I. Schlussfolgerung
Mit den voranstehenden Überlegungen habe ich argumentiert, dass zwischen Menschenrechten und Mehrheiten eine komplexere Wechselbeziehung besteht als die gemeinhin angenommene, klassische Einhegung einer Mehrheit durch subjektive Rechte von Minderheitsvertretern. Weder politische Gemeinschaften oder der Staat noch eine Mehrheit sind abstrakte Größen, die Individualrechten per se gefährlich werden. Dass es historische und aktuelle Empirie nicht nur von Gefährdungen, sondern Verletzungen bis hin zur Negation von Rechten gibt, ist keine Rechtfertigung für ein pessimistisches Leitbild der liberalen Demokratie.
Denn bis in die Gegenwart gilt bei globaler Betrachtung, dass die im Staat organisierte liberale Demokratie die momentan einzige Organisationsform politischer Herrschaft ist, die Menschenrechte schützt und diese gegenüber machtvollen Interessen auch durchsetzen kann. Die parlamentarische Mehrheit ist das Formprinzip dieser liberalen Demokratie und sollte deshalb im Ausgangspunkt nicht als „Avatar des Staates" behandelt werden.[1] Und schon gar nicht ist sie der demokratischen Legitimität von Höchstgerichten und neuerdings Zentralbanken nachgeordnet, wie zeitgenössische Stimmen der Herrschaftstheorie argumentieren.[2] Vielmehr ist sie situativer Ausdruck des demokratischen Handlungswillens in Selbstbestimmung einer sich darin erkennenden politischen Gemeinschaft gleicher Individuen.
Fraglos beanspruchen Mehrheitsentscheidungen in der repräsentativen Demokratie zuweilen Zeit. Sind sie aber getroffen, sind sie in Gesetzesform nicht weniger transformativ als höchstrichterliche Urteile. Wir sollten darauf vertrauen, und sind als Bürger selbst dafür verantwortlich, dass die Politik in parlamentarischen Verfahren die „richtigen Entscheidungen" trifft. Ein Strukturwandel der Gesellschaft über einen transformativen Konstitutiona- lismus strapaziert die Legitimität von Höchstgerichten, die wir als „Alarmglocke" und für die Gewährleistung von Kernrechten dringend brauchen. In der Europäischen Union trifft der transformative Ansatz auch auf das von den Mitgliedstaaten fortwährend gestärkte Konzept „nationaler Identität".[3]
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[1] Karl-Heinz Ladeur, Bitte weniger Rechte, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7.12.2016 (online).
[2] Etwa Jörke (Fn. 73), 156 ff.; von Bogdandy (Fn. 80), 387 ff.: Demokratische Gerichte. § 62 Das Mandat zum Strukturwandel; die Argumentation ist besonders auf die europäische Rechtsetzung bezogen, in der ein kompakter Mehrheitswille einer pluralen, ausdifferenzierten, vielfältigen Gesellschaft zumeist eine Fiktion sei, die die Allgemeinheit des Mehrheitswillens überlappende Besonderheiten aggregiere, ebenda, 260.
DOI 10.17104/0044-2348-2022-1-19 ZaöRV 82 (2022)
[3] Armin von Bogdandy, Der europäische Rechtsraum, AöR 144 (2019), 321-357 (336): „Ein Begriff des Europarechts, der die Integrationsförderung privilegiert erscheint überholt."; Rolf Grawert, Europa: in varietate concordia. Zur Union von Integration, Identität und Kohärenz, in: Andrzej Dziadzio Grodziski et al. (Hrsg.), Regnare, Gubernare, Administrare, Krakau: Oficyna Wydawnicza AFM 2012, 397-419 (401): „Die nationale Identität der Mitgliedstaaten hat den Wandel von Maastricht über den Verfassungsentwurf bis zum Vertrag von Lissabon nicht nur unbeschadet, sondern verbal gestärkt überstanden." Armin von Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union, in: Peter M. Huber/Michael Brenner/ Markus Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes - Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 1033-1052 (1035).
Der Hinweis auf die Eigenschaft von Höchstgerichten als least dangerous branch[1] und ihre Bedingtheit gegenüber personellen Umbesetzungen, Rechtsänderungen, Umsetzungsverschleppung oder sogar Urteilsignorierung sind keine Gegenargumente. In der liberalen Demokratie ist das Abstreifen der Rechtsbindung durch die Politik prinzipiell ein unzulässiges Argument und Neubesetzungsoptionen sind eine mögliche, gleichwohl reaktive Antwort auf transformative Entscheidungen. Die Höchstgerichtsbarkeit lässt sich stets als least dangerous branch einordnen, weil die Judikative einer Rechtsänderung durch eine parlamentarisch getragene Regierungsmehrheit nie entzogen ist. Dieser Zusammenhang hilft jedoch für eine dogmatische und methodische Diskussion über Rechtsprechungslinien nicht weiter. Er deutet vielmehr auf eine radikale - und relativ selten genutzte - Möglichkeit, auf tatsächliche und postulierte Entwicklungen zu reagieren.
