1. Wenn die Belehrung fehlt oder zu spät kommt
Das drängendere Problem dürfte derzeit sein, welche Folgen es habe, wenn die Belehrung nach Art. 36 WÜK unterbleibt. Dabei ist dem Unterbleiben dieser Belehrung der Fall gleichzustellen, dass der Festgenommene die Belehrung nicht versteht. Für die Belehrung über das Recht zu schweigen hat BGHSt. 39, 349 diese Gleichsetzung für einen Fall anerkannt, in dem der Beschuldigte die Belehrung aufgrund seines geistig-seelischen Zustandes nicht verstanden hatte. Das ist auf Art. 36 WÜK zu erstrecken mit der Ergänzung, dass dort vor allem sprachliche Verstehensschwierigkeiten in Betracht kommen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Art. 36 WÜK bereits verletzt würde, wenn ein Polizist bei der Festnahme nicht die Sprache des Festgenommenen spricht und dieser auch kein Englisch versteht. Lediglich muss dann sichergestellt werden, dass dem Festgenommenen sobald wie möglich von einem Dolmetscher die Belehrung erteilt wird. Denn die Pflicht zu unverzüglicher Belehrung wird durch unverschuldete Verzögerungen nicht verletzt.
Für die Rechtsfolgen eines Belehrungsausfalls kommen grundsätzlich drei Lösungswege in Betracht (mit Folgefragen zu Einzelheiten): erstens ein Verwertungsverbot, zweitens eine Lösung in der Beweiswürdigung, drittens Abschläge bei der Strafzumessung. IGH und Bundesverfassungsgericht lassen dem Bundesgerichtshof weitgehend Freiheit, welchen dieser drei Wege er beschreitet. Dabei kann es dahinstehen, ob Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b WÜK tatsächlich ein Individualrecht des Festgenommenen begründet, wie dies IGH und Bundesverfassungsgericht annehmen.15 Denn selbst wenn ausschließlich der Heimatstaat Inhaber der Rechtsposition ist, ändert das nichts an den Folgen für die Strafverfahren in den Konventionsstaaten, das heißt an dem Erfordernis der Revisibilität von Verstößen und einer Abhilfemöglichkeit. Sie ergeben sich auch so aus dem »effet uti- le«-Gebot des Art. 36 Abs. 2 WÜK.16 Anders wäre es allerdings, wenn der Bundesgerichtshof Recht damit hätte, dass Art. 36 WÜK nur ein spurloses Verschwinden des Festgenommenen verhindern wolle (vgl. oben I). Doch dies ist mit dem IGH und dem Bundesverfassungsgericht zu verwerfen: Es geht darum, konsularischen Beistand zu ermöglichen. Dass dann durch Art. 36 WÜK Ausländer ungerechtfertigt privilegiert würden, wenn die Verletzung dieser Vorschrift im Strafverfahren Folgen habe, ist dem Bundesgerichtshof (oben I) nicht zuzugeben. Zwar handelt es sich um eine Privilegierung. Sie ist aber berechtigt, weil sie die besondere Schutzbedürftigkeit von Menschen in einem fremden Land ausgleicht. Gerade dies ist der Sinn konsularischen Schutzes!17 - Wenden wir uns zunächst den Neufällen zu, das heißt Belehrungsfehlern, die nach der Verkündung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 19. September 2006 vorkommen.
Neufäl le
aa) Eine Lösung in der Beweiswürdigung ist nur möglich, wenn es etwas zu würdigen gibt, das heißt wenn der Festgenommene Angaben zur Sache gemacht hat, die keine sogenannten Spontanäußerungen sind. Zwar hätte eine solche Lösung in der Beweiswürdigung auf den ersten Blick ein Vorbild in der Rechtsprechung zur Missachtung der Pflicht, einem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu stellen, wenn im Ermittlungsverfahren eine Zeugenvernehmung zu erwarten ist, an welcher der Beschuldigte nicht teilnehmen darf.18 Jedoch geht es bei der Beweiswürdigung um etwas kategorial anderes als bei den Rechten auf einen Pflichtverteidiger und auf einen Kontakt mit dem Konsulat. Die Beweiswürdigung bezieht sich auf etwas, das tatsächlich vorliegt und dessen Wahrheitsgehalt zu ermitteln ist. Das Fehlen eines Verteidigers oder konsularischen Beistandes hingegen ist bereits dafür erheblich, ob es überhaupt zu einem Beweis, einer Einlassung des Beschuldigten kommt. Daher verbietet sich bei Mängeln in der Belehrung gemäß Art. 36 WÜK eine Abhilfe in der Beweiswürdigung als ungeeignet.
