H. Naturrechtliche Tendenzen der Theorie vom Staatsvolk
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1. Staatsvolk als Elemente des Staatssubjekts. Die herrschende Theorie vom Staatsvolk ist ein klassisches Beispiel dafür, wie bestimmte ethisch-politische Postulate als Lehren vom Wesen des Staates vorgetragen werden. Wie beim Staatsgebiet, so unterscheidet man auch beim Staatsvolk eine doppelte Qualität: es soll sowohl dem Staats-Subjekt, als auch dem Staats-Objekt angehören, sowohl Element des Staates als einer Person, als auch Objekt der staatlichen Herrschaft sein. Hier, bei der Lehre vom Staatsvolk, enthüllt diese merkwürdige Unterscheidung: des Staates nach subjektiver und objektiver Richtung erst ihren eigentlichen Sinn. Gemeint ist nämlich: Es gehöre zum Wesen des Staates, daß das Volk nicht nur vom Staat beherrscht werde, also Objekt sei, sondern auch, daß es — in der Person des Staates — selbst herrsche. In seiner objektiven Qualität ist das Volk ein Inbegriff von Verpflichteten, in seiner subjektiven ein Inbegriff von Berechtigten, von Trägern subjektiver Rechte. Der Staat in subjektiver Hinsicht ist eben nichts anderes als das Recht im subjektiven Sinne! Dabei wird ganz offenkundig das Schwergewicht auf die subjektive Qualität des Volkes gelegt, die man unmittelbar aus dem Begriff des Staates abzuleiten versucht, den man zu diesem Zweck als „Körperschaft‘‘ definiert, und dabei subintelligiert, daß Körperschaft ein Verband sei, bei dem an der Bildung des Verbandswillens die Glieder beteiligt und in diesem Sinne subjektiv berechtigt sind. Und so sehr wird diese subjektive Qualität des Volkes betont, daß eine Vielheit von Menschen, die lediglich unter einer Herrschaft stehen, in keiner Weise aber berechtigt sind, d. h. einer Ordnung lediglich pflichtmäßig unterworfen sind, nicht als ‚Staat‘ gelten soll. Das Volk muß also zumindest auch ein Inbegriff von Berechtigten, muß in irgendeinem Grade an der staatlichen Willensbildung beteiligt sein, um ein ‚Staats‘ volk zu sein. Dabei kann man sich aber der Erkenntnis nicht verschließen, daß eine Vielheit von Menschen zur Einheit des Staatsvolkes ja doch nur durch die Einheit der diese Vielheit unterwerfenden Staatsgewalt, d. h. aber die verpflichtende Geltung einer Rechtsordnung wird.
Die auffallende Präponderanz des subjektiven Momentes bei der Darstellung der Lehre vom Staatsvolk, durch die das Moment der Berechtigung — des sog. subjektiven Rechtes — in den Vordergrund, das Pflichtmoment aber in den Hintergrund geschoben wird, ist das charakteristische Symptom für den Einbruch naturrechtlicher Erwägungen; begreiflicherweise nur auf dem Wege von Trugschlüssen: Das Volk ist ein wesentliches Element des Staates, der Staat ist Rechtssubjekt, d.h. Person; das Volk ist also Element eines Rechtssubjektes, es steckt im Rechtssubjekt, ist also der Rechtssubjektivität teilhaftig: also sind die Menschen, die das Volk bilden, begriffsnotwendig Rechtssubjekte und zwar im Sinn von Berechtigten, d.h.im wesentlichen: an der staatlichen Willensbildung beteiligt. Der demokratische Staat wird so als der Staat schlechthin demonstriert; wobei natürlich die Dosierung des demokratischen Prinzips im Ermessen des jeweiligen Darstellers liegt. Dieses Beispiel ist insbesondere auch darum so lehrreich, weil es den Mißbrauch zeigt, den die Verschleierung des prinzipiellen Unterschiedes ermöglicht, der zwischen dem Sinn des Satzes: der Staat — d.h. eine juristische Person — hat ein Recht (oder eine Pflicht) und jenem des Satzes: der Mensch hat ein Recht (oder eine Pflicht) besteht. Im ersten Fall eine rechtstheoretische Personifikation, bloß Beziehung auf die Einheit des Systems, im letzteren Falle: Behauptung eines bestimmten Rechtsinhaltes, eines spezifischen Tatbestandes, ohne positiv-rechtliche Grundlage. (Vgl. S. 70,73.) Der Trugschluß der herrschenden Lehre besteht gerade darin, daß sie aus einer rechtstheoretischen Hilfsvorstellung einen — nur positiv-rechtlich begründbaren — Tatbestand zu erschließen, d. h. aber zu erschleichen versucht. Daß es hier im Dienste demokratischer Politik geschieht, während sonst autokratische Tendenzen die Theorie bestimmen, kann natürlich nichts an dem Urteil ändern.
