2. Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Formen des Widerstands
Die Meinungsverschiedenheit zwischen dem EGMR und einem nationalen Akteur ist von zentraler Bedeutung für das prinzipielle Widerstandskonzept. Daher ist es wichtig zu wissen, wo aus völkerrechtlicher Sicht Meinungsverschiedenheiten zulässig sind und wo nicht. Hier kommt die Unterscheidung zwischen dem res judicata-Prinzip und dem res interpretata-Prinzip ins Spiel.1 Artikel 46 Abs. 1 EMRK begründet die Verbindlichkeit von Straßburger Urteilen, jedoch nur für die Verfahrensbeteiligten. Daher ist es allgemein anerkannt, dass ein beklagter Staat an ein Urteil des EGMR gebunden ist, was als „Grundsatz der Rechtskraft" bezeichnet wird. Es wird auch anerkannt, dass dieser Grundsatz keinen Raum für Ausnahmen lässt, auch nicht in Fällen, in denen es um die „nationale Identität" eines Staates geht. Somit sind die oben genannten Widerstandstechniken nach dem Grundsatz der Rechtskraft unzulässig.
Allerdings stellt sich die Frage, ob Staaten, die sich nicht am Straßburger Verfahren beteiligt haben, über den bloßen Wortlaut des Artikels 46 Abs. 1 EMRK hinaus an die Auslegung bestimmter Begriffe der Konvention durch den EGMR gebunden sind – daher der Begriff res interpretata. In dieser Angelegenheit sind die Ansichten geteilt. Einige Wissenschaftler plädieren für eine rechtsverbindliche Kraft der Begründung des Gerichtshofs, so dass Urteile des EGMR, die über den Anwendungsbereich von Artikel 46 Abs. 1 EMRK hinausgehen, „erga omnes"-Wirkungen entfalten.1 Andere meinen dagegen, dass über Artikel 46 Abs. 1 EMRK hinaus nur Urteile des EGMR gelten verfügen über Überzeugungskraft, was Raum für Meinungsverschiedenheiten mit der Argumentation des Gerichtshofs lässt.2 Das Konzept des prinzipiellen
Widerstands vertritt diesen letztgenannten Standpunkt. Daher sind nationale Gerichte aus rechtlicher Sicht berechtigt, mit dem Straßburger Gerichtshof nicht übereinzustimmen, soweit es um die res interpretata-Wirkung geht.3 Kommt es jedoch zu einer solchen Meinungsverschiedenheit zu häufig oder in einer zu konfrontativen Sprache, sind die Glaubwürdigkeit und Die allgemeine Position des EGMR könnte untergraben werden. Daher sollten inländische Gerichte ihr „Recht auf Meinungsverschiedenheit" gemäß dem Grundsatz der res interpretata in einer respektvollen Weise nutzen, die die Autorität des Gerichtshofs nicht untergräbt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es zu Situationen kommt, in denen Urteile des EGMR dauerhaft nicht umgesetzt werden.4
Unterscheidung des prinzipiellen Widerstands von anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen
Konzepte
Das prinzipielle Widerstandskonzept unterscheidet sich erheblich von anderen wissenschaftlichen Konzepten, die in den letzten Jahren zur Analyse des Widerstands gegen internationale Gerichte oder Tribunale entwickelt wurden. Das Konzept „Backlash vs. Pushback" ist ein typisches Beispiel. Obwohl es gewisse Ähnlichkeiten mit dem prinzipiellen Widerstandskonzept aufweist, ist „Backlash vs. Pushback" viel weitreichender, da es sich nicht auf Umsetzungsdefizite konzentriert. „Backlash vs. Pushback" umfasst Widerstandshandlungen, die weit über die Nichtumsetzung eines Urteils hinausgehen, etwa die Blockierung der Wiederwahl von Richtern, die Ablehnung der Anerkennung der Zuständigkeit eines internationalen Gerichts oder die gänzliche Schließung eines internationalen Tribunals. 1 Die Breite dieses Konzepts ermöglicht eine Analyse der gesellschaftspolitischen Implikationen, ist jedoch für eine genuin rechtliche Analyse weniger geeignet.
Auch die Konzentration auf Defizite in der Umsetzungsphase eines EGMR-Urteils fehlt im Konzept des „angemessenen Widerstands". Dieses Konzept befasst sich hauptsächlich mit der Strategie nationaler Gerichte, „den Rückgriff auf Grundprinzipien als Instrument zur Missachtung des Völkerrechts zu rechtfertigen".1 Im Gegensatz zu „Backlash vs. Pushback" geht es dabei um die rechtliche Argumentation, die vorgebracht wird, um die Missachtung des Völkerrechts zu rechtfertigen. Allerdings ist auch der Begriff des „angemessenen Widerstands" weitaus weiterreichend als das prinzipielle Widerstandsparadigma, da er Abweichungen von völkerrechtlichen Vertragspflichten als solchen (auch ohne gerichtliche Entscheidung), Normen des Völkergewohnheitsrechts, EU-Recht usw.2 Im Vergleich zum prinzipiellen Widerstandskonzept sind die Ergebnisse dieses wissenschaftlichen Konzepts daher weniger konkret.
Das Konzept der „Kritik am EGMR"1 hat trotz gewisser Überschneidungen mit dem prinzipiellen Widerstandskonzept wiederum einen anderen Schwerpunkt. Dabei wird zwischen verschiedenen Schweregraden der Kritik unterschieden, die von spärlich, moderat, stark bis feindselig reichen. Eine potenzielle Stärke dieses Konzepts besteht darin, dass es ein ganzheitliches Bild der Einhaltung des EGMR ermöglicht.
Gleichzeitig geht dieser übergreifende Ansatz zu Lasten der Genauigkeit und des Detaillierungsgrades, soweit es um die „pathologischen" Fälle geht, die den Kern des prinzipiellen Widerstandskonzepts bilden.
Andere wissenschaftliche Arbeiten, wie etwa die „allererste umfassende empirische Analyse der Nutzung der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die Argumentation innerstaatlicher Gerichte"1, gehen aus offensichtlichen Gründen über den Rahmen des prinzipiellen Widerstands hinaus. Schließlich könnte man sagen, dass sich prinzipieller Widerstand in wissenschaftlichen Schriften durchgesetzt hat. Obwohl gelegentlich kritische Kommentare geäußert wurden2, wird das Konzept von einer wachsenden Zahl von Wissenschaftlern mit Zustimmung zitiert.3 Daher gibt es gute Gründe zu argumentieren, dass das prinzipielle Widerstandskonzept zu einem etablierten Instrument zur Analyse von Umsetzungsdefiziten geworden ist.4 Das Die Fälle im nächsten Abschnitt veranschaulichen, wie wichtig es ist, sich auf die rechtlichen Techniken zu konzentrieren, die von nationalen Akteuren eingesetzt werden, um Urteile des EGMR zu blockieren.
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