3. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen
Die deutsche Volkswirtschaft ist eine Hochleistungsmaschine, die Jahr um Jahr ein hohes Maß an ma-
teriellem Wohlstand und allen Bürgern zugänglichen öffentlichen Gütern wie einer umfassenden Ge-
sundheitsversorgung und öffentlicher Sicherheit bereitstellt. Ihre Leistungsfähigkeit wird von einem
hohen Maß an Arbeitsteilung innerhalb und außerhalb des Landes getragen. Die Voraussetzung dafür
ist, dass der überwiegende Teil aller bestehenden Unternehmen und Arbeitnehmer einsatzfähig ist
und die Integrität des Gesamtsystems nicht in Frage gestellt wird.
Genau dies macht die Volkswirtschaft auch so anfällig wie einen Hochleistungsmotor, denn nur das
gleichzeitige Funktionieren all seiner Bestandteile wahrt die Funktionsfähigkeit des gesamten Sys-
tems. Man kann zwar im Normalbetrieb moderate konjunkturelle Schwankungen wirksam über die
Zeit glätten, vor allem durch Systeme der sozialen Sicherung. So lange die Maschine mehr oder weni-
ger auf Hochtouren läuft, sind kleine Störungen des Systems also kein ernsthaftes Problem. Jeder Ar-
beitstag mehr oder weniger übersetzt sich dann in der Endabrechnung in ein etwas größeres bzw.
kleineres BIP. Diese „normale Welt“ ist jetzt aber außer Kraft gesetzt, wir sind auf unbekanntem Ter-
rain.
Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie
nicht greifen, könnten im Sinne einer „Kernschmelze“ das gesamte System in Frage gestellt werden.
Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie ver-
ändert. Dementsprechend wäre es naiv, davon auszugehen, dass ein Rückgang des BIP um eine zwei-
stellige Prozentzahl, etwa jenseits der 20%, eine lineare Fortschreibung der Verluste aus dem Fehlen
einiger Arbeitstage bedeuten und ansonsten das Gesamtsystem nicht in Frage stellen würde. Aus die-
sem Grund ist die – alle anderen Überlegungen dominierende – Strategie der Eindämmung mit Vor-
kehrungen zu verbinden, um die ökonomischen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten.
Unbedingte Voraussetzung dafür ist, dass die Strategie zur Eindämmung und Kontrolle von Covid-19
auch tatsächlich konsequent durchgesetzt wird. Denn ginge man zu zaghaft vor, würde ebenso die
Überlastung der Kapazitäten der Gesundheitsversorgung drohen wie bei einer anfänglich erfolgrei-
chen, dann aber zu früh gelockerten Strategie. Die einzige gangbare Möglichkeit dürfte daher die Ein-
richtung einer zweistufigen Strategie sein: Sie erfordert (i) die schnellstmöglich umgesetzte, strikte
Unterdrückung der Neuansteckungen setzt, bis die Reproduktionsrate in der Nähe von 1 ist, und
(ii) schließt ein umfassendes und konsequentes System des individuellen Testens und Isolierens der
identifizierten Fälle an.
Das würde dem Rest der Volkswirtschaft wieder eine rasche Rückkehr in annähernden Normalbetrieb
erlauben und die Aussicht eröffnen, dass diese Krise nicht größer wird als die Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise 2009. Es wäre natürlich am besten, könnte man diese zweite Stufe sofort einleiten und so
volkswirtschaftliche Verluste vermeiden. Aber das ist nicht möglich, die Testkapazitäten müssen erst
aufgebaut werden. So lange das nicht geschehen ist, bleibt nur der „Holzhammer“ („The Hammer“)
der starken sozialen Distanzierung, ungeachtet des genauen Infektionszustands aller Betroffenen.
Die Zeit, die mit dieser ersten Stufe gekauft wird, muss rigoros für die Entwicklung der Teststrategie
für die zweite Stufe verknüpft werden. Aus ökonomischer Sicht gilt es, während dieser Zeit Haushal-
ten und Unternehmen akute Unterstützungsleistungen zu gewähren und die Basis dafür zu schaffen,
dass beim Einstieg in die zweite Stufe die Voraussetzungen für einen Neustart der wirtschaftlichen
Aktivitäten vorhanden sind.
