I. Transformativer Konstitutionalismus
Mit der zweiten Herausforderung nehme ich den Eingangssatz, dass in der Demokratie Mehrheiten statt Wahrheiten entscheiden, wieder auf. Die Wahr- heit dulde keine Kompromisse, heißt es. Es ist kein Zufall, dass der ikonische Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sich auf Wahrheit beruft: "We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness." Wenn nun aber Menschenrechte das moralisch Richtige ausdrücken, muss diese Erkenntnis ausgesprochen und durchgesetzt werden. Eine politische Mehrheit ist gerade nicht das Maß aller Dinge. Sicherlich, wir haben dabei heute im Blick und sprechen aus, dass jener historische, zum Ende des 18. Jahrhunderts formulierte, aber zeitlos gedachte Wahrheitsanspruch die Sklaverei ausklammerte und Frauen teilweise bis in das 20. Jahrhundert hinein das Wahlrecht verweigerte. Es kommt also stets auf den kognitiven Rahmen an, auf den der Wahrheitsanspruch bezogen ist.
Die Menschenrechte können, wenn Sie mit einem effektiven Durchsetzungsmechanismus wie der Verfassungsgerichtsbarkeit verknüpft sind, zu einem Instrument für die strukturelle Veränderung einer Gesellschaft außerhalb politischer Mehrheiten werden. In der Literatur ist dafür aus den Erfahrungen in Lateinamerika und Südafrika heraus der Begriff des transformati- ven Konstitutionalismus geprägt worden.[1] Der von seinem Entstehungskontext abstrahierte transformative Konstitutionalismus hat das Ziel, nicht allein durch demokratisches Entscheiden, also durch Politik, sondern gerade auch durch höchstrichterliche Rechtsprechung einen
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[1] Karl E. Klare, Legal Culture and Transformative Constitutionalism, SAJHR 14 (1998), 146-188; Octavio Luiz Motta Ferraz, The Right to Health in the Courts of Brazil, Health and Human Rights 11 (2009), 33-45; Armin von Bogdandy, Strukturwandel des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2022, 119 ff., 267 ff.
Strukturwandel in einer Gesellschaft zu bewirken. Die Judikative verpflichtet sich, weniger ausdrücklich, als vielmehr implizit, auf ein progressives Programm, mit dem es die Gesellschaft und ihre politische Organisationsform demokratischer, gleicher, inklusiver und neuerdings diverser machen will. Nicht selten steht dahinter die regulative Idee eines gesellschaftlichen Fortschritts. Der auch aus der europäischen Integration vertraute Transformationsbegriff[1] markiert dabei die Differenz zur unkontrollierten Revolution, ohne den Anspruch auf umstürzende Verhältnisse aufzugeben. Menschenrechte werden in dieser Matrix gerade dann zu einem attraktiven Instrument für die Durchsetzung politischer Standpunkte des Vernünftigen, wenn es Parlamenten zusehends schwerer fällt, das aus Sicht der kommunikativen Prägeräume Notwendige zu ent- scheiden.[2]
Und damit ist auch schon das Grundproblem des transformativen Kon- stitutionalismus aufgerufen: Woran macht sich die Notwendigkeit von Strukturveränderungen in einer Gesellschaft fest und welche sollen das konkret sein? Und sollen wir die Entscheidung darüber politischen Mehrheiten oder aber Höchstgerichten und den von ihnen angehörten Expertengremien und Interessenvertretern überlassen? Wann sind Parlamente nicht mehr in der Lage, das Notwendige zu entscheiden und wer stellt das fest?
Das Urteil über die praktischen Erfahrungen mit dem Konzept fällt ambivalent aus. Nach anfänglichen Erfolgen hat sich die Lage in Südafrika wieder verschärft und es ist zu neuen Polarisierungen gekommen. In Lateinamerika gibt es Strukturveränderungen in gesellschaftspolitisch hervorgehobenen Bereichen wie Rechte für Homosexuelle, bei Rechten in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch, auf Gesundheit und Umweltschutz, deren tatsächlicher Praxisbedeutung nachzugehen wäre. Die Kernstruktur der Gesellschaften im Ganzen ist jedoch stabil geblieben; im Gegenteil, etwa in Bolivien gibt es eine Variante, die aus liberaler Perspektive als freiheitsfeindlich klassifiziert werden muss, weil sie den Sozialstaat gegen den Rechtsstaat ausspielt.[3] Es kommt zu einer Lage, die sich - gegenwärtig in Venezuela zu beobachten - als permanente Verfassungsgebung im Sinne einer stetigen Neuverhandlung der Grundlagen politischer Ordnung beschreiben lässt, mit allen negativen Folgen für die Stabilität und die Vorhersehbarkeit politischer Entscheidungen.[4] Auch Mittelosteuropa ist ein
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[1] Joseph H. H. Weiler, Transformation of Europe, Yale L. J. 100 (1991), 2403-2483; Leone Niglia, The New Transformation of Europe: Arcana Imperii, Am. J. Compa. L. 68 (2020), 151185; Kiran Klaus Patel/Hans Christian Röhl, Transformation durch Recht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020; Stephan Leibfried et al. (Hrsg.), Transformation of the State, Oxford: Oxford University Press 2015.
