I. Demokratie - Mehrheit - Wahrheit
In der Demokratie herrschen Mehrheiten statt Wahrheiten
Demokratie bedeutet, dass die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sich selbst regieren. Volksherrschaft ist, theoretisch wie historisch betrachtet, nicht notwendig freiheitlich im Sinn einer liberalen Demokratie [poststell1] des modernen Verfassungsstaates. Eine erhebliche Zahl an Staaten waren und sind dem Namen nach Demokratien und weisen zugleich autokratische oder diktatorische Regierungssysteme auf - einzelne beanspruchen selbstbewusst sogar die „bessere Demokratie" zu sein. Meine Überlegungen beziehen sich allein auf die Herrschaftsform der liberalen Demokratie. Sie folgt im Grundsatz dem Repräsentationsmodell, wie es sich seit den englischen Verfassungskämpfen, den nordamerikanischen und französischen Revolutionen bis in den Kon- stitutionalismus hinein herausgebildet hat.[1] Die erwachsenen Bürger wählen ein Parlament, in dem Abgeordnete das Volk vertreten, die wiederum über die Angelegenheiten der Gemeinschaft verbindlich entscheiden. Zwar ist auch die unmittelbare Bürgerbeteiligung, die direkte Demokratie mit ihren plebiszitären Elementen möglich. Die große Mitgliederzahl macht die Repräsentation als primären Beteiligungsmodus jedoch unumgänglich. Der Entscheidungsmodus in beiden Fällen ist grundsätzlich das Mehrheitsprinzip, d. h. maßgebend ist die überwiegende Zahl aus einer Gesamtheit von wahl oder abstimmungsberechtigten Personen.[2]
Die Herrschaftsform der liberalen Demokratie ist durch ein weiteres, prägendes Merkmal charakterisiert. Eine Mehrheit erkennt nicht eine Wahrheit als handlungsleitend für die politische Gemeinschaft. Sie identifiziert formal diejenige politische Möglichkeit, die auch für die Minderheit und Nichtbeteiligte verbindlich sein soll. Aus den Religionskämpfen der Frühen Neuzeit heraus gelingt es dann, die zunächst konfessionell aufgeladene Wahrheitsfrage, später weitere Ansprüche auf letzte Worte in der Politik durch Verfahrensregelungen zu neutralisieren.[3] Bis in die herrschenden verfassungstheoretischen Gegenwartskonzeptionen hinein werden substanzhaft-rousseauistische Gemeinwohlkonzeptionen kritisch gesehen und stattdessen wird, bei Nuancierungen im Detail, ein prozedurales Verständnis vertreten.[4] „Wahrheit" ist
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[1] Überblick bei Florian Meinel, Repräsentation, in: Staatslexikon, 8. Aufl., Freiburg: Herder 2020, Bd. 4, Sp. 1410 ff.; zudem Hanna F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1967; Nadia Urbinati, Representative Democracy, Chicago: University of Chicago Press 2008; aus deutscher Perspektive Hasso Hofmann/Horst Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Hans-Peter Schneider/ Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York: de Gruyter 1989, 165-198.
[2] Werner Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, Berlin: Duncker & Humblot 1983, 106 ff.; Diego Pardo-Älvarez, Das Rechtfertigungsdefizit des qualifizierten Mehrheitserfordernisses, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 37 ff.; zur Abkehr von der Einstimmigkeit hin zur Mehrheit historisch betrachtend Ulrich Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, Opladen: Westdeutscher Verlag GmbH 1973; Otto von Gierke, Über die Geschichte des Majoritätsprinzips, Schmollers Jahrbuch 39 (1915), 565 ff., abgedruckt in: Bernd Guggenberger/ Claus Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen: Westdeutscher Verlag GmbH 1984, 22-38.
[3] Martin Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts" oder „Religionsverfassungsrechts"?, AöR 134 (2009), 309-390 (364); Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: Josef Isensee, Staat und Religion. Abhandlungen aus den Jahren 1974-2017, Berlin: Duncker & Humblot 2020, 67-102 (82 ff.).
[4] Winfried Brugger/Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden: Nomos 2002; Peter Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtstheorie 14 (1983), 253-284 (257 ff.); zur rous- seauistischen Substanzdemokratie Christian Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460-474 (470 f.).
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[poststell1]Was macht eine liberale Demokratie aus?
