ohne mißbraucht zu werden.“ (147) Und hier sei klar, dass Schmitts antilegalistisches „Begriffsinstrumentarium“ zur Legitimation der Röhm-Morde 1934 genauso einsetzbar gewesen sei wie zur Abwehr der NSLegalitätsstrategie vor 1933.
266 Stolleis 2002, 114.
267 Nur eine demokratische Verfassung habe im Volk seine Legitimationsgrundlagen, während die monarchische Legitimität sich vor allem theologisch oder patriarchalisch begründe: der Monarch als von Gott her bzw. gottgleich oder der Monarch als Vater des als Familie aufgefassten Staates bzw. dynastisch von einem solchen Vater her legitimiert (VL, 282f.). Nicht das Volk, sondern der Monarch werde hier als Quelle der Verfassung betrachtet, die über der Verfassung verbleibe (286).
Volk über der Verfassung
als formlos formende Einheit = politisches Sein, das Wille zur politischen
Einheit enthält = Rechtfertigung durch pure Existenz
↓
Verfassungsgebung als bewusste „Totalentscheidung“ durch ‚außerordentliche
Repräsentanten‘ über Art und Form der Existenz der politischen Einheit
↓
Verfassung im positiven Sinne
(Verfassungssubstanz/-einheit)
↓
Verfassungsgesetze und einfache Gesetze
↓
Volk in der Verfassung
„Urgrund“ und „Quelle“ (VL, 79) der Verfassung sei das Volk über der Verfassung, das den Willen zur politischen Einheit enthalte (76, 95). Volk bezeichne zunächst „eine irgendwie ethnisch oder kulturell zusammengehörige, aber nicht notwendig politisch existierende Verbindung von Menschen“ (79). Werde diese sich als handlungsfähiges Subjekt in seiner wie auch immer gearteten Besonderheit bewusst, so existiere das Volk als Nation. Nation ist also „das Volk als politischaktionsfähige Einheit mit dem Bewußtsein seiner politischen Besonderheit und dem Willen zur politischen Existenz“ (79) (vgl. auch 50, 231) und diese Einheit erkennt sich als Besonderes nur im Gegensatz zum Feind. In seiner Parlamentarismusschrift bestimmt Schmitt dieses ‚Sonderbewusstsein‘268 als „Nationalgefühl“, das folgende Elemente beinhalte: „die mehr naturhaften Vorstellungen von Rasse und Abstammung […]; dann Sprache, Tradition, Bewußtsein von gemeinsamer Kultur und Bildung, Bewußtsein einer Schicksalsgemeinschaft, eine Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich.“ (LP, 88) Das soziale Band der Nation ist ein gefühlsmäßiges (88), nur durch existenzielle Teilhabe bewertbares (BP, 27), willensmäßiges (VL, 9) und auf Vertrauen (235) beruhendes. „Das politische Sein ging der Verfassunggebung voraus. Was nicht politisch vorhanden ist, kann sich auch nicht bewusst entscheiden“ (50). Dieser Entscheidungsakt „konstituiert Form und Art der politischen Einheit“, ihre „besondere[…] Existenzform“ (21). Damit setzt Schmitt voraus, was zu beweisen wäre, nämlich, dass es eine wirkliche Entscheidung eines wirklichen vorverfassungsrechtlichen Subjekts namens ‚Volk‘ gibt. Zudem müsste das Volk, um eine politische Einheit zu sein, schon einen Feind haben, ohne über die Art und Form der eigenen Existenz entschieden zu haben, was gerade angesichts der These, der Feind stehe für die „Negation der eigenen Art Existenz“ (BP, 27), mehr als rätselhaft erscheinen muss.269 Die
268 Vgl. bereits Fn. 225 dieser Abhandlung.
269 Solche Probleme ignoriert Böckenförde in seiner Schmitt-Apologie. Um die „seinsmäßige Gegebenheit“ (Böckenförde 1991, 352) des Staates vor allem Recht zu behaupten, verwendet er statt dessen diffuse Formulierungen wie folgende: Die Verfassung konstituiere nicht
Idee der vorpositivrechtlichen Einheit des Volkes als Nation bedient sich zwar bei Emmanuel Joseph Sieyés‘ Souveränitätstheorie, beinhaltet aber die explizite Abwendung vom Kontraktualismus und seiner Idee einer von Individuen und deren Naturrechten ausgehenden juridischen Konstruktion des politischen Körpers.270 Der Vertrag ist in Schmitts Konstruktion keineswegs das soziale Band schlechthin (vgl. VL, 61), womit er sich auch von Sieyes’ Idee der „ersten Epoche“ der die politische Einheit bildenden „freiwillige[n] und freie[n] Vereinbarung“271 der „Einzelpersonen“ abwendet: Deren „Einzelwillen“ schaffen bei Sieyés erst „die gesellschaftliche Vereinigung; sie sind der Ursprung aller öffentlichen Gewalt“. Erst dann gebe es einen handlungsfähigen „gemeinschaftliche[n]“ Willen oder „Nationalwille[n]“,272 der über der Verfassung existiere und verbleibe. Schmitts These, die Nation könne „ihre Formen wechseln und sich immer neue Formen ihrer politischen Existenz geben; sie hat die ganze Freiheit politischer Selbstbestimmung, sie kann das ‚formlos Formende’ sein“ (81), übernimmt er aber vom französischen Revolutionär.273
Schmitt lädt seine Theorie nicht nur mit der Idee eines vorverfassungsrechtlichen, ‚konkreten‘ Volkssubjekts auf, er tönt diese Idee auch kontinuierlich naturrechtlich. Allerdings bleibt dieses Naturrecht eine fragwürdige Angelegenheit. Zunächst ist, wie erwähnt, die politische Einheit Ausgangspunkt der Verfassungskonstruktion, womit Schmitt sich, wie Ernst Fraenkel zeigt, auf ein „gemeinschaftliche[ s] Naturrecht“ festlegt, das einem „gesellschaftliche[n]“ entgegengesetzt ist:274 Ausgangspunkt ist die Gemeinschaft mit einem vorrationalen, my-
den Staat bzw. die politische Einheit, das „Verfassungsrecht“ sei es lediglich, das „die politische Einheit in ihrer Aktionsfähigkeit näher bestimmt, verfahrensmäßig ausformt usf.“, „eine gefestigte Form“ bewirke (356, 352 Hervorhebungen von mir).