bb) Auch für eine Lösung in der Strafzumessung fänden sich Parallelen. Als eine solche drängt sich jene Rechtsprechung geradezu auf, der zufolge Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch eine »Kompensation« im Strafmaß ausgeglichen werden sollen.19 Das ist aber kategorial noch verkehrter als eine Lösung in der Beweiswürdigung. Die Strafe soll die Schuld des Verurteilten abgelten und idealerweise präventive Wirkungen entfalten, aber nicht den Staat für ein besonders ordnungsgemäßes Verfahren belohnen. Und soweit ein Verfahrensfehler immerhin die Möglichkeit begründet, dass es ohne ihn gar nicht zu einer Verurteilung hätte kommen können, ist ein bloßer Strafnachlass auch ungenügend, um den Fehler auszugleichen. Zudem hat ein solcher Nachlass kaum die disziplinierende Wirkung auf die Strafverfolgungsorgane, die von anderen Rechtsfolgen, vor allem natürlich von einem Verwertungsverbot ausgehen können. Denn das Ob der Verurteilung
12 IGH (Fn. 4) unter Ziffer 64.
13 BGH NStZ 2006, 647 (648).
14 BGHSt. 47, 233 (234 f.); 42, 15 (19 f.) (jew. 5. Senat); einschränkend der 1. Senat in BGHSt. 42, 170 (172 f.) für den Fall, dass es »wenig Aussichten« gibt, »am Vernehmungsort einen Rechtsanwalt zu erreichen«; weiter dann wieder in NStZ 2006, 236 (237); wie der 5. Senat Beulke (Fn. 8) Rdn. 156.
Zust. Tams (Fn. 3) S. 326; m. beachtlicher und eingehender Begründung a. A. Hillgruber (Fn. 3) S. 96 ff.
Hillgruber (Fn. 3) S. 97 f.
Hillgruber (Fn. 3) S. 96 f.
BGHSt. 46, 93 (99); weitere Nachweise bei Beulke (Fn. 8) Rdn. 171, wo jene Rechtsprechung als »wenig überzeugend« bezeichnet wird.
Siehe BGHSt. 45, 321, und vergleiche T. Walter StraFo 2004, 224 (227). Kritisch zu dieser Strafzumessungslösung bei unzulässigem Einsatz von Lockspitzeln Kinzig StV 1999, 288 ff. bleibt bei einer »Kompensation« unangetastet. Sie ist darüber hinaus leicht zu unterlaufen, indem das Gericht einfach - ob nun unbewusst oder mit Kalkül - eine höhere Einsatzstrafe wählt und dann nach Abzug des kompensatorischen Strafnachlasses just zu dem Ergebnis gelangt, zu dem es auch sonst gelangt wäre. Der Vorteil einer Strafzumessungslösung liegt allerdings darin, dass sie unabhängig davon möglich ist, ob der Festgenommene vor einer Belehrung nach Art. 36 WÜK Angaben zur Sache gemacht hatte. Hatte er dies nicht getan, fragt sich andererseits, warum man ihm die Wohltat einer Strafmilderung zukommen lassen sollte? Es bleibt dann nicht nur dabei, dass der Verfahrensfehler und das Strafmaß kategorial nichts miteinander zu tun haben, sondern es ist in dieser Lage noch einmal weniger gewiss, dass sich der Fehler im Verfahren auf dessen Ergebnis ausgewirkt hat. Wohl bleibt dies weiterhin möglich. So mag ein Verurteilter einwenden, mit konsularischer Unterstützung hätte er sich einen Verteidiger leisten können, und dessen Mitwirkung würde die Beweisaufnahme zugunsten des Verurteilten beeinflusst haben. Doch derartige Hypothesen sind noch schwieriger zu prüfen als die Hypothese, dass eine tatsächlich gemachte Angabe des Verurteilten vollständig hinweggedacht wird (weil ihm, was naheliegt, ein vom Konsul beauftragter Verteidiger geraten haben würde zu schweigen). Immerhin und jedenfalls bleibt für eine Strafmilderung ins Feld zu führen, dass sie einen völkerrechtlichen Ausgleich schafft für die Verletzung des WÜK und dass sie gegenüber den Strafverfolgungsbehörden eine gewisse disziplinierende Wirkung entfaltet.