[2] Angelika Nußberger, Die Menschenrechte, München: C. H. Beck 2021, 75: „Mit diesem Ansatz [rechtliche Normierungen als .living instrument', ,das es dem gesellschaftlichen Wandel entsprechend zu interpretieren gilt', 74] werden die Gerichte, die die in Verfassungen und völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen Menschenrechtskataloge auslegen, zum Motor gesellschaftlicher Transformation. [...] Nicht selten wurde der Politik dabei das Heft aus der Hand genommen."
[3] Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Krise?, Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 377 ff.
[4] Vgl. Eduardo Pastrana Buelvas/Andres Mauricio Valdivieso, Colombia and Its Multilateralism Contradictions, in: Winfried Weck (Hrsg.), Multilateralism, Latin American Perspectives, Bonn: Konrad Adenauer Foundation, 2020, 67-83 (77 f.); Kelly Gerard/David Mickler, Remaking the Regional: Legitimacy and Political Participation in Regional Integration, J. Common Mkt. Stud. 59 (2021), 404-416.
Anwendungsfall für den transformativen Konstitutionalismus, der für die Europäische Union (EU) von besonderer Bedeutung ist. Der Umbau der vormals sozialistischen Gesellschaften in politische Gemeinwesen, die die europäischen Werte von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit und Menschenrechten verwirklichen, ist im Ergebnis uneindeu- tig ausgefallen.[1] Die Rechtswissenschaft diagnostiziert systemische Defizite und rechtfertigt damit zugleich die Notwendigkeit des transformativen Konstitutionalismus.[2] Könnte die prekäre Lage in Polen und besonders in Ungarn auch als das Ergebnis der politischen Gegenreaktion auf eine zu starke, von den nationalen Judikativen getragene Transformation interpretiert werden? Wir müssen jedoch gar nicht in andere Staaten und Gesellschaften blicken, um die Reibungsenergie wahrzunehmen, die das Konzept entfaltet. Der über Menschen- und Grundrechte forcierte Klimaschutz hat ebenfalls das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten, weil die Kosten für dieses Großvorhaben sich nur mühsam in Einklang mit dem klimapolitisch für notwendig Erkannten bringen lassen.[3]
Das Selbstverständnis des transformativen Konstitutionalismus birgt aus meiner Sicht das nicht unerhebliche Risiko, sowohl den praktischen Menschenrechtsschutz als auch die liberale Demokratie zu beschädigen. Ein solches Risiko besteht jedenfalls in den Politikbereichen, in denen ein Möglichkeitsraum eröffnet ist. Wird dieser Möglichkeitsraum seitens der Judikative verengt, indem eine bestimmte Option mit menschenrechtlicher Begründung als richtig identifiziert und damit verbindlich gesetzt wird, droht die Wahrheitsfrage - mit ihren unversöhnlichen Gegensätzen - in die liberale Demokratie zurückzukehren. Und mit der Wahrheitsfrage kehren illiberale Strategien des konfessionellen Staates in säkularer Form, aber mit nicht weniger freiheitsgefährdender Kraft zurück: Orthodoxie, Proselythenmacherei, Ausweisung von Häretikern, Bücherverbote, Glaubensbekenntnisse und Blasphemie.[4]
Dagegen lässt sich einwenden, dass die Wahrheitsfrage aus der liberalen Demokratie nie verabschiedet worden ist. Wahrheit ist ein konstitutiver Teil der Demokratie, die, wie ich eingangs selbst erläutert habe, einen inneren Konsens benötigt. Wir sprechen
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[1] Hans-Jürgen Hellwig, The Authority of EU Law: What Does It Require and Why Is It Fading?, in: Wolfgang Heusel/Jean-Philippe Rageade (Hrsg.), The Authority of EU Law, München: C. H. Beck 2019, 149-162 (152); Giandomenico Majone, The Deeper Euro-Crisis or: The Collapse of the EU Political Culture of Total Optimism, EUI Working Paper Law 2015/ 10, 7: "It is therefore rather surprising that the intrinsic limits of collective action have been generally ignored by political scientists, legal scholars and even by economists writing about the EU."