270 Vgl. zur Kritik des Kontraktualismus: DA, 35. Vgl. auch Breuer 1985, 192: Im Gegensatz zu Sieyés ist der „Ausgangspunkt der staatstheoretischen Konstruktion […] ein homogenes Kollektivsubjekt, in das die Einzelwillen eingeschmolzen sind“. Vgl. ebenso Hofmann 2002, 185.
271 Sieyés 2010a, 151.
272 Ebd., 148f.
273 Vgl. ebd., 152: „Eine Nation ist von jeder Form unabhängig; und auf welche Art und Weise sie auch will, die bloße Äußerung ihres Willens genügt, um gleichsam angesichts der Quelle und des obersten Herrn jedes positiven Rechts alles positive Recht außer Kraft zu setzen.“ Allerdings betont Ingeborg Maus treffend die politische Differenz dieses Bezugs auf den Volkssouverän: „Hatte Sieyés 1788 die genuin revolutionäre Theorie des pouvoir constituant entwickelt, die die Nation permanent im ‚Naturzustand‘, also souverän gegenüber der bestehenden Verfassung beließ, um progressive bürgerliche Intentionen aus den Bindungen der etablierten Rechtsinstitutionen zu befreien, so dient jetzt die Reduktion der Verfassung auf ihr konstituierendes Prinzip der Stabilisierung der gleichen, inzwischen selbst etablierten bürgerlichen Interessen gegenüber einer von der fixierten Verfassung [gemeint ist die WRV] zugelassenen und angeregten gesellschaftlichen Dynamik […] Die stabilisierende Intention einer dynamischen Rechtstheorie transformiert das ursprünglich revolutionäre Prinzip des pouvoir constituant zum Leitmotiv der Konterrevolution.“ (Maus 1980, 58)
274 Vgl. Fraenkel 1974, 166; vgl. auch Greiffenhagen 1986, 272 sowie Kaufmann 1988, 76, der die „gemeinsame[n] irrationale[n] Glaubensinhalte“, den zum Kampf mobilisierenden Mythos, als politisches Einheitsband in Schmitts Denken hervorhebt, das gegen die Konstruk
thischen Band, deren Normen lediglich für die eigenen Mitglieder Geltung beanspruchen und nur durch Teilhabe Gleichartiger erkannt werden können, während im liberalen ‚gesellschaftlichen‘ Naturrecht das eigeninteressierte Individuum als Ausgangspunkt einer vertraglich konstituierten Ordnung mit tendenziell universalistischen Normen dient. Das Kollektivsubjekt der Nation hat seine Rechtfertigung, so scheint Schmitt nahezulegen, in einer vorpositiven Norm, die er bereits in seiner noch stärker dezisionistisch akzentuierten Politischen Theologie als „Selbsterhaltungsrecht[…]“ (PT, 18) (hier noch: des Staates) bezeichnet und die 1934 in Der Führer schützt das Recht als „Lebensrecht des Volkes“ (FR, 229) bestimmt wird.275 Das Selbsterhaltungsrecht wird vom wirklichen Individuum hin zum Staat (oder Volk) verschoben, was schon im Begriff des Politischen deutlich wurde: Schließlich ist – trotz weniger anders lautender Andeutungen Schmitts – nicht der Schutz des Individuums Zweck der politischen Einheit, sondern die Reproduktion der Einheit selbst bei permanenter Möglichkeit des Opfers des Einzelnen und sogar zu diesem Zweck.276 In der Verfassungslehre äußert Schmitt, die politische Einheit habe ihre
„‘Existenzberechtigung‘ nicht in der Richtigkeit oder Brauchbarkeit von Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert. Daher ist ihr ‚Recht auf Selbsterhaltung‘ die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen“ (VL, 22). „Sie bedarf keiner Rechtfertigung an einer ethischen oder juristischen Norm, sondern hat ihren Sinn in der politischen Existenz“ (87)
und diese ist wiederum nichts anderes als eine – potentiell – kämpfende Einheit. Herbert Marcuse sieht hierin 1934 einen Versuch, „eine rational nicht mehr zu rechtfertigende Gesellschaft durch irrationale Mächte zu rechtfertigen“.277 Gehe dem Bürgertum das Vertrauen in seine rationalen Staats- und Eigentumslegitimationen aus, so ersetze eben ‚die Existenz’ jedes Argument. Marcuse betont auch die Transformationsleistung des politischen Existenzialismus Schmitts (und Heideggers), die darin bestehe, die auf der „unüberholbaren personalen ‚Jemeinigkeit‘“ gegründete „Einzelexistenz“278 durch ein ‚jeunsriges‘ politisches Kollektiv zu ersetzen, das „unter keine außerhalb seiner selbst liegende Norm gestellt werden
tion des Staates aus der Idee individueller Selbsterhaltung gewendet werde (vgl. ebd., 98, 288).