cc) Hat ein Festgenommener vor seiner Belehrung gemäß Art. 36 WÜK Angaben gemacht, die über Spontanäußerungen hinausgehen, bleibt als dritte denkbare Rechtsfolge ein Verwertungsverbot. Auch für diesen Weg springt eine Parallele ins Auge, und zwar zu jener Rechtsprechung, dass Angaben eines Beschuldigten grundsätzlich unverwertbar seien, wenn er zuvor nicht über sein Recht belehrt worden war, einen Verteidiger beizuzie- hen.20 Stimmt man dem Vorschlag oben zu, dass bei einer Festnahme routinemäßig gemäß Art. 36 WÜK zu belehren ist, und stimmt man dem weiteren Vorschlag zu, diese Belehrung mit dem Hinweis zu verbinden, dass vom Konsulat eine Unterstützung zu erhoffen sei, so gleicht die Belehrung inhaltlich praktisch vollständig jener gemäß § 136 StPO hinsichtlich des Rechts, einen Verteidiger beizuziehen. Der Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dieser Analogie (Absatz-Nr. 71 der Entscheidung) ist dann nicht mehr berechtigt; dass sich die Belehrungen nach § 136 StPO und nach Art. 36 WÜK »überschnitten« und § 136 StPO an die Vernehmung anknüpfe, während Art. 36 WÜK auf die Festnahme abstelle, leuchtet nicht als ein Argument ein, Verstöße gegen die genannten Belehrungspflichten unterschiedlich zu behandeln. Dies selbst dann, wenn man die Belehrung nach Art. 36 WÜK nicht, wie hier vorgeschlagen, zu einer Routine machen und nicht mit dem Hinweis verbinden will, dass vom Konsulat Unterstützung zu erhoffen sei.
Allerdings führt ein Ausfall der Belehrung über das Recht, einen Verteidiger beizuziehen, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht allemal zu einem Verwertungsverbot. Ihr zufolge bleiben die Angaben vielmehr verwertbar, wenn der Beschuldigte sein Recht kannte oder wenn ein verteidigter Angeklagter der Verwertung nicht bis zu dem Zeitpunkt nach § 257 StPO widerspricht (Zeitpunkt der Frage des Vorsitzenden, ob der Angeklagte zu einer soeben abgeschlossenen Beweiserhebung etwas zu erklären habe). Zudem soll bei Zweifeln, ob man den Angeklagten ordnungsgemäß belehrt hatte, davon auszugehen sein, dass dies geschehen sei. Das Schrifttum lehnt diese Widerspruchslösung in weiten Teilen ab.21 Dies mit gutem Grund, denn die Widerspruchslösung bleibt in einer Weise von den Fähigkeiten des Verteidigers abhängig, die ebenso unnötig wie ungerecht ist. Sie ist unnötig, weil der Vorsitzende mit seiner Frage gemäß § 257 StPO leicht einen Hinweis auf das Widerspruchsrecht und seine Folgen verbinden könnte. Und sie ist ungerecht, weil der einzige Unterschied zu der soeben skizzierten Form in der Chance besteht, den Angeklagten und seinen Verteidiger zu übertölpeln; Wohl und Wehe des Angeklagten hängen von den prozessualen (Grund-)Kenntnissen seines Verteidigers ab und nicht von der Rechtslage. Auf der anderen Seite erschiene ein absolutes Verwertungsverbot ebenfalls unsachgerecht, weil die Einlassungen des Beschuldigten dessen Angelegenheit sind und er daher auch im Nachhinein die Befugnis haben muss, sich eine Einlassung zu eigen zu machen, die sonst unverwertbar wäre und die er nicht noch einmal in allen Einzelheiten öffentlich wiederholen möchte. Als Mittelweg bleibt, was schon vorgeschlagen ist, also eine Widerspruchslösung, in der das Gericht den Angeklagten auf sein Widerspruchsrecht und die Folgen eines Widerspruchs hinzuweisen hat.
