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I. Einführung

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in ihrem Ergebnis und in ihrer Begründung richtig und wird das deutsche Strafverfahrensrecht in einem praktisch erheblichen Punkt ändern. Wie diese Änderung im Einzelnen aussehen könnte, soll Gegenstand dieses Beitrages sein. Darüber hinaus ist zu hoffen, dass der Bundesgerichtshof die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass nimmt, grundsätzlich seine Haltung zu der Frage zu prüfen, wie mit Verstößen gegen das Völkerrecht im deutschen Strafverfahren umzugehen sei.
Zusammengefasst hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass erstens ein ausländischer Beschuldigter bereits bei seiner Festnahme durch Vertreter der Staatsgewalt - in der Regel die Polizei - über sein Recht zu belehren ist, das Konsulat seines Landes von der Festnahme verständigen zu lassen und ihm weitere Mitteilungen zu machen. Dieses Recht folgt aus Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK).1 Allerdings soll diese Belehrungspflicht nur dann schon bei der Festnahme entstehen, wenn bereits für diesen Zeitpunkt die Umstände darauf hinweisen, dass der Beschuldigte Ausländer ist. Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass ein Unterlassen jener Belehrung ein Verfahrensverstoß ist, der revisibel sein muss: Es muss im Strafverfahren eine Instanz geben, vor der man diesen Verstoß rügen und die ihm eine Rechtsfolge zuordnen kann. Die strafprozessualen Folgefragen lauten nun, wie, wann und durch wen genau die Belehrung stattzufinden habe und was gelte, wenn sie ausbleibt; dabei sollte man zwischen Neu- und Altfällen unterscheiden. Vor der Erörterung dieser Fragen in aller Kürze zur Vorgeschichte des verfassungsgerichtlichen Urteils:
Schon im Jahre 2001 hatte Art. 36 WÜK für eine aufsehenerregende Gerichtsentscheidung gesorgt, und zwar für ein Urteil des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag. Gegenstand dieses Urteils war der Fall der Brüder LaGrand. Sie hatten 1982 im US-Bundesstaat Arizona eine Bank überfallen und dabei deren Filialleiter erschossen und eine Angestellte schwer verletzt; die Brüder, Karl und Walter mit Namen, waren zur Tatzeit 18 beziehungsweise 19 Jahre alt. Sie wurden 1984 in Arizona zum Tode verurteilt.2 Noch vor dieser Verurteilung hatten die amerikanischen Behörden erfahren, dass beide Brüder ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen (ihre Mutter war Deutsche, sie waren in Deutschland geboren und hatten zu keinem Zeitpunkt die amerikanische Staatsangehörigkeit erhalten - wenngleich sie seit ihrer frühen Kindheit in den Vereinigten Staaten gelebt hatten und ihre unehelichen Väter ebenso wie ihr Adoptivvater Amerikaner waren). Über ihr Recht aus Art. 36 WÜK hatte man sie nicht belehrt. Sie erfuhren von diesem Recht erst 1992, vermutlich - Näheres wurde nie geklärt - von Mithäftlingen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Oberste Gericht von Arizona die Rechtsmittel der LaGrand-Brüder gegen ihre Verurteilung bereits zurückgewiesen. Die Brüder wandten sich nun an das deutsche Konsulat, das für sie zuständig war, und wurden von ihm mit einem neuen Rechtsbeistand versorgt. Der legte vor Bundesgerichten ein weiteres Rechtsmittel ein, um die Verurteilung in Arizona aufheben und die Brüder auf freien Fuß setzen zu lassen. Begründet wurde das Rechtsmittel unter anderem damit, dass das Recht auf konsularischen Beistand verletzt worden sei. Die Bundesgerichte wiesen das Rechtsmittel in drei Instanzen stets als unzulässig zurück. Sie beriefen sich dabei auf die US- amerikanische Regel, dass vor den Bundesgerichten nichts mehr vorgebracht werden dürfe, was schon vor den Gerichten eines Bundesstaates hätte vorgebracht werden können (procedural
1 BGBl. 1969 II S. 1585.
2 Eingehend zu der Geschichte dieses Falles Weigend in: FS Lüderssen (2002) S. 463 (ff.).

default rule), also eine Verwirkungsregel; freilich mit der Besonderheit, dass sie allein auf das objektive Vorhandensein eines Umstandes abstellt und nicht auch darauf, ob der Beschuldigte nach seinem Wissensstand und seinen Fähigkeiten in der Lage war, auf diesen Umstand hinzuweisen. Daraufhin wurde Karl LaGrand am 24. Februar 1999, das heißt 17 Jahre nach der Tat hingerichtet. Die Hinrichtung seines Bruders folgte eine Woche später am 3. März 1999, und zwar noch nachdem der IGH an dem gleichen Tag eine einstweilige Anordnung gegen die USA erlassen hatte, die Hinrichtung aufzuschieben. Der Präsident der USA hatte die Anordnung unverzüglich an die Gouverneurin des Staates Arizona weitergeleitet; die hatte indes gemeint, sich um dergleichen nicht kümmern zu müssen. Deutschland verklagte die Vereinigten Staaten vor dem IGH wegen einer Verletzung des WÜK und bekam Recht.3 Der IGH äußerte im Wesentlichen das, was jetzt auch das deutsche Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf ihn ausgesprochen hat. Er hat seine Rechtsprechung zudem 2004 in der Avena-Entscheidung bestätigt.4

Die deutsche Polizei hat sich bislang um Art. 36 WÜK kaum gekümmert und von dieser Vorschrift oft auch keine Kenntnis gehabt. Belehrt worden sind ausländische Beschuldigte indes - jedenfalls in der Regel - durch die Haftrichter (§§ 115,115a, 128 StPO), und zwar gemäß der Nummer 135 der Richtlinien über den Geschäftsverkehr mit ausländischen Vertretungen in Strafsachen (RiVASt). Diese Vorschrift entspricht Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b WÜK weitgehend. Allerdings hat jene Belehrung kaum je einen Beschuldigten bewogen, konsularischen Beistand in Anspruch zu nehmen. Vermutlich auch deshalb, weil die Belehrung lediglich das Recht erwähnen muss, das Konsulat zu benachrichtigen, und nicht den Hinweis zu enthalten braucht, dass sich das Konsulat für die Verteidigung des Beschuldigten einsetzen kann und dies in vielen Fällen auch tut. Denn in einer Benachrichtigung allein dürften die meisten ausländischen Beschuldigten allenfalls die Möglichkeit erblicken, nun auch noch die staatlichen Stellen ihres Heimatlandes auf ihr Verhalten aufmerksam zu machen, und das werden viele für eine Verschlechterung ihrer Lage halten.

Der Bundesgerichtshof hat die eben geschilderte Praxis mitgetragen. In den Beschlüssen, die Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geworden sind, verwirft er die Revisionen der Beschuldigten als unbegründet. Zum einen sei tatsächlich erst der Haftrichter die nach Art. 36 WÜK zuständige Behörde, und zweitens sei ein Unterlassen der Belehrung eine läßliche Sünde, das heißt im deutschen Strafverfahren für sich genommen folgenlos. Denn der Schutzzweck dieser Norm sei lediglich, ein unbemerktes Verschwinden des Beschuldigten auszuschließen, und dies werde bereits hinreichend durch das Recht gewährleistet, einen Verteidiger hinzuzuziehen und die Aussage zu verweigern (§ 136 Abs. 1 StPO). Zudem würden sonst ausländische Beschuldigte gegenüber Inländern ungerechtfertigt privilegiert.5