Es ist schon öfters betont worden, daß der antiken Staatslehre, die ja in mancher Hinsicht, so auf dem Gebiete der Staatsformen- und Verfassungslehre Bedeutendes geleistet hat, die für die moderne Theorie des Staatsvolks so wichtige Erkenntnis subjektiver, speziell subjektiver öffentlicher Rechte gänzlich gefehlt habe. (JELLINER.) Daß sich die einschlägigen Probleme auch ohnediesen Begriff des subjektiven Rechtes, ja ohne ihn besser darstellen lassen, geht aus dem Gesagten hervor. Wenn die antike Staatslehre den Begriff des subjektiven öffentlichen Rechtes nicht gebraucht, so liegt das daran, daß dieser ganze Begriff mit seiner naturrechtlichen Spitze sich gegen eine autokratisch positive Staatsordnung richtet, im Kampf gegen die absolute Monarchie entwickelt wird. Dieser Begriff, hinter dem sich ja nur die politische Forderung der Demokratie verbirgt, hat im antiken Staat, wo diese Forderung bereits erfüllt ist, keinen Zweck.
2. Staatsvolk und Kolonievolk. Daß im übrigen bei der Lehre von der subjektiven Qualität des Volkes auch noch andere als gerade demokratische Nebentöne mitklingen können, zeigt sich darin, daß man in Konsequenz dieser Theorie das eingeborene Volk der einem Staate zugehörigen Kolonien nicht zum Staatsvolk rechnet, weil die Natives zwar vom Staate beherrscht werden, d.h. durch dessen Ordnung verpflichtet sind, nicht aber — so wie die Mitglieder des Staatsvolks — am Staatssubjekt partizipieren, d.h. an der Erzeugung der staatlichen Ordnung beteiligt sind. Da die private Rechts- und insbesondere auch die Prozeßfähigkeit der Natives in der Regel besteht, kann es eigentlich nur der Mangel der sog. politischen Rechte sein, der sie aus dem Staats,,volk‘ ausschließt. Die politischen Rechte aber fehlten bis vor kurzem und fehlen jetzt auch noch in demokratischen Staaten großen Gruppen von Menschen, die man darum doch zum Staatsvolk rechnet, Sollte es also nicht Rassendünkel sein, der hier auf die Theorie vom Staatsvolk abfärbt? So wie es Klassendünkel war, wenn ältere Theorien den Staat nur aus den „Freien“ bilden ließen, während der ‚‚Unfreie“ schon Subjekt der Rechtspflichten und zum Teil sogar schon gewisser — wenn auch nicht politischer — Berechtigungen war.
