I. Menschenrechte als Grenze des Mehrheitsprinzips
Der Agonismus der parlamentarischen Demokratie[1] lenkt die Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen des die Herrschaftsform prägenden Mehr- heitsprinzips. Bereits in den Kernexten der modernen Demokratietheorie sind diese angesprochen. So schreibt Tocqueville in seiner berühmten Studie zur jungen amerikanischen Demokratie, dass die unumschränkte Mehrheit zwar im Wesen der Demokratie liege. Zugleich will er diese Mehrheit aber an das von der Mehrheit aller Menschen angenommene allgemeine Gesetz, an die Gerechtigkeit binden, um die drohende Tyrannei der Mehrheit zu ver- hindern.[2] Die Literatur hat die anspruchsvollen Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips differenzierter herausgearbeitet.
Die Zahlenganzheit der Abstimmungsberechtigten muss eine rechtliche Einheit sein, die eine Mindestübereinstimmung aufweise - manche sprechen von innerer Homogenität und meinen damit nicht Gleichförmigkeit, sondern ein „agreement on fundamentals".[3] Wir sprechen aus der Gegenwartsperspektive eher von einem Wertekonsens, von „fundamental values", die als „überindividuell gültige Wahrheit"
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[1] Chantal Mouffe, Agonistik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014; Hannah Arendt, Was ist Politik?, München: Pieper Verlag 1993.
[2] Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 835, dt. Ausgabe Stuttgart: Reclam 1985, 145.
[3] Werner Heun, Entstehungsvoraussetzungen des Mehrheitsprinzips, in: Egon Flaig (Hrsg.), Genesis und Dynamiken der Mehrheitsentscheidung, München: Oldenbourg Verlag 2013, 21-42 (22); ausf. Heun (Fn. 2), 176 ff. m. w. N.; Horst Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 17 (1986), 94-118 (110); Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 1 (2010), 11-38 (36): „Man darf sich auch vor der Einforderung von Homogenität nicht durch die Diskreditierung irre machen lassen, die dieser Begriff durch seine Inbezugnahme in Carl Schmitts Freund-Feind-Schema erfahren hat. Für Hans Kelsen und Hermann Heller, beides demokratisch gesonnene Zeitgenossen Schmitts, ist ein Mindestmaß an sozialer Homogenität selbstverständliche Voraussetzung gelingender staatlicher Einheitsbildung."; Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Dieter Gosewinkel, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011, 305-486 (477).
unterschiedliche Standpunkte in einen „gemeinsamen Referenzrahmen", auf einen nicht kontroversen Sektor im Sinne Ernst Fraenkels[1] aufeinander beziehen.[2] Das Sprechen über gemeinsame Werte ist gerade in der Europäischen Union das Signum der Gegenwart. Die Abstimmungsberechtigten müssen zudem in ihrem Status und ihrer Stimmmacht gleich sein. Seit jeher macht sich daran die, auch von Karl Doehring[3] geteilte, Kritik der Gebildeten an Vermassung und tendenzieller Mittelmäßigkeit demokratischer Politik fest. Die Statusgleichheit ist eine Anforderung, die aktuell besonders in der Europäischen Union diskutiert wird, in der die Unionsbürger als politische Subjekte keine Gleichheit haben. Die (Mehrheits-)Entscheidung sollte, weiter, revidierbar sein, damit die Minderheit stets die Chance hat, für ihren Standpunkt als zukünftige Mehrheitsoption zu werben.[4] In den 1970er und 1980er Jahren entspann sich an der friedlichen Nutzung der Kernenergie und der Endlagerfrage eine Debatte zu dieser Voraussetzung,[5] die mit der Klimaschutzdebatte fortgesetzt wird. Aus der Gegenperspektive folgt schließlich, dass das Mehrheitsprinzip nur dann Aussicht auf dauerhafte Legitimität hat, wenn es keine strukturellen Minderheiten ohne Mehrheitschance gibt. Das Völkerrecht adressiert dieses Problem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem Recht der nationalen Minderheiten, indem es zu Autonomie verpflichtet oder die distinktive Minderheit mit besonderen Rechten in der politischen Gemeinschaft ausstattet.[6]
Aus der Perspektive nationaler Minderheiten ohne Mehrheitschance ist es ein - auf den ersten Blick - nur kleiner Schritt zum Menschenrechtsschutz. Sollten nicht alle distinktiven Gruppen besondere Rechte in der liberalen Demokratie erhalten, weil sie unterrepräsentiert sind und mit ihrem Standpunkt auch vermeintlich keine
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[1] Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien [1960], in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften: Bd. 5. Demokratie und Pluralismus, Baden-Baden: Nomos 2007, 74-90 (84): „Je sozial differenzierter eine Gesellschaft ist, desto geringer ist die Gewähr, daß mittels eines unreflektierten consensus omnium dem Postulat der autonomen Verwirklichung des bonum commune ausreichend Rechnung getragen wird."
[2] Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, Stutgart: Reclam 2021, 116.
[3] Karl Doehring, Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union, Berlin: wjs Verlag 2008, 209.