Das Bundesverfassungsgericht gibt in seiner hier besprochenen Entscheidung noch zu klären auf, ob sich ein Verwertungswiderspruch umfassend auf ein Beweisthema beziehe - vorliegend die Einlassungen der Beschuldigten - oder lediglich auf ein bestimmtes Beweismittel, namentlich die Zeugenaussage eines bestimmten Vernehmungsbeamten.22 Außerdem sei es zu berücksichtigen, dass sich keiner der Beschuldigten in der Hauptverhandlung ausdrücklich auf einen Verstoß gegen Art. 36 WÜK berufen hatte (am angegebenen Orte). Beides erübrigt sich, wenn man die oben vorgeschlagene Form einer Widerspruchslösung wählt. Denn bei ihr ist nach einer jeden Beweiserhebung der Hinweis auf das Recht zum Widerspruch und dessen Folgen zu geben und wird der Vorsitzende entweder von sich aus erläutern, warum der Widerspruch möglich ist, oder wird man den Vorsitzenden auch noch zu dieser Begründung verpflichten. Jedenfalls kann es keine Rolle spielen, ob und wie es der Angeklagte begründet, wenn er den Widerspruch einlegt.
dd) Im Ergebnis sollte der Instanzrichter also unterscheiden, wenn die Belehrung nach Art. 36 WÜK nicht oder zu spät erteilt worden ist: Hat ein Festgenommener ohne diese Belehrung Angaben gemacht, so ist eine Widerspruchslösung in der oben beschriebenen Art angezeigt. Fehlt eine solche Einlassung, ist die Strafe zu mildern (Kompensation). Das ist zwar eigentlich eine falsche Belohnung an der falschen Stelle, doch noch immer der beste Kompromiss, um erstens den Verstoß gegen die völkerrechtliche Pflicht aus dem WÜK wiedergutzumachen und um zweitens, wenn auch gleichsam pauschaliert, der Eventualität Rechnung zu tragen, dass der Festgenommene sein Konsulat um Hilfe ersucht hätte und sie ihm auch gewährt worden wäre mit der Folge eines günstigeren Verfahrensverlaufes.
Altfälle
Etwas anders ist die Lage bei Altfällen, wobei noch einmal zu unterscheiden ist zwischen solchen Verfahren, die noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, und denen, wo dies der Fall ist.
aa) Für noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren ist die Widerspruchslösung problematisch, sofern der Zeitpunkt des § 257 StPO bereits verstrichen ist. Denn dann hatte das Gericht seinerzeit keinen Anlass, in der oben beschriebenen, qualifizierten Art über die Möglichkeit eines Widerspruchs zu belehren, und Verteidiger und Angeklagter hatten von dieser Möglichkeit ebenfalls keine Kenntnis. Zunächst wird man anzunehmen haben, dass bei einer Zurückverweisung durch das Revisionsgericht in der erneuten Verhandlung vor dem Tatrichter ein Widerspruch aufgrund von Art. 36 WÜK nicht präkludiert wäre; anders als
BGHSt. 47, 172 (174), bis hierhin herrschende Meinung, für das Schrifttum Beulke (Fn. 8) Rdn. 469 mit weiteren Nachweisen.
Beulke (Fn. 8) Rdn. 150; Rogall in: SK StPO vor § 133 Rdn. 178; Heinrich ZStW 112 (2000) S. 398 (415 ff.); Roxin in: FS Hanack (1999) S.1 (21).
Absatz-Nr. 73 der Entscheidung; vgl. BGH StV 2004, 57 (ebd.). dies BGH StV 2006, 396 (f.) für die herkömmliche Widerspruchslösung zu § 136 StPO vorsieht. Zum zweiten wird man die Instanzen vor der Revision verpflichten dürfen, auch im Nachhinein darauf hinzuweisen, dass ein Widerspruch gestützt auf Art. 36 WÜK noch möglich sei, und wird demgemäß einen solchen Widerspruch als nachholbar erachten. Das Gleiche gilt für die Revision selbst. Macht ein Angeklagter dort von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch, so wird eine neue Beweiserhebung und -würdigung erforderlich und ist folglich zurückzuverweisen.