3. Staatsvolk als Schranke der Staatsgewalt. Die Behauptung, daß die das Staatsvolk bildenden Menschen notwendigerweise in irgendeinem Grade berechtigt, womöglich politisch berechtigt sein müssen, wird selbstverständlich nur zum Schein aus dem Wesen oder Begriff des Staates abgeleitet. In Wahrheit lebt auch im Rahmen der modernen, sich als positivistisch ausgebenden Staatstheorie eine uralte Vorstellung naturrechtlicher Ideologie wieder auf: Die Priorität des subjektiven Rechts, als des Rechts des Individuums, verbunden mit dem Gedanken, daß nur der Wille des Individuums der letzte Geltungsgrund alles Rechtes sei. Der Mensch hat eben nach dieser ganzen, in ihrer letzten Konsequenz das positive Recht zersprengenden Theorie ganz unabhängig vom Staat und ‚seiner‘ Ordnung, das ist eben der positiven Rechtsordnung, gewisse unentziehbare ‚‚angeborene‘‘ Rechte. Er ist vor dem Staat Rechtssubjekt, Person; und — streng genommen — ist er es, der in Verbindung mit anderen Menschen dem Staat Rechtssubjektivität, Persönlichkeit leiht. Zu solcher Konsequenz wagt sich die Theorie freilich nur selten. Sie begnügt sich mit der Halbschlächtigkeit, daß der Staat die Rechtspersönlichkeit der sein Volk bildenden Menschen anerkennen müsse, und kommt dann zu dem seltsamen Resultat, daß der Staat, wenn er dies nicht tut — und gerade als Staat kann er eben rechtlich, was er will — kein Staat ist. Vom Standpunkt dieser naturrechtlichen, gegen die Bedingungen des positiven Rechts gerichteten und daher nur das ‚„Rechts-“, nicht das Pflicht-Moment betonenden Ideologie ist dann auch verständlich, warum die Rechtspflicht nicht als subjektives „Recht“ und das Subjekt der Rechtspflicht nicht als Rechtssubjekt, nicht als Persönlichkeit gelten soll. Daher denn das Volk in seiner subjektiven Qualität ein Inbegriff von Berechtigten sein muß. Andererseits muß man aber wieder zugeben, daß die nach herrschender Lehre das innerste Wesen des Staates bildende Staatsgewalt, Staatsherrschaft — wie man sich auszudrücken pflegt — nur in dem Gehorsam, nur in der Unterwerfung der Menschen existiert, d.h. die verpflichtende Geltung einer Rechtsordnung ist, wesentlich in der passiven Relation des Menschen zur Rechtsordnung, in der Verpflichtung besteht. Der Widerspruch ist vollendet.
Und so ist es nicht zu verwundern, daß in der modernen Theorie vom Staatsvolk der rechtlich negative Bereich des Freiseins vom Staate — der sich wesentlich von dem auch als „‚Freiheit‘‘ bezeichneten positiven Bereich rechtlichen Könnens, der Berechtigung, der dem demokratischen Prinzip entsprechenden Beteiligung an der Staatswillensbildung, unterscheidet — ebenso wie in der alten Naturrechtslehre als subjektives Recht in dem Sinne einer irgendwie aus der Natur des Menschen evidenten, absoluten Grenze gegen die Staatsgewalt auftritt. Diese Grenze, die die Theorie im großen und ganzen in Übereinstimmung mit den in den modernen Verfassungen kodifizierten Freiheitsrechten zieht, kann der Staat — so lehrt die Staatslehre — nicht überschreiten, ohne gegen sein eigenes Wesen zu verstoßen. Allein was als Inhalt eines Gesetzes positives Recht ist, wird als theoretische Annahme, die man aus dem Wesen des Staates oder der Rechtspersönlichkeit der Menschen zu folgern vorgibt, zum Naturrecht. Die politischen Tendenzen, die sich hinter solcher Theorie verbergen, treten deutlich hervor, wenn die staatliche Gesetzgebung, und sei es auch unter Beobachtung der Kautelen verfassungändernder Normen, in eine der bisher freigelassenen Gebiete einzudringen droht. Dann zeigt sich, daß dasjenige, was man, wenn auch nicht gerade als ‚angeborenes Menschenrecht‘“, so doch als Wesensgehalt staatlicher Ordnung behauptet, nur Gruppen- oder Klasseninteresse ist, das sich hinter solcher Theorie zu verschanzen sucht. So insbesondere die Unverletzlichkeit des Privateigentums.
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