Liberale Demokratien sind durch freie Wahlen, Gewaltentrennung, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Menschen- und Bürgerrechte sowie bürgerliche und politische Freiheitsrechte charakterisiert, die durch eine Verfassung garantiert werden.
deshalb noch lange nicht aus der liberalen Demokratie getilgt. Damit meine ich weder, dass das Ergebnis des Mehrheitsvotums als situativ wahr betrachtet, noch dass der Wahrheitsanspruch demokratischer Selbstbestimmung eingeschrieben ist, wie gegen die post-truth-democracy argumentiert wird.[1] Meine These lautet vielmehr, dass säkulare Wahrheitsansprüche über eine judikativ getragene Expansion der Grund- und Menschenrechte in die liberale Demokratie zurückkehren, die diese eigentlich wirksam ausgeschlossen oder neutralisiert hat. Statt Menschenrechte und Mehrheit notwendigerweise als Nullsummenspiel zu betrachten, sollten wir das Verhältnis von Menschenrechten und Mehrheiten stärker als Wechselwirkung verstehen.[2]
Karl Doehring - gleichermaßen monographisch ausgewiesen im Völkerrecht, im Staatsrecht und in der Herrschaftstheorie - hat u. a. über die Bedingungen einer stabilen Demokratie nachgedacht. Sein Standpunkt war, wo aus seiner Sicht nötig, auch gegen die Zeitströmungen gerichtet - ihn bewegte die zunehmende „Betonung nicht nur der Menschenrechte, sondern der Individualrechte schlechthin", durch die das „Interesse des Gemeinwesens" als zweitrangig zurückgestellt würde. In solchen Formulierungen drückt sich die Sorge um den Staat aus, mehr aber um dessen Bürger und die Frage, ob wir mit der Fragmentierung fertig werden.[3] Das bewegt die Rechtswissenschaft auch zehn Jahre nach Doehrings Tod weiterhin, wenn auch mit einer Akzentverschiebung. Denn es geht in diesem Beitrag nicht um „einen die politischen Mächte begrenzenden pouvoir neutre",[4] sondern um individuelle und kollektive Selbstbestimmung in der liberalen Demokratie.
Eine Bedingung des prozeduralen Gemeinwohlverständnisses, für die formale Identifikation eines kollektiven Willens im Parlament, ist das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Standpunkte. Sie bilden den Möglichkeitsraum für die politische Auswahl.[5] Damit die zur Wahl stehenden Alternativen auch eine effektive Chance auf Mehrheitsgewinnung erhalten, bedarf es des freien Wettbewerbs politischer Parteien, einer Öffentlichkeit und Medienvielfalt, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Nur diese Voraussetzungen erlauben es, auf das parlamentarische Verfahren und die Entscheidung darüber, welche politische Option verbindlich sein soll, wirksam Einfluss zu nehmen.
Das Mehrheitsprinzip in der liberalen Demokratie hat also auch eine sozialpsychologische Wirkung auf die Anerkennung legitimer Mehrheiten und den
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[1] Marie Christine Kajewski, Wahrheit und Demokratie in postfaktischen Zeiten, ZfP 64 (2017), 454-467 (457) unter Hinweis auf Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit, in: Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 119-154 (150 f.).
[2] Vgl. Christoph Möllers, Gewaltengliederung, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, 57.
[3] Karl Doehring, Der Mensch in einer veränderten Staatenwelt, ZaöRV 64 (2004), 659-664 (660); vgl. auch Karl Doehring, Minderheitenschutz, Integration und Einbürgerung im Spannungsverhältnis, in: Kay Hailbronner/Eckart Klein (Hrsg.), Flüchtlinge - Menschenrechte - Staatsangehörigkeit, Heidelberg: Hüthig-Jehle-Rehm 2002, 246-249 (249).
[4] Karl Doehring, Schlusswort - Auf der Suche nach einem die politischen Mächte begrenzenden pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), 311-315.
[5] Lino Munaretto, Der Vorbehalt des Möglichen, Diss. Göttingen 2021 (unveröffentlicht).
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn die Legitimität einer Entscheidung ist deutlich größer, wenn diese sich nicht als Ergebnis des Sieges einer Mehrheit oder Niederlage der Minderheit anfühlt, sondern das Ergebnis eines Prozesses ist, „in dem die normativen Ansprüche beider Seiten als legitim anerkannt und berücksichtigt wurden".[1] Ein Grundsatzdokument der Venedig-Kommission des Council of Europe bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: „Ein Parlament ist von Natur aus keine monolithische und homogene Institution, sondern eine repräsentative Versammlung, deren Grundgedanke es ist, dass unterschiedliche Interessen und Ideen vertreten werden, und wo es immer Meinungsverschiedenheiten und eine Unterscheidung zwischen der Mehrheit und einer oder mehreren gegnerischen Minderheiten geben wird."[2]
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[1] Ruud Koopmans, Assimilation oder Multikulturalismus, Münster: Lit Verlag 2017, 221.
[2] European Commission for Democracy through Law, Report on the Role of the Opposition in a democratic Parliament, Berichterstatter: Angelika Nussberger/Ergud Özbudun/ Fredrik Sejersted, CDL-AD(2010)025, 7 (eigene Übersetzung).
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