[4] Jakob Hohnerlein, Recht und demokratische Reversibilität, Tübingen: Mohr Siebeck 2020.
[5] Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen: Westdeutscher Verlag GmbH 1984; Thomas Helfen, Die Kritik am Mehrheitsprinzip als Herausforderung der repräsentativen Demokratie, Diss. Bonn: 1992, 120 ff.
[6] Francesco Capotorti, Minorities, EPIL, Bd. 3, Amsterdam: Elsevier 1997, 410-424 (411); Karl Doehring, Das Gutachten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über die Fortgeltung der nach dem Ersten Weltkrieg eingegangenen Minderheiten-Schutzverpflichtungen, ZaöRV 15 (1954), 521-540; Sarah Pritchard, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz, Berlin: Duncker & Humblot 2001; Manfred Mohr (Hrsg.), Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ära des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa, Berlin/ Heidelberg: Springer 1996; aber auch bereits Georg Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien: Hölder 1898. Die Bundesregierung hat zum Europaratsabkommen v. 1.2.1995 eine Erklärung (BGBl. 1998 II, 57) abgegeben, mit der sie dessen Anwendungsbereich auf Dänen und Sorben sowie Friesen und Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit begrenzt. Mit anderen Worten setzen selbst politische Partizipationsprivilegien nationaler Minderheiten die Innehabung der deutschen Staatsangehörigkeit, also die Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft, voraus, womit ein Argument zur Differenzierung von etwa Millionen türkischen Staatsangehörigen, die für politische Partizipation auf die Einbürgerung verwiesen sind, prinzipiell entfällt.
Mehrheitsperspektive haben? Einer solchen gruppenbezogenen Minderheitenkonzeption folge ich nicht, wie ich noch näher begründen werde. Der nationale Minderheitenschutz ist eine der Verallgemeinerung nicht zugängliche völkerrechtliche Besonderheit, die keine nennenswerte Einschränkung einzelstaatlicher Gestaltungsfreiheit bedeutet.
Die Idee unverletzlicher und unveräußerlicher Rechte ist der Schutz individueller Autonomie in einer politischen Gemeinschaft der Möglichkeiten.[1] Individuen haben aufgrund des Normativgebots der Gleichheit die Chance,
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[1] Munaretto (Fn. 9).
je nach Gegebenheit sich einmal der Mehrheit und ein anderes Mal der Minderheit anzuschließen. Der Selbstbestimmungsmodus ist nicht in dem Sinne determiniert, dass von vornherein die Zugehörigkeit zur Mehrheit oder zur Minderheit feststeht. Vielmehr hängt die Inanspruchnahme von kollektiver oder individueller Autonomie des Individuums davon ab, in welchen sozialen Herrschaftsverhältnissen es sich bewegt und welche politische Frage zu beantworten ist. Der Einzelne kann sich in der Minderheit befinden, ohne notwendig einer spezifischen Gruppe anzugehören. Ist er in der Minderheit, schließt sich die Entscheidung an, ob diese Position mit subjektiven Rechten förmlich verteidigt werden soll.
Das Menschenrechtsdenken der Gegenwart, besonders in Europa, ist geprägt von dieser klassischen gegen-majoritären Perspektive Tocquevilles.[1] Aus dem Argwohn, dass Mehrheiten die Demokratie missbrauchen könnten, wofür Geschichte und Gegenwart schreckliche Belege geben, geht es um die institutionelle Einhegung der Demokratie. Der Vorrang überstaatlichen Rechts, die Bindung nationaler Hoheitsgewalt an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Betonung gewaltenteilender Arrangements im Sinne von „checks and balances", besonders durch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit, föderale Gliederung und die Begrenzung direkter Demokratie, addieren sich zum Leitbild einer durch gegen-majoritä- re Entscheidungsmodi domestizierten Demokratie. Es wird die These vertreten, dabei handele es sich sogar um das Leitbild eines spezifisch europäischen Konstitutionalismus, das in der Venedig-Kommission einen kundigen und wirkmächtigen Förderer habe.[2]
Im Mittelpunkt dieses Leitbilds stehen Höchstgerichte, d. h. nationale Verfassungsgerichte und überstaatliche Gerichtshöfe wie der EGMR und der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Sie werden von denjenigen Individuen angerufen, die den Rechtsweg gegen belastende hoheitliche Maßnahmen oder wegen eines Anspruchs auf ein bestimmtes Tätigwerden beschreiten. Es ist ihre Aufgabe, die subjektiven Rechte des Individuums durchzusetzen, wenn der Tatbestand erfüllt ist und die Rechtsfolge einen solchen Entscheidungsausspruch vorsieht. Dieser rechtlich codierte Konflikt zwischen Individuum und Hoheitsträger stößt - jedenfalls in Europa - weder theoretisch noch praktisch auf ernstzunehmende Kritik, wenn es um die mit der Würde des Menschen unmittelbar verknüpften Kernrechte (core rights) des Individuums geht, also zuerst um das Recht auf Leben, die Verbote von Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie auf Rechtsschutz und ein faires Verfahren.[3]
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[1] Aktualisierung des Standpunkts bei Jon Elster, Tyranny and Brutality of the Majority, in: Stephanie Novak/Jon Elster (Hrsg.), Majority Decisions, Cambridge: Cambridge University Press 2014, 159-176.