275 „Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur soviel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt.“ (FR, 229).
276 Hofmann konstatiert treffend: „Das ‚substanzielle Prinzip‘ der politischen Verbände kann demnach für Schmitt nicht in der Relation von Schutz und Gehorsam, nicht in dem rationalen und daher die Staatsmacht limitierenden Staatszweck der Sicherung des Lebens des Einzelnen liegen; er findet es vielmehr im ‚Selbstsein‘ eines Volkes, in dessen ‚eigener Art‘, in der ‚nationalen Homogenität‘ und deren Selbstbehauptung“ (2002, 153f.); vgl. auch Kaufmann 1988, 288.
277 Marcuse 1968, 29; vgl. ebd., 44. Hier folge aus der „puren Existenz einer Tatsache oder Zwecksetzung die Notwendigkeit ihrer Anerkennung“ (28).
278 Marcuse 1968, 51. Meuter spricht hier von Schmitt als einem „Kollektiv-Stirnerianer“ (Meuter 1994, 422), der „gemäß der politischen Maxime: Wir sind Wir, Uns geht nichts über Uns“ denke.
kann“, woraus folge, „daß man über einen existenziellen Sachverhalt überhaupt nicht als ‚unparteiischer Dritter‘ denken, urteilen und entscheiden kann.“279
In Schmitts Ausführungen bleibt zudem unklar, was juristisch bedeuten soll. Das ‚Selbsterhaltungsrecht‘ mag alles Mögliche sein, nur ist es nicht juristisch, da es mit einer positiven Rechtsnorm nichts zu tun hat.280 Schließlich leuchtet es nicht ein, wenn Schmitt versucht, seine These von der Rechtfertigungsunbedürftigkeit politischer Einheit durch eine Analogie zum Individuum zu plausibilisieren: Die politische Einheit sei so wenig einer Legitimation ihrer Existenz bedürftig, „wie in der Sphäre des Privatrechts der einzelne lebende Mensch seine Existenz normativ begründen müßte oder könnte.“ (89) Eine nichtnatürliche Herrschaftseinheit wird dabei schlicht mit einem lebendigen Individuum auf eine Stufe gestellt und der Gedanke kontraktualistischer, bzw. individualistischer Staatslegitimation von vornherein ausgeschlossen: Die Analogie „schlägt […] insofern fehl“, schreibt Matthias Kaufmann, „als mit der Existenz einer staatlichen Herrschaftsordnung die (begründungsbedürftige) Forderung nach Gehorsam verbunden ist, was für die Existenz des Individuums nicht gilt.“281 Auch ist es doch gerade Schmitt, der die Bedeutung des Einzelnen nur aufgrund seiner Funktion im Staate bestimmt, wie anhand des Werts des Staates und des Begriffs des Politischen gezeigt wurde. Man müsste, sollte die Analogie funktionieren, also auch die politische Einheit noch von einer höheren Funktion oder Institution aus rechtfertigen können. Im Übrigen betont Schmitt, dass die individuellen Grundrechte des ‚einzelnen lebenden Menschen‘ im Ausnahmezustand zur Disposition stehen.
Kraft-Fuchs moniert den Kryptonormativismus dieser Art von „Naturrechtslehre“, 282 die letztlich nichts anderes darstelle als eine „Theorie des Rechts des Stärkeren, die naturrechtliche Machttheorie.“283 Warum Schmitt ausgerechnet die politische Einheit mit der Sein-Sollen-Identität versehe, also durch bloße Existenz legitimiere, bleibe unerfindlich. Theoretiker wie Schmitt, so Kraft-Fuchs, „sollten wenigstens die Frage beantworten, warum sie mit ihren Schlüssen aus dem Sein auf ein Sollen immer dann aufhören, wenn ihnen das Sein nicht mehr angenehm, und folglich seine Existenz auch nicht erstrebenswert erscheint.“284 In diesem thematischen Zusammenhang erwähnt Günter Meuter, dass Schmitt bereits im Wert des Staates den Begriff ‚Sein‘ mit einem „außerindividuellen Wert“ identifiziert (WS, 88). Seine „Vermengung von Seins- und Sollensaussagen“285
279 Marcuse 1968, 44.
280 Dies bezieht sich auf seine Formulierung als überpositives Recht, die Schmitt meint, nicht auf eine völkerrechtliche Anerkennung im Sinne eines positiven Rechts. Allerdings will Schmitt ja erklärtermaßen das Juridische von solch ‚positivistischen‘ Entgegensetzungen befreien, vgl. N, 38, 51.
