III. Zweiter Teil: Prinzipieller Widerstand a la Polonaise
Der zweite Teil dieses Beitrags ist der Analyse der jüngsten Widerstandsmuster des polnischen Verfassungsgerichtshofs („CT") gewidmet. Tatsächlich betrifft diese Art von Widerstand nicht nur den EGMR, sondern auch den Gerichtshof der Europäischen Union („EuGH"). Zu Analysezwecken konzentriert sich dieses Papier jedoch auf die polnischen Reaktionen auf die Rechtsprechung des EGMR, obwohl im Übrigen gegebenenfalls auf Fälle des EuGH eingegangen wird. Die ersten beiden CT-Reaktionen betreffen ein einzelnes Urteil des EGMR (Xero Flor). Im Gegensatz dazu bezieht sich die jüngste Antwort auf eine ganze Reihe von Urteilen des EGMR. Diese Reaktionen werden in chronologischer Reihenfolge besprochen.
Die erste CT-Reaktion auf Xero Flor (Fall P 7/20)
Im Fall von Xero Flor entschied der EGMR, dass das polnische CT nicht als „durch Gesetz festgelegt" im Sinne von Artikel 6 § 1 EMRK angesehen werden könne. Diese Feststellungen waren auf die gravierenden Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Wahl von drei CT-Richtern nach der Wahl des nationalen Sejms im Jahr 2015 zurückzuführen.1 Das Straßburger Gericht entschied insbesondere dazu
„In Übereinstimmung mit der oben genannten Reihe von Urteilen des Verfassungsgerichtshofs wurde die Wahl der drei Richter, darunter Richter M Verfassung, nämlich die Regel, dass ein Richter vom Sejm gewählt werden sollte, dessen Amtszeit den Tag umfasst, an dem sein Sitz frei wird."1
Die erste Antwort des CT erfolgte etwas mehr als einen Monat nach Xero Flor. Das in Rede stehende CT-Verfahren stand in keinerlei Zusammenhang mit dem Fall Xero Flor. Vielmehr betrafen sie EU-Recht, nämlich die Zuständigkeit des EuGH, einstweilige Maßnahmen im Hinblick auf die Funktionsweise der neu geschaffenen Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs anzuordnen.1 In einem Urteil vom 14.
Juli 2021 entschied das CT, dass der EuGH keine Möglichkeit habe In einer Zwischenentscheidung vom 15. Juni 2021 musste sich der CT jedoch mit dem Antrag des damaligen polnischen Ombudsmanns, Adam Bodnar, befassen, einen der CT-Richter von der Teilnahme an der Prüfung des Falles auszuschließen. In diesem Zusammenhang stützte sich Bodnar auf Xero Flor, um die Absetzung des Richters zu rechtfertigen. Eine aus drei Richtern bestehende Formation des CT antwortete auf diese Anfrage wie folgt:
„Nach Angaben des Verfassungsgerichtshofs beruht das Urteil des EGMR vom 7. Mai 2021, soweit es sich auf den Verfassungsgerichtshof bezieht, auf Argumenten, die die Unkenntnis des Gerichtshofs über das polnische Rechtssystem, einschließlich der grundlegenden verfassungsrechtlichen Annahmen, die diesen Standpunkt präzisieren, bezeugen , System und Rolle des polnischen Verfassungsgerichts. Insofern wurde es ohne Rechtsgrundlage erlassen, überschreitet die Zuständigkeit des EGMR und stellt einen rechtswidrigen Eingriff in die innerstaatliche Rechtsordnung dar, insbesondere in Fragen, die außerhalb der Zuständigkeit des EGMR liegen; aus diesen Gründen muss es als ein nicht existierendes Urteil (sententia non existens) angesehen werden."1
Wie von wissenschaftlichen Kommentatoren zu Recht angemerkt wurde, kann die Entscheidung des CT zwar nicht diesen Begriff verwenden, seine Entscheidung jedoch als ein Ultra-vires-Argument charakterisiert werden.1
Die zweite CT-Reaktion auf Xero Flor (Fall K 6/21)
Im Gegensatz zum vorherigen Beispiel steht die zweite CT-Reaktion auf Xero Flor in engem Zusammenhang mit genau diesem Fall. Das Verfahren wurde vom polnischen Justizminister Zbigniew Ziobro in seiner Funktion als Generalstaatsanwalt eingeleitet. Am 24. November 2021 stellte das CT unter anderem fest, dass Artikel 6 § 1 EMRK im Widerspruch zu verschiedenen Artikeln der polnischen Verfassung steht
„soweit der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Gericht" das Verfassungsgericht der Republik Polen umfasst."1