Wir haben bislang keine Gewissheit, ob menschenrechtlich induzierter, von Gerichten und anderen gegen-majoritären Einrichtungen verfügter Fortschritt im Sinne eines „gesellschaftlichen Konsens[es]",[2] über die Zeit akzeptiert werden wird. Höchstgerichte müssen die Bürger davon überzeugen, dass sie keinen Einschreibungs-, sondern einen Leseakt vornehmen.[3] In den Vereinigten Staaten hat die gegenwärtige Neubewertung der Rolle des United States Supreme Courts die These hervorgebracht, die amerikanische Geschichte zeige, dass die Politik der Rechte die Demokratie mehr brauche als den multipolaren Grundrechtsausgleich durch Abwägung der Gerichte.[4]
Das von der Mehrheit beschlossene allgemeine Gesetz hat den Vorteil, dass es eine zwischen kollidierenden Rechten vermittelnde Institution ist. Damit parlamentarische Demokratie gelingen kann, ist es Aufgabe, den demokratischen Prozess offen zu halten, die Bildung von Mehrheiten zu ermöglichen und gegen Beschädigungsversuche zu verteidigen. Dass der Schutz gegenwärtig bedrohter und künftiger Mehrheiten auch europäisch zu einem - zuweilen nicht so wahrgenommenen - Forschungsfeld geworden ist, sollte uns zum weiteren Nachdenken über das Mehrheitsprinzip anregen. In der EU-Rechtstaatsdebatte wird der Schutz künftiger Mehrheiten zum Maßstab für die Prüfung unionaler Reaktionsmöglichkeiten auf Rechtsstaatlichkeitskrisen gemacht.[5] Und der EuGH schützt bereits seit Jahrzehnten die einen sekundären Unionsrechtsakt zustande bringenden Mehrheiten gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit des Rechts der Welthandelsorganisation (WTO-Recht), würde doch eine fehlende Gegenseitigkeit im
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[1] Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch, New York: The Bobbs-Merril Co. Inc. 1962.
[2] Nußberger (Fn. 28), 425.
[3] In Anlehnung an eine Formulierung von Ulrich Haltern, Europarecht, Bd. II, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2017, Rn. 1972.
[4] Sam Moyn, Why Do Americans Have So Few Rights?, v. 9.3.2021, <https://bit.ly/ 3otzORl>.
[5] Christoph Möllers/Linda Schneider, Demokratiesicherung in der EU, Tübingen: Mohr Siebeck 2018.
Welthandel die in der Union errungenen Gesetzeskonsense aushebeln.[1]
So sind identitäre Minderheiten mit nationalen Minderheiten nicht gleichzusetzen, auch wenn letztere - allerdings tendenziell aus völkerrechtlich gutem Grund - das Tor zur machtvollen Vertretung kollektiver Minderheiteninteressen bereits öffnen.[2] Wie ein positives Modell subjektiver Rechte in der Demokratie aussehen könnte, bedarf weiteren Nachdenkens. Historisch betrachtet haben Grund- und Menschenrechte entscheidend dazu beigetragen, Wahrheitsansprüche zurückzudrängen; in der Gegenwart werden sie zu einem Instrument neuer Wahrheitsansprüche eines rationalistischen Monismus. Vielleicht sollten wir bei der Suche nach einem solchen Modell zunächst mehr aufhorchen, wenn es einer Gesellschaft in großem Umfang gestattet ist, einen Korpus an Recht zu schaffen, der dem demokratischen Verfahren entzogen ist und allein durch Gerichte geändert werden kann.[3] Denn eine Bürgergesellschaft organisiert sich zunächst einmal selbst. Diesen Prozess in gleicher Freiheit zu ermöglichen und offen zu halten, ist die primäre Funktion von Grund- und Menschenrechten.
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[1] Haltern (Fn. 99), Rn. 553 ff.; Meinhard Hilf/Frank Schorkopf, WTO und EG: Rechtskonflikte vor den EuGH? Besprechung des EuGH-Urteils vom 23.11.1999, Rs. C-149/96, Portugal ./. Rat, Europarecht 35 (2000), 74-91.
[2] Will Kymlika, Multikulturalismus und Demokratie, Hamburg: Rotbuch Verlag 1999; zu den kulturellen Bezügen des Minderheitenschutzes Rainer Hofmann, Menschenrechte und der Schutz nationaler Minderheiten, ZaöRV 65 (2005), 587-613 (598 ff.), speziell zu Gruppenrechten Dieter Kugelmann, Minderheitenschutz als Menschenrechtsschutz AVR 39 (2001), 233-267 (263 ff.); Sujit Choudhry, Group Rights in Comparative Constitutional Law: Culture, Economics, or Political Power, in: Michel Rosenfeld/Andras Sajo (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Oxford: Oxford University Press 2012, 1100-1123.
[3] Jonathan Sumption, Trials of the State, London: Profile Books 2020, 47.
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