281 Kaufmann 1988, 295.
282 Kraft-Fuchs 1930, 530.
283 Ebd., 538. Vgl. auch Machunsky 2012.
284 Kraft-Fuchs 1930, 531. Dass Schmitt mit seiner eigentümlichen Verbindung von Machtapologetik und politsozialdarwinistischem Naturrecht in der Weimarer Staatsrechtslehre nicht allein dastand, zeigen Krockow 1990, 21, 25 und Stolleis 2002, 176ff.
285 Meuter 1994, 90.
weise dabei Züge einer neuplatonistischen Ontologie auf,286 die das empirische (weltliche) Sein als Ausdruck des göttlichen Willens begreife.287 Ob das zutrifft oder nur eine weitere esoterische Rationalisierung darstellt, kann an dieser Stelle offen bleiben. Hier zählt lediglich, dass Schmitt sich nicht mit einer reinen, offen bekannten Machttheorie des Rechts bescheidet, sondern die Macht, allerdings nur die ihm ideologisch jeweils genehme Macht, zusätzlich naturrechtlich verklärt – eine Machttheorie mit prätendierter Substantialität. Meuter selbst weist darauf hin, dass Schmitt keinerlei Methode zur Erkenntnis des göttlich Gewollten oder der höheren Vernünftigkeit bzw. Legitimität einer Gewaltordnung angibt.288 So erklären sich denn auch solche ‚substanziellen‘ Äußerungen Schmitts wie die folgende: „nur die Macht des Bösen, d.h. des Anderen ist böse. Die eigene Macht ist immer gut.“ (G, 242) Auch wenn es also stimmt, dass Schmitt nach dem Motto verfährt: „Ens et bonum convertuntur“289, so bleibt, wie in jedem so verfahrenden Naturrecht, entweder unklar und dem Belieben des Theoretikers überlassen, welche bestimmten Gestalten des weltlichen Seins gut und welche nicht gut sein sollen290 oder die Aussage läuft auf eine schlichte Tautologie hinaus, wenn unter ‚Sein‘ lediglich das Überindividuell-Gute verstanden wird.291
Das Recht des Stärkeren292 steht auch hinter dem Begriff der ‚Verfassung im positiven Sinne‘, die als bewusste, „existentielle[…] Totalentscheidung“ (24) des
286 Vgl. ebd., 92ff.
287 Vgl. ebd., 110, 287.
288 Vgl. ebd.,
289. 289 Ebd., 111.
290 Wird unter der Naturgemäßheit ein bestimmtes normatives Konzept verstanden (wie bei Aristoteles oder im christlichen Naturrecht: eine teleologische Naturkonzeption, ein objektives, gottgegebenes Ziel der Natur), so hat diese Natur „überhaupt nichts Natürliches“ mehr, sondern ist, wie Ernst Tugendhat betont, lediglich „ein metaphysisches Postulat“ (Tugendhat 2010, 71) und gerade der suggestive Anteil, der im Rekurs auf die Natur steckt, nämlich der „logische Fehler“ (ebd.), Normatives aus Faktischem abzuleiten, verschenkt. Tatsächlich werden bestimmte objektive Phänomene von vornherein subjektiv als gut verstanden, um anschließend daraus abzuleiten, was objektiv gut ist. Darin liegt eine „versteckte normative Entscheidung“, die „ihrerseits nicht begründet ist“ (71). Subjektiv, ja nachgerade willkürlich ist die Ausweisung bestimmter Phänomene als gut deshalb, weil die Phänomene an sich kein Kriterium dafür angeben, ob sie gesollt sind oder nicht. Daher, so Dieter Birnbacher, die völlig unvereinbaren naturalistischen Ansätze, die mit Hinweis auf eine beliebig interpretierte Natur einmal Sozialdarwinismus (Spencer), dann Solidarität (Kropotkin) als naturgemäß und gut begründen sollen. Daher auch die unendlichen Streitigkeiten der Religiösen über den eigentlichen Willen Gottes, der hinter der Naturordnung stecken soll und ihr ein Schöpfungsziel eingehaucht habe (vgl. Birnbacher 2007, 377).
291 Wenn ‚Sein’ gut ist, dann kann nichts ‚sein‘, was nicht gut ist. Diese Idee verfängt sich, wie Kurt Flasch zeigt, in einer Tautologie. Vgl. Flasch 2003, 110f., 115.
292 Wie bereits die antike Variante dieses Rechts des Stärkeren (vgl. Platon 2004, 394 (484a), 399f. (488d)), will Schmitt mitnichten jede sich faktisch durchsetzende Macht damit legitimieren. ‚Weimar, Genf, Versailles‘ sind Schmitt offenbar illegitime Mächte. Was ihnen im Gegensatz zu anderen Mächten fehlt, bleibt ungenannt, kann aber ausgehend von der Theorie des autoritären Charakters erahnt werden: Ihnen fehlt das Versprechen eines ontologischen Ankers, eine Sicherheit und Partizipation an nationaler Größe versprechende kollektiv-narzisstische Komponente, vgl. Fromm 1989c, 178f sowie Krockow 1990, 41, 49.