[2] Valentina Volpe, Drafting Counter-Majoritarian Democracy, ZaöRV 76 (2016), 811-843.
DOI 10.17104/0044-2348-2022-1-19 ZaöRV 82 (2022)
[3] Ein Beispiel für die Differenzierung ist das EGMR-Urteil Pardillo v. Italy, Urteil v. 25.8. 2015, Nr. 46470/11, Rn. 174 -, in dem das Recht auf Embryonenspende nicht zum Kernbereich von Artikel 8 EMRK gezählt wurde, anders als das Recht auf Elternschaft.
Dieser Konsens über das Wahre weicht umso mehr auf, je stärker die Rechte vom Gesetzgeber beschränkt werden können oder, besonders bei Leistungsrechten, zu konkretisieren sind. Auch bei diesen Rechten gibt es Unverhandelbares, das wir als „Wesens- oder Kerngehalt" beschreiben. Was in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, wie es in den Schrankenregelungen der Artikel 8 bis 11 EMRK heißt, oder wann ein verhältnismäßiger Eingriff vorliegt, ist einer Abwägung zugänglich und bewegt sich deshalb in einem Möglichkeitsraum unterschiedlicher Gestaltformen.
Durch die Verrechtlichung des Konflikts verändert sich allerdings die Entscheidungsrationalität. Während Parlamente eine politische Option aus dem Möglichkeitsraum auswählen, entscheiden Gerichte, welche Option richtig und welche falsch ist. „Über Grundrechtsbeschwerden wird", so Nettesheim, „regelmäßig so verhandelt, als ob die Antragssteller keine politische Autonomie hätten".[1] Die Gerichte tun das jedenfalls in dem Augenblick, wenn sie Einschät- zungs- und Beurteilungsspielräume der Politik als überschritten sehen und eine bestimmte Möglichkeit für menschen- oder grundrechtlich geboten erklären. In diesem Fall gibt es nicht das „auch anders Mögliche", selbst wenn diese Möglichkeit mit qualifizierter Mehrheit gewollt werden würde.[2] Es gibt vielmehr allein den Rechtsgehorsam der Menschenrechtsverpflichteten und das Mäßigungsgebot an etwaige Kritiker. So entstehen Ansprüche auf ein Existenzminimum, auf Studienplätze und medizinische Behandlung, sowie die Pflichten, zusätzliche Anstrengungen zur CO2-Einsparung zu ergreifen, Menschen die Einreise zu gestatten oder nicht abzuschieben, Strafgefangenen das Wahlrecht einzuräumen sowie die Schule von religiösen Symbolen freizuhalten oder aber dort religiöse Bekleidung und Praktiken zu dulden. Mit anderen Worten, die parlamentarische Mehrheit in einer liberalen Demokratie setzt objektives Recht, das nicht angewendet und durchgesetzt wird, weil sich Einzelne mit abweichenden Präferenzen vor Gericht auf ihr subjektives Recht berufen. Der Rechtsschütz kann dann - neben klassischer Abwehr von Grundrechtseingriffen[3] - das politische Verfahren verlängern und über den Faktor Zeit den formellen
Mehrheitsentscheid im Ergebnis in sein Gegenteil verkehren. Aus dem Grundrechtsschutz durch Verfahren kann dann, Planungsvorhaben sind dafür das Muster, ein Schutz vor Vollzug durch gerichtliche Verfahren werden.
Dieser Zusammenhang gilt in besonderem Maße für die Verfassungsgerichtsbarkeit. Im Folgenden werde ich mich nicht dieser Verfassungsgerichtsbarkeit im engeren Sinn zuwenden.[4] Vielmehr sollen die EMRK und ihr Durchsetzungsmechanismus die
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[1] Martin Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, Paderborn: Brill/Schö- ningh 2017, 48; komplexer der Zusammenhang von Rechtsetzung und argumentativer Rechteermittlung aus dem Text bei Andreas Funke, Auf Augenhöhe? Versuch über die Möglichkeit, Rechtsbefolgung als Ausdruck personaler Autonomie zu denken, in: Patrick Hilbert/Jochen Rauber (Hrsg.), Warum befolgen wir Recht?, Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 201-226 (213 ff.).
[2] Zum „auch anders Möglichen" Munaretto (Fn. 9).
[3] Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2003.
[4] In diesen Kreis der Verfassungsgerichtsbarkeit ist auch der EGMR einzubeziehen, siehe Angelika Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention - eine Verfassung für Europa?, JZ 74 (2019), 421-428.
Aufmerksamkeit erhalten. Dort geht es nämlich um die für Europa konkretisierten Menschenrechte, die mit vielen Streitfällen aus verschiedenen europäischen Staaten gutes Studienmaterial liefern, für die das beschriebene Grundproblem von den Vertragsparteien erkannt wurde und mittels einer Änderung der EMRK und der EGMR- Rechtsprechung gelöst werden soll.
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