[2] Armin von Bogdandy/Michael Ioannidis, Das systemische Defizit. ZaöRV 74 (2014), 283-328 (293 ff.); von Bogdandy (Fn. 80), 275 ff.
[3] BVerfG, Beschl. des Ersten Senats v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18; zum Kontext gehört auch Protest gegen die Kostensteigerung für CO2-Emissionen, etwa Steffen Vogel, Der Aufstand der Gelbwesten: Eine rechte Revolte?, Blätter für deutsche und internationale Politik 64 (2019), Heft 4, 85-92; Nils Goldschmidt/Stephan Wolf, Klimaschutz auf Kosten der Armen?, ORDO 2019, 125-165.
[4] Echoes of the Confessional State, The Economist v. 4.9.2021, 16; zu Menschenrechten als Religion Ino Augsberg, Theorie der Grund- und Menschenrechte, Tübingen: Mohr Siebeck 2021, § 3, 63 ff.; zum Konnex von Menschenwürde und Zivilreligion vgl. Martin Nettesheim, „Leben in Würde": Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht hinter den Grundrechten, JZ 74 (2019), 1-11 (10); siehe auch die Nachweise bei Dreier (Fn. 14), 115 zur Parallele ökologischer Protestgruppen mit den Trägern konfessioneller Auseinandersetzungen; den Bezug zum Populismus stellt her Lütjen (Fn. 77).
von der Wertegemeinschaft, national wie europäisch, verweisen in der Bundesrepublik auf den Gedanken der objektiven Werteordnung und die Menschenwürde[1] und in der Europäischen Union auf Artikel 2 des EU-Vertrages.[2] Doch gerade der Wertekatalog der Europäischen Union verdeutlicht, wie schwierig ein solcher Konsens über Demokratie, Freiheit und Gleichheit in die Praxis zu übersetzen ist. Die Europäische Kommission hat nicht ohne Not den Wert der Rechtsstaatlichkeit herausgegriffen und mit erheblichem Aufwand anwendungsfähig konkretisiert, so dass der unionale Kanon als Maßstab für die strukturellen Beschädigungen des Rechtsstaats vor allem in Polen und Ungarn dienen kann.[3] Für die anderen, nicht weniger wichtigen Werte gibt es diese sekundären Konkretisierungen nicht, weil die Union entweder diese selbst nicht erfüllt (Demokratie) oder aber keine qualifizierte Mehrheit unter den Mitgliedstaaten dafür mobilisiert werden könnte.[4]
Der EGMR weist auf diesen fehlenden europäischen Konsens in gesellschaftspolitischen Fragen zuweilen ausdrücklich hin, der selbst dort nicht immer belastbar ist, wo der Gerichtshof auf eine qualitative Mehrheit verweisen kann. Der Görgülü-Komplex, die bekannte Auseinandersetzung zwischen dem EGMR und dem Bundesverfassungsgericht[5] und die Entscheidung Hirst zum Wahlrecht von Strafgefangenen im Vereinigten Königreich belegen, dass die judikative Durchsetzung des für richtig Erkannten zuweilen auf harten Widerspruch stößt und Konflikte auch in prinzipiell konventionstreuen liberalen Demokratien auslösen kann.
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[1] Uwe Volkmann, Die Dogmatisierung des Verfassungsrechts, JZ 75 (2020), 965-975 (966).
[2] Joseph H. H. Weiler, The Authority of European Law: Do We Still Believe In It?, in: Heusel/Rageade (Fn. 85), 3-20 (8 f.); Egils Levits, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, in: Thomas Jaeger (Hrsg.), Europa 4.0?, Wien: Jan Sramek Verlag 2018, 239-270; Christof Mandry, Europa als Wertegemeinschaft, Baden-Baden: Nomos 2009; Christian Calliess, Europa als Wertegemeinschaft - Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 59 (2004), 1033-1045.
[3] Europäische Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat - Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips v. 11.3.2014, KOM (2014) 158 endg.; Frank Schorkopf, Wertekonstitutionalismus in der EU, JZ 75 (2020), 477-485.
[4] Meinhard Hilf/Frank Schorkopf, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim, Art. 2 EUV, Rn. 19 ff. (Mai 2020); siehe jetzt aber EuGH (Plenum), Ungarn v. Europäisches Parlament und Rat, Urteil v. 16.2.2022, Rs C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97, Rn. 127, 232, wonach die Werte in Prinzipien konkretisiert werden.
[5] BVerfGE 111, 103 ff.; EGMR, Görgülü v. Germany, App. No. 74969/01, Urteil v. 26.2. 2004.
Mit Ausnahme von Evidenzen des objektiv Wahren und testierten praxistauglichen Konsensen sind die menschenrechtlich codierten Wahrheitsansprüche der weiße Elefant im Raum.
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