mit „Macht oder Autorität“ (75) ausgestatteten Willens des vorverfassungsmäßigen Volkes über Art und Form der Existenz der politischen Einheit begriffen wird. Durch diesen Akt nichtnormierter Normgebung, formloser Formgebung werde die bereits angesprochene „Substanz der Verfassung“ (87) konstituiert. Geltungsgrund einer Verfassung ist also der mit „Macht oder Autorität“ ausgestattete Wille eines Volkes. Während bei der Macht effektive Gewaltmonopolisierung und Kontrolle über die Medien der Meinungsbildung im Zentrum stehen,293 ist Autorität Schmitt zufolge kein rational vom Individuum her gedachter Nützlichkeitsauftrag, wie noch bei Hobbes, oder aus Moralität stammende Befugnis zur äußeren Gesetzgebung, wie bei Kant, sondern „auf dem Moment der Kontinuität beruhendes Ansehen und enthält eine Bezugnahme auf Tradition und Dauer“ (75).294 Hier stellen sich mehrere Fragen: Wie kann ein auf dem Moment der Kontinuität beruhendes Ansehen existieren, wenn die Verfassung erst gegeben wird?295 Kann eine formlose Einheit solches Ansehen erlangen und in wessen Augen – ihren eigenen? Nicht weniger rätselhaft erscheint Schmitts These, die Verfassung (wohlgemerkt nicht die verfassungsgebende Gewalt) sei „legitim, […] wenn die Macht oder Autorität der verfassunggebenden Gewalt, auf deren Entscheidung sie beruht, anerkannt ist.“ (87) Auch hier stellt sich die Frage, von wem anerkannt, etwa vom ‚Volk‘? Soll dies eine neue Anerkennungstheorie der Rechtsgeltung sein?296 Zudem bleibt die Dopplung in der Formulierung einer anerkannten Autorität unklar, da Autorität ja bereits „auf dem Moment der Kontinuität beruhendes Ansehen“ sein soll (75). Anerkanntes Ansehen ist nun aber eine Tautologie.
Dass Schmitt keineswegs plötzlich eine kontraktualistisch geartete Anerkennungstheorie vertritt, zeigt sich an zwei Motiven:
1) Zum einen wird Anerkennung letztlich wieder auf Macht zurückgeführt und elitetheoretisch artikuliert, was in seinen weiteren Ausführungen zur Verfas-
293 Vgl. VL, 247 sowie MP, 367 („Monopol der Waffen“) und 369 („Monopol über „Rundfunk und Lichtspiel“ als „massenpsychologischen Einwirkungsmöglichkeiten“). Welche Institutionen werden im Falle einer Revolution zuerst unter Kontrolle gebracht? Polizeipräsidien/ Kasernen und Radio-/Fernsehsender.
294 Zum charismatischen Charakter des Autoritätsinhabers vgl. HV, 137. Dort wird Autorität mit Attributen wie „Kontinuität“, „moralische Ansehen[…] und allgemeine Vertrauen[…]“ (136) sowie mit bestimmten, nicht näher genannten, „persönlichen Eigenschaften“ umschrieben.
295 Analog dazu fragt H.L.A. Hart, wie Austin den gewohnheitsmäßigen Gehorsam zum Definiens des Souveräns machen kann (vgl. Austin 2005, 19), wenn es einen neuen Souverän gibt (vgl. Hart 1973, 80). Nicht die Gewohnheit, so Hart, sondern ein dem Souverän vorhergehender Standard (eine allgemeine Regel) mache ihn zum Souverän. Der Glaube an die Legitimität könne im Fall des neuen Souveräns nicht aus einer Kontinuität des Souveräns hervorgehen (vgl. 86ff.). Schmitt könnte antworten, die Kontinuität bestehe im ‚Volk‘ als Verfassungsgeber. Es bliebe dennoch unbeantwortet, wie das Umschalten von monarchischer auf demokratische Legitimität und Souveränität möglich gewesen sein soll. Spätestens hier war das auf Kontinuität beruhende Ansehen (=Autorität im Schmittschen Sinne) ja nicht gegeben.