Die Bereitstellung umfangreicher finanzieller Mittel für den Finanzsektor kann dabei nur ein Teil der
wirtschaftspolitischen Weichenstellungen sein. Denn verschiedene Faktoren machen die aktuelle
Krise (auch bei vergleichbaren Schrumpfungsraten) gravierender als die Wirtschaftskrise 2009. Die
damalige Krise ging vom Finanzsektor aus und traf insbesondere die Industrie. Die COVID-19-Krise
greift breiter in das Wirtschaftsleben ein, trifft ebenso Dienstleister und wird damit stärker auf den
Arbeitsmarkt wirken. Gleichzeitig konnten die Stabilisierungsmaßnahmen 2009 auf den Finanzsektor
als systemrelevantes Schlüsselelement konzentriert werden. Eine solche „Quarantäne“ eines Sektors
ist bei COVID-19 unmöglich. Selbst bei vergleichbaren Schrumpfungsraten wird die COVID-19 -Krise
breiter, tiefgreifender und länger sein als die Finanzkrise.
Szenarien wirtschaftlicher Entwicklungen
Diese Schlussfolgerung lässt sich bereits anhand grober Überschlagsrechnungen illustrieren, die viel-
fältige Anpassungsprozesse und Komplikationen außer Acht lassen. Die hier vorgelegten Abschätzun-
gen beruhen auf VGR-basierten Bottom-up-Schätzungen zur Bedeutung der Krise für die unterschied-
lichen Wirtschaftsbereiche. Es wird hier bewusst keine makroökonomische Modellierung angestrebt,
da deren Funktionalität angesichts der erheblichen und vor allem dynamischen Veränderungen zahl-
reicher Variablen für die gegenwärtige Situation zweifelhaft ist. Die ermittelten Werte für die Ent-
wicklung von BIP und Wertschöpfung der Industrie basieren auf zahlreichen Setzungen und Annah-
men. Jede für sich ist angreifbar, aber sie dienen zur Ermittlung eines ersten Gesamtbildes in ver-
schiedenen Szenarien. Die Setzungen sind eher konservativ, bilden also eher die obere Mitte der
möglichen Entwicklungen ab und sind keine Worst-Case-Szenarien.
Entscheidend ist: Die Szenarien unterscheiden sich nicht oder nur mittelbar nach der Ausbreitung der
Virusinfektion in Deutschland, sondern nach den politisch durchgesetzten und medizinisch notwendi-
gen Reaktionen darauf. Die Dauer der Unterbrechung normaler Arbeitsteilung und Marktprozesse
(hier national) ist dafür die maßgebliche Einflussgröße.
Szenario 1: „Schnelle Kontrolle“
Das erste Szenario geht davon aus, dass die Ausbreitung der Epidemie nach einer ersten Periode der
Ausgangsbeschränkungen gebremst werden kann und die Fallzahlen innerhalb von sechs Wochen
deutlich heruntergehen. Dies entspricht einem Zeitraum bis zum Ende der Osterferien und gleicht
damit weitgehend dem gegenwärtigen Status-Quo, ggf. ergänzt um die Durchsetzung von Versamm-
lungsverboten. Eine weitere Einschränkung durch Ausgangsbeschränkungen ist hier nicht unterstellt.
Mit Blick auf die wirtschaftlichen Konsequenzen aber auch die sozialen Ungleichheitsfolgen eines län-
ger anhaltenden Homeschooling erscheint dringend geboten, nach den Osterferien die Kindergärten
und Schulen wieder in den Normalbetrieb zu überführen. Im weiteren Verlauf wird die Infektion
durch intensives Testen, Nachverfolgung und Isolation, ggf. Verbot von Großveranstaltungen oder
punktuellen Eingriffen kontrolliert. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben kehrt weitgehend
zurück zur Normalität. Dieses Szenario entspricht den positiven Erfahrungen aus Ostasien.
Nach der Phase der Ausgangsbeschränkungen von 1,5 Monaten wird für wesentliche Industriebran-
chen mit einem weiteren Monat massiver Störungen durch geschlossene Grenzen und damit verbun-
den unterbrochene Lieferketten ausgegangen. Damit wird unterstellt, dass die Pandemie zumindest
in Europa ein vergleichbares Zeitprofil aufweist; besondere Unsicherheiten begründet die Entwick-
lung in USA, dorthin sind aber die Vorleistungsabhängigkeiten geringer.