In seiner Begründung beruft sich der CT auf seine „Hauptaufgabe […], die hierarchische Konformität von Rechtsnormen zu überprüfen und – soweit erforderlich – verfassungswidrige Normen aus dem Rechtssystem zu entfernen".1 Diese Hauptaufgabe besteht in Dies steht in den Augen des CT im Widerspruch zu den vom EGMR entwickelten Kriterien für die Einbeziehung von Verfassungsgerichten in den Geltungsbereich von Artikel 6 § 1 EMRK. Der polnische Ombudsmann war zum gegenteiligen Schluss gekommen2, ebenso wie das Bingham Center for the Rule of Law, das vom Ombudsmann um ein Gutachten zu dieser Angelegenheit gebeten worden war.3 Für den CT war die „bedingungslose Kategorisierung der polnischen Verfassung." Das Gericht als Organ der Judikative" im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 EMRK „verstößt gegen
die Bestimmungen der Verfassung, die die Stellung des polnischen Verfassungsgerichts innerhalb der innerstaatlichen Verfassungsordnung festlegen", sowie gegen den „Grundsatz der Vorherrschaft". der Verfassung, auf die in Artikel 8 Absatz 1 verwiesen wird."4 Wie bereits bei der Entscheidung vom 15. Juni 2021 argumentiert der CT, dass ein tiefgreifendes Missverständnis des nationalen Rechts seitens des Straßburger Gerichtshofs vorliegt.
Anders als in der vorherigen Entscheidung gelangte das CT jedoch im Fall K 6/21 nicht zu dem Schluss, dass es sich bei Xero Flor um eine sententia non existens handelt. Es entschied vielmehr, dass die Xero Flor zugrunde liegende Norm – Artikel 6 § 1 EMRK – mit der polnischen Verfassung unvereinbar sei, allerdings nur „soweit" die Norm auf den CT anwendbar sei. Dieser unterschiedliche Ansatz hat wohl verfahrenstechnische Gründe, da die Zuständigkeit des CT hauptsächlich auf die Überprüfung normativer Rechtsakte beschränkt ist.1 Infolgedessen hatte der Generalstaatsanwalt in seinem Antrag Artikel 6 Abs. 1 EMRK selbst auf den Prüfstand gestellt, „insoweit." wobei der Begriff „Gericht" den Verfassungsgerichtshof einschließt.2 Die Wirkung dieser „insofern"-Technik liegt auf der Hand: Obwohl sich die Zuständigkeit des CT hauptsächlich auf die Überprüfung normativer Rechtsakte beschränkt, erlaubt ihm die Verwendung der „insofern"-Formel ( indirekt) gerichtliche Urteile im Einzelfall überprüfen.3 Dies bedeutet, dass der Unterschied zwischen der abstrakten Überprüfung einer bestimmten Norm und dem ihr in einzelnen Gerichtsentscheidungen zugeschriebenen normativen Gehalt verwischt wird.
Dennoch handelt es sich hierbei um eine im nationalen (polnischen) Kontext gut etablierte Technik. Normalerweise muss eine gerichtliche Auslegung „permanent, universell und eindeutig" sein, um vom CT überprüft zu werden.1 Nur in seltenen Fällen hat das CT „eine Rechtsnorm überprüft, die als durch einen einzigen Beschluss des Obersten Gerichtshofs geschaffen angesehen wurde". .2 Einer dieser Ausnahmefälle steht in direktem Zusammenhang mit der Gegenreaktion Polens auf die Rechtsstaatlichkeit: Nachdem der EuGH im Urteil A.K. In diesem Urteil3 fasste der Oberste Gerichtshof Polens im Zuge der Bildung der kombinierten Zivilkammer, der Strafkammer und der Kammer für Arbeitsrecht und Sozialversicherung (die von der Justizreform bislang nicht betroffen waren) einen Beschluss, der die Ernennung von Richtern durch die neue Kammer vorsah Der Nationale Justizrat („NCJ") hat Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Gerichtszusammensetzung.4 Im Gegenzug stellte der CT fest, dass dieser Beschluss gegen die polnische Verfassung verstößt.5
Zurück zum Fall K 6/21 argumentierte der CT
„[a]Obwohl die genannte Auslegung im Kontext eines Einzelfalls getroffen wurde, ist sie für die Hohen Vertragsparteien auf der Grundlage von Artikel 32 der Konvention und aufgrund der Position und Autorität des EGMR bindend", hieß es Die Auslegung wird von den nationalen Gerichten allgemein respektiert."1
Damit war die Zuständigkeit des CT begründet. Obwohl diese Begründung hätte
ausreichen können, fügt der CT ein wichtiges zusätzliches Argument hinzu:
„Es gibt keinen anderen Mechanismus zur Überprüfung dieser Auslegung als eine Überprüfung durch das Verfassungsgericht, das als „Gericht des letzten Wortes" verpflichtet ist, die in der Verfassung der Republik Polen niedergelegten Grundprinzipien der Verfassung zu schützen. '1