296 Vgl. Hofmann 2002, 135: „Die Legitimität der Verfassung scheint demnach […] in den staatstheoretischen Problemkreis des Konsenses der Gewaltunterworfenen zu fallen.“
sungskonstitution deutlich wird: Das Volk als Nation im Sinne des pouvoir constituant ist nämlich zunächst einmal juristisch betrachtet formlos, da es eine nichtnormierte Normgebungsmacht darstellt. Für den Akt der Verfassungsgebung „kann es keine Verfahrensvorschriften geben, ebensowenig für den Inhalt der politischen Entscheidung. ‚Es genügt, daß die Nation will.‘“ (VL, 79) Und, so wäre zu ergänzen, es kann nicht rechtlich bestimmt sein, wer zur Nation gehört, die eine Rechtsordnung allererst konstituiert. Wir werden Schmitts Bestimmung der Nation als politischer Einheit noch in der Diskussion des Spannungsverhältnisses von Identität, Homogenität und Repräsentation näher beleuchten. „Das Volk“, so Schmitt weiter, „betätigt seine verfassunggebende Gewalt durch irgendeinen erkennbaren Ausdruck seines unmittelbaren Gesamtwillens“ (82). Daraus ergäben sich aber bestimmte „Schwierigkeiten“, die in Anlehnung an Sieyés‘ Theorie der „außerordentlichen Stellvertreter“297 des verfassungskonstituierenden Volkswillens gelöst werden, der nun auf eine lediglich „beauftragende Gewalt“298 zurückgestuft wird. Denn das Volk sei keine institutionalisierte Größe, weshalb es „nur in wenigen entscheidenden Augenblicken einen entschiedenen Willen hat und erkennbar äußert“. Diese Fähigkeit zur Willensäußerung – „zu den fundamentalen Fragen seiner politischen Existenz Ja oder Nein zu sagen“ – komme ihm aber durchaus zu. Seine Stärke bestehe gerade in dieser Nichtinstitutionalisiertheit, weil es damit „nicht aufgelöst werden“ (83) könne. Das Volk scheint hier von einem (neben dem Monarchen) möglichen Souveränitätssubjekt zum polit-ontologischen Prinzip zu mutieren.299 Doch aufgrund der nichtverfahrensmäßigen Artikulation, der „Unmittelbarkeit dieses Volkswillens“, sei er „leicht zu verkennen, zu mißdeuten oder zu fälschen.“ (83) Die geheime Einzelabstimmung sei dabei nur eine, und zwar eine undemokratische, Äußerung des Volkswillens. Der wirkliche Volkswille könne nicht durch geheime Aufsummierung von Einzelwillen zum Ausdruck kommen, weil der „abstimmende Staatsbürger im entscheidenden Augenblick isoliert wird“ (245), als Privatmensch abstimme, weil er ‚vereinzelt‘ im ‚Verborgenen‘ einer Wahlkabine agiere. Der objektivistische Gestus aus dem Wert des Staates begegnet uns wieder, wenn Schmitt feststellt: „[D]ie noch so übereinstimmende Meinung von Millionen Privatleuten ergibt keine öffentliche Meinung, das Ergebnis ist nur eine Summe von Privatmeinungen“ (246). Hingegen sei „[d]ie natürliche Form der Willensäußerung eines Volkes der zustimmende oder ablehnende Zuruf der versammelten Menge, die Akklamation“ (VL, 83) oder die Kundgabe „des demokratischen Gefühls“ (!) „durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein“ (LP, 22). „Immer aber kann das Volk im allgemeinen nur Ja oder Nein sagen“ (VL, 84), es kann Schmitt zufolge nicht debattieren. An die Stelle der rational deliberierenden Öffentlichkeit tritt eine massenpsychologisch vorgestellte „Verbindung von versammeltem
297 Sieyés 2010a, 153.
298 Sieyés 2010b, 209.
299 Dies greift dann der Diskurs der sog. ‚radikalen Demokratie‘ auf, der ebenfalls ein formlosformendes, unbestimmt-bestimmendes agonales Machtgeschehen – nicht mit Freiheit zu verwechseln – zum Un-Grund des Sozialen schlechthin erhebt, vgl. Mouffe 2007, 22-27; Laclau/Mouffe 2000, 193.
Volk und Abstimmung“ (245), eine Versammlung, in der die Massenstimmung entscheidet oder sich vielmehr ausdrückt300, eine Masse agiert, bzw. derjenige, der die Masse mittels „nichtdiskutierende[r] und nichträsonierende[r] […] repräsentative[ r] Rede“ (RK, 32) zu manipulieren versteht: „nur das wirklich versammelte Volk kann das tun, was spezifisch zur Tätigkeit dieses Volkes gehört: es kann akklamieren, d.h. durch einfachen Zuruf seine Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, Hoch oder Nieder rufen, einem Führer oder einem Vorschlag zujubeln“ (VL, 243). Die Situation des versammelten Volkes, in der nicht Argumente und Debatte zählen, bringe einen vorab existierenden Willen, ein gesundes Volksempfinden, zum Ausdruck. Schmitt isoliert die Rousseausche These, nur das wirklich anwesende Volk artikuliere durch seine Willensbekundung die volonté générale, von jeglichem Inhalt und radikalisiert die substanzhafte Fassung des allgemeinen Willens bei Rousseau,301 die nahelegt, dieser Wille existiere ohne Diskussion vor aller Debatte als Homogenität302 (243). Schmitts Darstellung kann nur überzeugen, wenn man den sogenannten Volkswillen jenseits aller Rationalitätsmaßstäbe, jenseits einer deliberativen Demokratiekonzeption303 als irrationalen, emotionalen oder zumindest evidenten auffasst. Wie Hannah Arendt richtig festgestellt hat, ist der Mob das Ideal dieses Volksbegriffes.304 Damit wird natürlich der Manipulation und der willkürlichen Behauptung, Vertreter ‚des‘ Volkswillens zu sein, Tür und Tor geöffnet, zumal Schmitt jede Form der verfahrenstechnischen Bindung der Vertreter an die Vertretenen, ob durch geheime Wahl
300 Zum expressivistischen und irrationalistischen Charakter des Schmittschen Öffentlichkeitsbegriffs vgl. Kaufmann 1988, 164f.
