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B. Einschränkung oder Ausdehnung der staatlichen Kompetenz (limitierender und expansiver Staatszweck)

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Für eine auf den Inhalt der staatlichen Zwangsordnung gerichtete Betrachtung, die sich darauf beschränkt, die möglichen Inhalte zu typisieren, führt die Frage, welche Tatbestände unter staatliche Zwangssanktion gestellt werden können — gestellt werden sollen, würde die Politik fragen — oder, in der üblichen bildhaften Weise ausgedrückt: welche Gegenstände die staatliche Ordnung ergreifen, in welche Bereiche sozialen Lebens der Staat eindringen kann oder soll, vor allem zu dem Gegensatz einer den sachlichen Geltungs-, d.i. Kompetenzbereich der staatlichen Ordnung einschränkenden und einer ihn ausdehnenden Tendenz. Man spricht — terminologisch nicht sehr glücklich — von einem limitierenden und einem expansiven Staatszweck und versteht darunter das Prinzip möglichster Einschränkung oder Ausdehnung der staatlichen Kompetenz. Die vom Standpunkte politischer Theorie gesuchte Entscheidung zwischen’ beiden ist — wie schon aus dem bisher Gesagten hervorgeht — objektiv nicht möglich, führt vielmehr in den Bereich subjektiver Welt- und Wertanschauurg. Die individualistische Freiheitsidee wird sich in der einen, das universalistische Gleichheitsideal in der anderen Richtung bewegen. Das staatsfreie Individuum ist der eine, ein das Individuum völlig absorbierendes staatliche Kollektivum der andere Pol, zwischen denen die politischen Parteien des Liberalismus und des Staatssozialismus, voneinander bald mehr, bald weniger weit entfernt, ihren Standpunkt wählen.
Aussichtslos darum auch der immer wieder gemachte Versuch, aus dem Wesen des Staates oder des Individuums ein Minimum oder ein Maximum an staatlicher Kompetenz zu deduzieren. Es ist ein vergebliches Bemühen, wenn man heute, wie je, zu beweisen sucht, daß der Expansion des Staates gegen das Individuum an irgendeinem Punkte eine absolute Schranke gezogen sei. Dabei ist es gleichgültig, ob man diese Schranke in einer angeborenen und unveräußerlichen Freiheit ‘des Individuums erblickt, wie es die alten Naturrechtslehrer getan haben, oder ob man mit dem Wesen des Individuums als einer freien, sich selbst bestimmenden Persönlichkeit gewisse Eingriffe des Staates, gewisse Kompetenzen der Rechtsordnung, d.h. die Verknüpfung bestimmter Tatbestände mit Zwangsakten für unvereinbar hält, wie dies moderne Staats- und Rechtslehrer tun, die das Naturrecht ablehnen und auf dem Boden des Positivismus zu stehen glauben. In beıden Fällen handelt es sich um die Behauptung einer notwendig staatsfreien Sphäre des Individuums und in beiden Fällen ist dieses Resultat nur dadurch zu erzielen, daß man der positiv-rechtlichen Staatsordnung eine ihr gegenüber transzendente, aus anderer Geltungsquelle abgeleitete ‚natürliche‘ Rechtsordnung entgegenhält, die eine durch die andere einzuschränken versucht und, mit diesem Dualismus zweier zugleich als gültig behaupteter Rechtsordnungen, in einen logischen Widerspruch gerät, der jede Argumentation aufhebt. Gerade darin liegt ja ein charakteristisches Merkmal des Naturrechts, dem man auch dann verfallen ist, wenn man gewisse Inhalte der staatlichen Ordnung als mit der Rechtspersönlichkeit des Individuums für unvereinbar erklärt, und meint, daß ein Staat, der seinen Bürgern nur Pflichten auferlegt und keine subjektiven Rechte einräumt, oder ein Staat, dessen Ordnung alle Bürger zu Sklaven eines Einzigen, des Herrschers, macht, kein ‚eigentlicher‘‘, kein ‚wahrer‘ Staat mehr sei.
Ja nicht einmal unter einem rein technischen Gesichtspunkt lassen sich irgendwelche absolute oder, wie man sie lieber zu umschreiben pflegt, ‚‚natürliche‘‘ Schranken der Staatsgewalt (um in der üblichen Terminologie zu sprechen) erkennen. Häufig behauptet man, der Staat könne eigentlich nur äußeres Verhalten erzwingen, nicht aber eine bestimmte Gesinnung, irgendeine innere Haltung erzielen. Demgegenüber muß geltend gemacht werden, daß der Staat auch nicht äußeres Verhalten erzwingen kann, daß der Zwangsakt, der zum Wesen des Staates gehört, zwar den Zweck hat, als Inhalt einer Drohung ein bestimmtes Verhalten der Individuen herbeizuführen, daß aber die Realisierung dieses Zwanges gerade in jenen Fällen eintritt, in denen das erwünschte Verhalten nicht ‚‚erzwungen‘‘ wurde. Sieht man näher zu, so kann überhaupt keine Handlung gegen den Willen des Handelnden erreicht, also im eigentlichen Sinne „erzwungen‘‘ werden. Andererseits aber ist es durchaus nicht unmöglich, durch die spezifischen Mittel der staatlichen Ordnung auch ein inneres Verhalten im Wege der Motivation zu erzielen; ja es ist sogar schlechterdings unmöglich, ein äußeres Verhalten ohne das korrespondierende innere, nämlich das Vorstellen und Wollen dieses äußeren Verhaltens herbeizuführen. Stellt man das Problem vom Standpunkt der Staats- und Rechtslehre auf die Tatbestände ab, die als Inhalte der Rechtssätze möglich sind, dann kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß diese Tatbestände ebensowohl äußeres wie inneres Verhalten darstellen können. Das sogenannte Schuldinoment des Strafrechts, insbesondere im Falle der mit Absicht oder Voraussicht der Folgen begangenen Tat, ist nichts anderes als derjenige Teil des Tatbestandes, der als inneres Verhalten zum äußeren Verhalten hinzukommen muß, damit die volle Bedingung für den Zwangsakt gegeben sei. Eine ganz andere Frage ist, bis zu welchem Grade und mit welchen Mitteln die Feststellung eines solchen inneren Tatbestandes möglich ist. Wenn man sie aber gegenüber der rein innerlichen Absicht und Voraussicht in den strafrechtlichen Tatbeständen nicht für unmöglich hält, dann wird es wohl schwer fallen, den Gedanken, eine bestimmte religiöse oder wissenschaftliche Überzeugung mit staatlichen Zwangsakten zu verknüpfen, mit der Begründung zurückzuweisen, daß damit eine natürliche Schranke der Staatsgewalt überschritten, ein Versuch mit untauglichen Mitteln unternommen werde. Man mag eine solche Einschränkung der individuellen Freiheit aus sittlichen Gründen aufs schärfste perhorreszieren, sie für unmöglich erklären heißt ein Sollen zum Sein fingieren.