bb) Für rechtskräftig abgeschlossene Verfahren fragt sich, ob eine Wiederaufnahme möglich ist, wenn Art. 36 WÜK verletzt worden war. Für die Antwort kommt § 79 Abs. 1 BVerfGG in Betracht. Nach der dritten Variante dieser Vorschrift ist die Wiederaufnahme möglich, wenn ein Strafurteil »auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist«. Dies könnte alle Strafurteile betreffen, die darauf beruhen, dass der Richter Art. 36 WÜK nicht so ausgelegt hat wie der IGH in seinen Entscheidungen in den Fällen LaGrand und Avena. Unstreitig ist für § 79 Abs. 1 BVerfGG, dass ein »Beruhen« - wie bei §§ 337, 359 Nr. 6 StPO - schon in der bloßen Möglichkeit der Kausalität bestehen kann.23 Auch im Übrigen scheint die Norm auf unseren Fall zu passen, da das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich und in den tragenden Gründen seiner Entscheidung die bisherige Auslegung des Art. 36 WÜK durch den BGH als verfassungswidrig verworfen hat. Jedoch unterscheidet die herrschende Meinung24 für solche Auslegungsrügen zwei Fälle und lässt § 79 Abs. 1 BVerfGG nur den ersten erfassen, das ist die verfassungskonforme Auslegung: Das Verfassungsgericht erklärt eine Norm nur unter der Bedingung für verfassungsgemäß, dass man sie in einer bestimmten Weise auslegt. Die verfassungskonforme Auslegung behebe, so die herrschende Meinung, einen Mangel des Gesetzes, das sonst nämlich für die verfassungswidrige Auslegung offen sei. »Unterläuft einem Strafgericht dagegen bereits ein methodischer Fehler, den das BVerfG als verfassungswidrig qualifiziert [. . .], nimmt das BVerfG keine verfassungskonforme Auslegung vor [. . .]« (Graßhof a. a. O. Rdn. 20). Folglich gelte es, die verfassungskonforme Auslegung infolge von Mängeln des (zu weiten) Gesetzes abzugrenzen von Rechtsanwendungsfehlern. Zu ihnen zählt man ausdrücklich auch die »verfassungsorientierte Auslegung«, die gleichfalls keinen Mangel der Norm behebe, sondern »den Rechtsanwender dazu verpflichtet, neben der einfachrechtlichen Norm weitere verfassungsrechtliche Direktiven zu berücksichtigen [. . .]; sie korrigiert eine ungenügende Berücksichtigung des Grundgesetzes durch die Fachgerichte und nicht einen fehlerhaften Gesetzgebungsakt« (Graßhof a. a. O. Rdn. 21). Nach dieser Abgrenzung dürfte die hier besprochene Entscheidung nicht zur verfassungskonformen Auslegung zählen, sondern lediglich die »verfassungsorientierte« Rüge eines Rechtsanwendungsfehlers sein. Allerdings ist jene Abgrenzung methodisch zweifelhaft (Wortlaut der Norm, Wille des Gesetz- gebers)25 und dogmatisch höchst anspruchsvoll, denn jede Rüge einer »an sich« möglichen Auslegung als verfassungswidrig ist ein Drängen auf nicht verfassungswidrige, das heißt verfassungskonforme Auslegung. Einen greifbaren Unterschied gäbe es, wenn man den Begriff der verfassungskonformen Auslegung darauf beschränkte, Normen von Verfassungs wegen teleologisch zu reduzieren, also entgegen ihrem klaren, auslegungsresistenten Wortlaut auf bestimmte Fälle nicht anzuwenden. Aber das tut man nicht. Auf der anderen Seite ist rechtspolitisch der Wunsch verständlich, die Fachgerichte vor einer Flut von Wiederaufnahmeanträgen zu schützen, wie sie sonst in einigen Fällen - wie dem vorliegenden - möglich wäre. Diesem rechtspolitischen Anliegen ist auch nicht mit der vermittelnden Ansicht abzuhelfen, die Wiederaufnahme bei solchen »schlichten« Rechtsanwendungsfehlern zuzulassen, die einer allgemeinen Praxis entsprechen.26 Denn gerade dann sind von dem Fehler besonders viele Verurteilte betroffen. Für den Widerstreit rechtspolitischer Erwägungen (Entlastung der Strafgerichte) und materieller Gerechtigkeit ist vorliegend indes noch der völkerrechtliche Einschlag zu berücksichtigen: Völkerrechtlich verlangt Art. 36 WÜK eine Revisibilität seiner Verletzungen, die ihm die deutsche Rechtsprechung bislang verwehrt hat. Da das deutsche Recht völkerrechtsfreundlich zu gestalten und auszulegen ist, sollte man diesen Mangel auch für rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren über § 79 Abs. 1 BVerfGG beheben. Um einschlägige Verfahren zahlenmäßig in sachgerechten Grenzen zu halten, bleibt immerhin das Erfordernis des Beruhens, mit dessen Hilfe solche Fälle von einer Wiederaufnahme auszuschließen sind, in denen sich der Belehrungsfehler nicht auf den Ausgang des Verfahrens ausgewirkt haben konnte.