301 Zur tendenziösen Rousseau-Rezeption Schmitts vgl. Kaufmann 1988, 134, 158f., 178, 190 sowie Salzborn 2015, 72.
302 Schmitt behauptet zwar, die Homogenität sei „naturhaft vorhanden“ oder eben nicht vorhanden (LP, 20), welchen Inhalt sie hat, entscheidet aber eine elitäre Instanz, denn „jede politische Einheit muß auf irgendeine Weise integriert werden, weil sie nicht von Natur vorhanden ist, sondern auf einer menschlichen Entscheidung beruht“ (VL, 207). Dies nennt Hermann Heller die „Geniereligion“ der politischen Einheit (Heller 1971b, 617). Es ist daher fraglich, ob Chantal Mouffes Kritik zutrifft, Schmitt sehe nicht, dass die politische Einheit, ein „kontingentes Faktum ist, das eine politische Konstruktion erfordert“ (Mouffe 2013, 65). Andreas Hetzel lobt denn Schmitt auch dafür, dass dieser „allen Essentialisierungen des Gegners vorbeugt“ (Hetzel 2009, 177). Dass auch dies nur bedingt richtig ist, ist die These des vorliegenden Beitrages, denn Mouffe, Hetzel und Schmitt sind sich sehr wohl darin einig, einen klar definierten und nicht austauschbaren Gegner zu bekämpfen: den „kosmopolitische[n] Universalismus“ (ebd.).
303 Beispielhaft dafür: Habermas 1990a und 1998, Maus 1992.
304 Vgl. Arendt 1998, 247: „Der Mob kann nicht wählen, er kann nur akklamieren oder steinigen. Daher verlangten seine Führer schon damals [im Frankreich der 1890er Jahre, I.E.] jene plebiszitäre Republik, mit der moderne Diktatoren so vorzügliche Erfahrungen gemacht haben.“ Robert Paxton zufolge „drückte sich für die Faschisten der Bürgerwille durch die Teilnahme an Massenveranstaltungen aus.“ (2006, 118) Permanente symbolpolitische Mobilisierung, „einfache Ja/Nein-Plebiszite“ und systematische Ausnutzung von „neue[n] Techniken zur Kontrolle und Steuerung der ‚Nationalisierung der Massen‘“ (118) seien genuine Kennzeichen faschistischer Politik, vgl. auch ebd., 210, 242.
von freien Vertretern (245, 251) oder durch imperatives Mandat (262), ablehnt.305 In modernen Großstaaten ersetze allerdings die „‚öffentliche Meinung‘“ (84) die Akklamation des unmittelbar versammelten Volkes:306 „Die öffentliche Meinung ist die moderne Art der Akklamation.“ (246) Sie werde durch Parteien, „Presse, Film und andere Methoden der psychotechnischen Behandlung großer Massen“ gebildet und stehe daher immer in Gefahr, von „unsichtbare[n] und unverantwortliche[ n] soziale[n] Mächte[n]“ manipuliert zu werden (247). Die Willensäußerung des Volkes soll zugleich die Verfassung konstituieren (oder der verfassunggebenden Versammlung Legitimität verleihen) als auch der Verfassung selbst Legitimität verleihen. Wenn die Akklamation/Anerkennung des Volkes die Legitimität einer Verfassung hervorbringt, diese Anerkennung sich auf die Macht der verfassunggebenden Gewalt bezieht, so kann dies nur bedeuten: auf die Macht der sich als außerordentliche Repräsentanten des Volkes behauptenden Akteure. D.h. nicht nur die Legitimität der Verfassung, auch die Existenz der verfassunggebenden Gewalt wird anerkennungstheoretisch thematisiert. Anerkennung der Macht wird aber, wie Schmitt hegemonie- und manipulationstheoretisch feststellt, von der Macht (in diesem Falle von der Kontrolle der „wirtschaftlichen, pädagogischen, psychotechnischen Mittel“ (SE, 158)307) selbst hervorgebracht (vgl. LP, 38), womit sich das Problem einer Unterscheidung von echtem und manipuliertem Volkswillen keineswegs löst: Denn
„Konsens bewirkt Macht“ und „Macht bewirkt Konsens“, „empirisch gesehen, erhebt sich dann die Frage, wer über die Mittel verfügt, den ‚freien‘ Konsens der Massen herbeizuführen.“ (158)308 Doch nur „[e]chte Macht bewirkt echten Konsens und echter Konsens bewirkt echte Macht. Vor allem findet stabile Macht die sicherste und echteste Zustimmung des Volkes“ (MP, 370).
Die 1932 vor dem Langnam-Verein entfaltete Programmatik bonapartistischer Krisenlösung konkretisiert diesen Gedanken, freilich ‚Autorität‘ statt ‚Macht‘ einsetzend: Eine Präsidialdiktatur soll sich durch erfolgreiche Maßnahmen gegen Parteienstaat, nationale Demütigung und linke Wirtschaftsdemokratie eine Massenbasis verschaffen: „Erst aus dem Erfolg und der Leistung ergibt sich Autorität.“ (SS, 84) Mittels dieser Autorität sollen dann radikale Verfassungsveränderungen
305 Zur Absurdität einer in keiner Weise verfahrensmäßig geregelten Akklamation als Kriterium demokratischer Legitimität vgl. Kaufmann 1988, 166f.
306 Solange keine Meinung erkennbar sei, müsse von Zustimmung ausgegangen werden (VL, 84). Hier wird der Topos der stillschweigenden Zustimmung aus dem klassischen Kontraktualismus reanimiert. 307 Insbesondere die massenmedialen Techniken sind es, die Schmitt zufolge „die politischen Prämien [darstellen], die auf jedem legalen Machtbesitz stehen“ (MP, 369).