Wir werden später darauf zurückkommen. Auf jeden Fall haben wir gesehen, dass das CT über die Mittel verfügte, das Xero-Flor-Urteil des EGMR zu überprüfen, wenn auch nur indirekt durch Anwendung seiner „insofern"-Technik im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 1 EMRK. Das Ergebnis dieser Technik ist jedoch im Großen und Ganzen dasselbe, als würde man das Xero-Flor-Urteil sententia für nicht existenten erklären: Der Pressemitteilung des CT zufolge ist das
„Die im Tenor des Urteils genannten und aus Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 der Konvention abgeleiteten Normen verstoßen gegen die Bestimmungen der Verfassung und haben daher keine rechtsverbindliche Wirkung."1
Obwohl der CT erneut die Verwendung des Begriffs „ultra vires" vermeidet, argumentieren Kommentatoren, dass es sich dabei um ein Ultra-vires-Argument handelt, das es dem CT ermöglicht, zu entscheiden, welches EGMR-Urteil in Polen umgesetzt werden soll und welches nicht.1 Als Antwort auf dieses Urteil , leitete die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejcinovic Buric, eine Untersuchung gemäß Artikel 52 EMRK ein, was an sich schon ein höchst ungewöhnlicher Schritt ist.2
Antwort des CT auf weitere Urteile des EGMR (Fall K 7/21)
Am 10. März 2022 entschied das CT erneut auf Antrag des Generalstaatsanwalts, dass Artikel 6 § 1 EMRK mit der polnischen Verfassung unvereinbar sei, „soweit"
„(1) Unter dem Begriff „bürgerliche Rechte und Pflichten" umfasst es das subjektive Recht des Richters, eine Führungsposition innerhalb der Struktur der ordentlichen Gerichte im polnischen Rechtssystem zu bekleiden
[...]
im Zusammenhang mit der Beurteilung, ob das Erfordernis eines „durch Gesetz errichteten Gerichts" erfüllt ist:
es erlaubt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und/oder nationalen Gerichten, die Bestimmungen der Verfassung und der Gesetze sowie die Urteile des polnischen Verfassungsgerichts außer Acht zu lassen,
ermöglicht es dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und/oder nationalen Gerichten, durch Auslegung der Konvention eigenständig Normen für das Verfahren zur Ernennung nationaler Richter zu schaffen
[...]
ermächtigt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und/oder nationale Gerichte, die Verfassungs- und EMRK-Konformität von Gesetzen über die Organisationsstruktur des Justizsystems, die Zuständigkeit der Gerichte und das Gesetz zur Festlegung der Organisationsstruktur und des Tätigkeitsbereichs zu beurteilen , Modus
Operandi und die Art und Weise der Wahl der Mitglieder des Nationalen Justizrates
[.].'[1]
Der Hintergrund dieses Falles unterscheidet sich von den beiden vorherigen Beispielen. Der Fall betraf nicht die Zusammensetzung des CT, sondern stand im Zusammenhang mit der Beteiligung des neuen NCJ an der Richterwahl nach der umfassenden Umstrukturierung im Jahr 2017.2 Während der EuGH die Führung übernommen hatte, indem er unangemessene politische Einmischung in die Wahl polnischer Richter kritisierte über die Reform des NCJ im Jahr 2017 im A.K. Urteil (oben erwähnt)3. In den Jahren 2021 und 2022 erließ der EGMR eine Reihe von Urteilen, die zu demselben Ergebnis kamen.4 In diesen Urteilen stellte der Gerichtshof in Straßburg ungewöhnlich deutlich fest, dass dies der Fall sei
„Den Feststellungen des Gerichtshofs liegt inne, dass die Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer auf die Änderungen der polnischen Gesetzgebung zurückzuführen ist, die der polnischen Justiz das Recht entzogen, richterliche Mitglieder des NCJ zu wählen, und es der Exekutive und der Legislative ermöglichten, direkt oder indirekt in die Entscheidung einzugreifen." ein Verfahren zur Ernennung eines Richters, wodurch die Legitimität eines Gerichts, das sich aus den so ernannten Richtern zusammensetzt, systematisch gefährdet wird."2