Weitere Fragen
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wirft noch einige Zusatzfragen auf.
Fernwirkungen?
Zum einen ist klärungsbedürftig, ob eine Verletzung des Art. 36 WÜK Fernwirkungen habe, und zwar einmal mit Blick auf das Verfahren des betroffenen Ausländers und zum zweiten mit Blick auf andere Verfahren. Dies zweite verneint die herrschende Meinung klar, soweit es um Belehrungen nach § 136 StPO geht, und zwar unter Hinweis auf deren begrenzten Schutzzweck.27 Doch auch für die betroffenen Ausgangsverfahren nimmt der Bundesgerichtshof bei Beweisverwertungsverboten grundsätzlich an, dass sie keine Fernwirkung entfalten (mit Ausnahme des Verwertungsverbotes gemäß § 7 Abs. 3 des G10).28 Das Schrifttum befürwortet überwiegend eine Fernwirkung, wenn auch unter unterschiedlichen Bedingungen.29 Der Bundesgerichtshof wird nach aller Voraussicht auch in Bezug auf Verletzungen des Art. 36 WÜK auf der eben gezeichneten Linie bleiben. Die Argumente, die dagegen stehen, sind bereits vollständig vorgebracht worden und haben auch für einen Verstoß gegen Art. 36 WÜK Gültigkeit. Einzig bleibt zu wiederholen, dass eine Fernwirkung erst zu erörtern ist, wenn dieser Verstoß einen Beweis erbracht hat; in der Regel eine Einlassung des Beschuldigten.
Verweigerung einer Kontaktaufnahme oder »Erster Hilfe«
Schon angesprochen, doch des erneuten Hinweises wert ist die Forderung, es dem Unterlassen einer Belehrung nach Art. 36 WÜK gleichzustellen, wenn eine Kontaktaufnahme oder eine »Erste Hilfe« hierbei verweigert wird (siehe oben 1).
Benachrichtigung des Konsulats gegen den
Willen des Beschuldigten
Die Richtlinien über den Geschäftsverkehr mit ausländischen Vertretungen in Strafsachen (RiVASt) weisen in Nr. 135 Abs. 2 darauf hin, dass Deutschland gegenüber bestimmten Ländern
23 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, Kommentar, Bd. 2, Loseblatt m. St. März 2006, § 79 Rdn. 29 ff.; Graßhof in: Umbach/ Clemens/Dollinger, BVerfGG, Kommentar, 2. Aufl. 2005, § 79 Rdn. 14; beide m.w. N.; vgl. zu § 359 Nr. 6 StPO Meyer-Goßner StPO, Kommentar, 49. Aufl. 2006, § 359 Rdn. 52 in Verbindung mit § 337 Rdn. 37 m.w. N.; Weigend StV 2000, 384 (388).
24 Für sie Graßhof (Fn. 23) Rdn. 17 ff. m. w. N. und NJW 1995, 3085 (3087 f.); ihm folgend BGHSt. 43, 324 (327). Vgl. BGHZ 151, 316 (323 f.).
25 Näher Angerer/Stumpf NJW 1996, 2216 (ebd.).
26 Vorschlag von Dehn NStZ 1997, 143 (144).
27 Siehe BGHSt. 39, 349 (350 ff.); Beulke (Fn. 8) Rdn. 468 mit weiteren Nachweisen.
28 Siehe BGHSt. 32, 68 (71); 29, 244 (247); 27, 355 (358); BGH NJW 2006, 1361 (1363).
29 Statt aller Beulke (Fn. 8) Rdn. 482 mit weiteren Nachweisen.
völkerrechtlich auch verpflichtet ist, ein Konsulat ohne oder gegen den Willen des Betroffenen zu benachrichtigen. Auch für diese Fälle fragt sich, welche Folgen es habe, wenn die Strafverfolgungsbehörden die Benachrichtigung unterlassen. Klar dürfte sein, dass eine solche Pflicht zur Benachrichtigung nicht im Interesse des Beschuldigten besteht, denn sonst müsste er das Recht haben, die Benachrichtigung zu verhindern. Vielmehr handelt es sich um eine Pflicht, deren einziger Begünstigter das Land ist, dem gegenüber Deutschland sie übernommen hat. Die Reaktion auf Verletzungen jener Pflicht können daher ganz im Völkerrechtlichen bleiben, wobei im Normalfall eine schlichte Entschuldigung gegenüber dem betroffenen Staat genügt.
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