Auf die Phasen des Einbruchs folgen zwei Monate mit verminderten Störungen, in denen die wirt-
schaftliche Tätigkeit schrittweise wieder zur Normalität übergeht. Für weitere drei Monate werden
Nachholeffekte berücksichtigt, die in jedem dieser Monate ein Drittel der in einem Krisenmonat ver-
lorenen Wirtschaftsleitung ausgleichen.
Dieses Szenario kommt zu einem Einbruch des BIP um 4 Prozent gegenüber dem Referenzszenario
und ist als wirtschaftlicher Best-Case anzusehen. Für die Industrie bedeutet dies ein Minus von 9 Pro-
zent. Zum Vergleich: In der Weltwirtschaftskrise 2009 ist das BIP um 6 Prozent gefallen, die Wert-
schöpfung der Industrie um 19 Prozent. Auf den Staatshaushalt kämen Mehrausgaben und Minder-
einnahmen in einer Größenordnung von 80 Mrd. Euro zu. Die hier unterstellten Entwicklungen füh-
ren also zu einem etwas schwächeren Rückgang des BIP als 2009, der Dienstleistungssektor wäre hin-
gegen stärker betroffen. Die darin enthaltenen Abwärtsrisiken machen aber plausibel, von einer im
Großen und Ganzen mit der Weltwirtschaftskrise vergleichbaren Abwärtsdynamik auszugehen.
Szenario 2: „Rückkehr der Krise“
Das zweite Szenario unterstellt, dass es mit Ausgangsbeschränkungen von zwei Monaten gelingt, die
Verbreitung der Infektion massiv einzudämmen. Anschließend ist ein weitgehend normales Wirt-
schaftsleben möglich. Allerdings kommt es in der zweiten Jahreshälfte zu einer Wiederkehr der Epi-
demie in nicht weniger dramatischen Dimensionen. Auch für das folgende Jahr ist mit solch einer Ent-
wicklung zu rechnen.
Die wirtschaftliche Aktivität würde in den Monaten der Ausgangsbeschränkungen erheblich reduziert
sein, sich in den beiden Folgemonaten schrittweise wieder auf Normalmaß zurückbewegen. Auf-
grund des erwarteten erneuten Ausbruchs der Krankheit kommt es nicht zu Nachholeffekten. Im
Herbst werden ebenfalls zwei Monate mit Ausgangsbeschränkungen und zwei der Erholung unter-
stellt.
Für die Gesamtwirtschaft bedeutet dieses Szenario einen Rückgang von 11 Prozent, für die Industrie
ein Minus von 19 Prozent. In der Industrie ähnelt dies damit der Krise von 2009, im Service-Sektor ist
der Rückgang erheblich ausgeprägter. Allerdings ist dieses Szenario deshalb deutlich kritischer als die
Krise von 2009, weil hier auch für das nächste Jahr mit einer doppelten Infektionswelle zu rechnen
wäre. Die Krise würde also doppelt so lange dauern, was nicht vergleichbar mit 2009 und dem folgen-
den Aufschwungsjahr 2010 wäre.
Szenario 3: „langes Leiden “
Das dritte Szenario geht davon aus, dass ein schnelles Eindämmen der Epidemie nicht gelingt. Aus-
gangsbeschränkungen von vier Monaten sind notwendig, also bis zu den Sommerferien Mitte Juli.
Anschließend werden keine nennenswerten Einschränkungen für das wirtschaftliche Leben vorge-
nommen. Entsprechend wird eine deutlich gedämpfte wirtschaftliche Aktivität für vier Monate und
eine Rückkehr zur Normalität in weiteren zwei Monaten unterstellt. In drei weiteren Monaten gibt es
Nachholeffekte, aber aufgrund der Krisenerfahrung und der hohen Unsicherheit nur in geringerem
Ausmaß.
Für die Gesamtwirtschaft ist hier ein Rückgang von 9 Prozent zu erwarten, für die Industrie von 15
Prozent. Dabei dürfte dies eher eine optimistische Annahme sein. Nicht berücksichtigt sind hier mög-
liche sich selbst verstärkende Effekte, die mit der langen Zeit der Krise auftreten. Wenn eine syste-
matische Abwärtsspirale entsteht, nicht nur ein Einbruch auf ein dann vier Monate stabiles niedrige-
res Niveau, sind hier tiefere Einschnitte zu befürchten, dies gilt auch bei einer weiteren Verlänge-
rung.
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