308 Allerdings beziehen sich die Aussagen in Staatsethik auf die „Einheit des Staates“ (SE, 158). Vgl. auch LP, 36f.: „Alles kommt darauf an, wie der Wille gebildet wird. […] das Volk kann durch richtige Erziehung dahin gebracht werden, daß es seinen eigenen Willen richtig erkennt, richtig bildet und richtig äußert. […] Die Konsequenz dieser Erziehungslehre ist die Diktatur“.
durchgesetzt werden, denn „die Bereitwilligkeit des deutschen Volkes zu folgen“ sei dann „sehr groß“ (85).309
2) Während es hier bisweilen noch so aussieht, als sei jede Bindung der Macht an Anerkennung durch die machtgestützte Herstellung der Anerkennung ausgehebelt, wird der Begriff der Autorität in den meisten Texten von Schmitt gänzlich unabhängig von einem ‚Ansehen‘ oder zu organisierender Zustimmung verwendet. Hier ist der Staat (in Gestalt der die Idee des Volkes darstellenden Personen) der „aus eigener Kraft und Autorität entscheidende […] Dritte“ (WW, 127, Herv. von mir), eine „überindividuelle, nicht interindividuelle Instanz, die ihre Würde keiner Schilderhebung der Einzelnen verdankt, sondern ihnen mit originärer Autorität entgegentritt“ (WS, 86; Herv. von mir), gründen die Herrschenden ihre „Autorität […] auf der unmittelbaren Repräsentation [der] […] Idee […], nicht auf der Delegierung“ (RK, 41, 46). Kraft-Fuchs konstatiert zu Recht, daß Schmitt damit „die herrschende Gruppe mit dem Volk identifiziert“310 und nahezu jede Herrschaft als Demokratie ausgeben kann, was sich letztlich als faschismuskompatibel erweise.311 Hermann Heller führt im gleichen Sinn gegen Schmitts Demokratiebegriff an, dass tatsächlich „[n]icht die soziologische oder […] sozialethische Bindung an das Volk […] für den demokratischen Repräsentanten charakteristisch“ sei, sondern eine wie auch immer indirekte verfahrensmäßige Bindung, die die Möglichkeit der Berufung oder Abberufung eröffne und regle.312
Während das Volk also akklamiert, repräsentieren die Mitglieder der Konstituante im Sinne einer außerordentlichen Repräsentation den ‚wahren Volkswillen‘. Obwohl diese Repräsentanten nicht verfassungsmäßig gebunden oder normiert sein können – höchstens durch die naturrechtliche Norm der politischen Existenzerhaltung – sind sie Schmitt zufolge nicht die verfassungsgebende Gewalt, „sondern nur ihr Beauftragter“ (VL, 59), allerdings „ohne durch einen formellen Auftrag legitimiert zu sein“ (78). Wie Sieyés begreift Schmitt die verfassungsgebende Gewalt dabei als permanent existierenden Souverän. Das ‚Volk‘ und seine ‚außerordentlichen Vertreter‘ sind also nicht nur einmal über der Verfassung, sondern ständig neben der Verfassung gegeben. Das Volk ist und bleibt demnach „Urgrund alles politischen Geschehens“, Formen aus sich hervortreibend, ohne einer Form zu unterliegen – „das formlos Formende“ politischontologische Prinzip (79). Die Hervorbringung einer Verfassung könne die verfassungsgebende Gewalt nicht
„erschöpfen, absorbieren oder konsumieren […]. Neben und über der Verfassung bleibt dieser Wille bestehen.“ (77) „Wenn mit der demokratischen
309 Leistung ist, wie dieses Beispiel zeigt, keineswegs eine neutrale Kategorie. Nicht Stabilität an sich, sondern inhaltlich qualifizierte Stabilität muss hier eine Rolle spielen. Im Schmittschen Falle sind die Leistungen, die der Staat erbringen muss, zum Beispiel ausschließlich antiparlamentarisch und nationalistisch bestimmt. Seine Kriterien sind die des autoritären Charakters.
310 Kraft-Fuchs 1930, 539.
311 Vgl. ebd., 541. Hermann Heller nennt denn auch 1933 die Intention Schmitts ein Plädoyer für „autokratische kontra demokratische Staatsautorität“ (Heller 1971c, 645).
312 Heller 1971a, 426.
Idee Ernst gemacht wird, kann nämlich im Ernstfall keine andere verfassungsmäßige Einrichtung vor der alleinigen Maßgeblichkeit des irgendwie geäußerten, unwidersprechlichen Willens des Volkes standhalten.“ (LP, 21)
Jeder Verfassungskonflikt könne damit nur durch diese Gewalt entschieden werden – also durch diejenigen, welche die Macht haben, sich als außerordentliche Repräsentanten des Volkes jenseits aller verfassungsmäßig geordneten Verfahren durchzusetzen.313 Man kann hier vielleicht noch nicht von der Permanenz des Ausnahmezustandes sprechen, aber doch von der Permanenz einer extralegalen, konstituierenden Gewalt über und neben allen konstituierten Gewalten.314
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