In einem anderen Fall stellte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, da es völlig an Rechtsbehelfen gegen die vorzeitige Beendigung der Amtszeit der Beschwerdeführer als Vizepräsidenten eines Landgerichts mangelte.2
Das Urteil in der Rechtssache K 7/21 ähnelt in mancher Hinsicht dem Urteil in der Rechtssache K 6/21. In beiden Fällen nutzt die CT ihre „Insofern"-Technik. Auch hier wurde Artikel 6 Abs. 1 EMRK selbst vom Generalstaatsanwalt auf den Prüfstand gestellt. In gleicher Weise vermeidet das CT den Begriff „ultra vires", verwendet aber am Ende ein Argument vom Typ „ultra vires". Interessanterweise unterscheidet sich die vom CT verwendete Rechtstechnik bei näherer Betrachtung erheblich vom vorherigen Urteil. Das Hauptargument betrifft hier nicht das angebliche Missverständnis des EGMR über zentrale Merkmale des polnischen Rechtssystems, sondern vielmehr den „gesetzgeberischen Charakter" der Urteile des EGMR. Das angebliche Missverständnis erscheint nur als eine Art Nebenprodukt, wenn die CT dies vertritt
„In der Regel vermeidet das Verfassungsgericht der Republik Polen Rechtskonflikte mit der internationalen Rechtsordnung und stützt sich dabei auf den Grundsatz der günstigen Auslegung der Verfassung im Hinblick auf die internationale Rechtsordnung oder die Konflikte zwischen Gesetze Regeln. Dies war im vorliegenden Fall jedoch nicht möglich, da die Ursache des Problems in der offensichtlich fehlerhaften Tätigkeit des EGMR bei der Schaffung von Normen aus Artikel 6 Absatz 1 der Konvention liegt, bei der sich der EGMR auf sein falsches Verständnis des EGMR berief Polnisches Rechtssystem.'2
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[1] CT, Judgment of 10 March 2022, Case K 7/21, Operative Part of the Judgment (translation according to <https://trybunal.gov.pl/en/>).
Das zentrale Argument ist nun der „gesetzgeberische Charakter" der Urteile des EGMR, mit dem Ergebnis, dass – so das CT – „außerhalb des verfassungsmäßigen Verfahrens zur Ratifizierung eines internationalen Abkommens, d. e. „ohne die Zustimmung des Staates" hat der EGMR einen neuen Inhalt der Konventionsnorm geschaffen.2 Im Fall K 7/21 greift der CT also die vom EGMR auf internationaler Ebene vorgenommene Auslegung an und stützt sich dabei auf die ursprünglich erteilte Zustimmung des EGMR der polnische Staat im Zuge der Ratifizierung des Übereinkommens.
Was die Konsequenzen seines Urteils anbelangt, vertritt der CT die Auffassung, dass es „die Streichung der genannten Normen aus dem Rechtssystem und folglich der vier Urteile, die der EGMR auf dieser Grundlage erlassen hat, zur Folge hat". Der CT fügt hinzu, dass „diesen Urteilen für den polnischen Staat die in Artikel 46 der Konvention festgelegte Eigenschaft (die Verpflichtung zur Urteilsvollstreckung) fehlt."2 Aus dieser Aussage könnte man schließen, dass dies bei der Beseitigung der (angeblichen) Normen nicht der Fall ist beziehen sich nur auf das polnische Rechtssystem, sind aber gültig
CT, auch auf internationaler Ebene. Im Fall K 6/21 war es in dieser Hinsicht hingegen unklarer: Hier stellte das CT fest, dass die identifizierten Normen des Artikels 6 Abs. 1 EMRK „gegen die Bestimmungen der Verfassung verstoßen und ihnen daher keine rechtsverbindliche Kraft zukommt". .2 Die Berufung auf einen Verstoß gegen die Verfassung hätte dahingehend interpretiert werden können, dass die Rechtsverletzung nur in der polnischen Rechtsordnung wirksam werden sollte. Im Fall K 7/21 stellt der CT klar, dass der polnische Staat völkerrechtlich nicht an die Urteile des EGMR gebunden ist. Schließlich versucht der CT, sein Urteil als „einen Einwand des Staates gegen den Versuch darzustellen, eine internationale Verpflichtung durch Hinzufügung neuer Inhalte umzugestalten und sie Polen per facta Schlussfolgerung aufzuzwingen, außerhalb des Verfahrens zur Änderung von Verträgen".3 So Obwohl das CT im Fall K 7/21 eine andere Technik anwendet, kommt es zu einem Ergebnis, das dem „sententia non existens"-Urteil der Entscheidung vom 15. Juni 2021 sehr ähnelt.
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