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III. Ist ein Feindstrafrecht

Ist ein Feindstrafrecht legitim und wenn ja, bis zu welchem Maß? Vor jedem Versuch einer Antwort gilt es, zweierlei festzuhalten. Erstens, der Staat muss seine Gestalt nicht mutwillig aufs Spiel setzen; wenn von Feindstrafrecht die Rede ist, bedeutet das nicht sogleich „kurzen Prozeß", „Verdachtsstrafe", gar „öffentliche Vierteilung zur Abschreckung" oder ähnliches (womit das Problem der Grenzziehung freilich noch nicht gelöst ist). Zweitens, die Deduktion einer Antwort auf die Frage nach der Legitimität aus dem ab- strakten Begriff des Rechtsstaats ist nichts wert. Dass ein Staat, der keine Sicherungsverwahrung kennt, der die Bildung einer terroristischen Vereini- gung nur als Tat gegen die öffentliche Ordnung bestraft, dem Kontakt- sperren, Lauschangriffe, V-Leute und vieles weitere fremd sind, dem Ideal eines Rechtsstaates näherkomme als ein Staat, der solche Einrichtungen und Maßnahmen erlaubt, lässt sich nur abstrakt feststellen; konkret mag der Ver-zicht auf diese Einrichtungen das Recht des Bürgers auf Sicherheit16 aus- höhlen, und dieses Recht auf Sicherheit ist nur ein anderer Name für ein Recht auf den Zustand wirklicher Rechtsgeltung. So wie es schon zum Be- griff der Person und auch zu demjenigen der Rechtsgeltung dargelegt wurde, so ist auch ein Rechtsstaat nicht schon deshalb wirklich, weil er gedacht, postuliert wird, und wer der Meinung ist, es müsse beim Rechtsstaat stets alles verwirklicht werden, ohne Abstriche17, der sollte wissen, dass dieses „alles" in der konkreten Wirklichkeit begleitet wird von einem „oder nichts".

Hält man sich von solchen Extremen fern, so geht es um das Erreichbare, um das praktisch Optimale, was heißt, das Feindstrafrecht sei auf das Erfor- derliche zu beschränken, dies ganz unabhängig von dem sowieso bestehen- den Klugheitsgebot, physische Gewalt wegen ihrer korrumpierenden Neben- wirkungen gering zu halten. Aber was ist erforderlich? Zunächst muss dem Terroristen eben dasjenige Recht entzogen werden, das er missbräuchlich für seine Planungen einsetzt, also insbesondere das Recht auf Verhaltens- freiheit. Insoweit verhält es sich nicht anders als bei der Sicherungsverwah- rung, bei der freilich das Problem in aller Regel damit auch erledigt sein dürfte – wenn der Serientäter sicher verwahrt wird, bricht die Serie ab –, während ein terroristischer Alleintäter selten sein dürfte und man eine terro- ristische Vereinigung (oder eine sonst kriminelle Organisation) eben nicht zerschlagen hat, wenn man ein einzelnes Mitglied ausschaltet. Bei der Siche- rungsverwahrung ist also die Beschränkung auf den Freiheitsentzug in der Regel leicht zu leisten; denn mehr bedarf es nicht zur Zweckerreichung.

Aber beim Terroristen (oder sonst kriminell Organisierten) ist diese Be- schränkung nicht selbstverständlich, wie am wohl heikelsten Fall, dem der Vernehmung jenseits der Grenzen von § 136a StPO, verdeutlicht sei. Dass dieser Fall eine polizeirechtliche Problematik betrifft, verschlägt nichts: Das Polizeiliche lässt sich nicht aus dem Feindstrafrecht ausklammern.

Ich nähere mich dem Problem über eine noch neue gesetzliche Regelung, die – unabhängig davon, ob sie sich als verfassungsgemäß erweisen wird – das heutige gedankliche „Klima" der Überlegungen kennzeichnet und die in ihrer systematischen Sprengkraft kaum überschätzt werden kann, nämlich § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes, wonach ein Luftfahrzeug abge- schossen werden darf, „das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll". Die Sprengkraft dieser Vorschrift18 resultiert aus dem Um- stand, dass sie nur dann einen sinnvollen Regelungsgegenstand aufweist, wenn – wie bisher einzig beim Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG19 – (in der Sprache des Militärs so genannte) Kollateralschäden in den Kauf ge- nommen werden dürfen, konkreter, der Tod von Passagieren, die für den Konflikt nicht einmal ansatzweise verantwortlich gemacht werden können.

Damit werden diese bürgerlichen Opfer entpersonalisiert; denn ihr Lebens- recht wird ihnen zugunsten anderer genommen. In der Literatur wird ver- sucht, um diese Ungeheuerlichkeit herumzukommen, indem die Aufopfe- rung des Lebens als personale Leistung, als Erfüllung einer Bürgerpflicht am äußersten Rande solcher Pflichten, gedeutet wird20. Diese Deutung ist als theoretischer Entwurf unanfechtbar; im Staat Rousseaus wäre sie geradezu selbstverständlich. Aber in einer Gesellschaft, die den Staat als Instrument der Glücksverwaltung der einzelnen Bürger begreift, passt es nicht, wenn einige sich selbst opfern und damit aller Glückserwartungen begeben müs- sen. Ein Staat in einer solchen Gesellschaft entpersonalisiert, wenn er von nicht Verantwortlichen dieses Opfer verlangt.

Wenn demgemäß der Staat im extremen Notfall sogar gegenüber seinen dafür nicht verantwortlichen Bürgern kein Tabu kennt21, sondern das Erfor- derliche vollzieht, kann er sich bei Maßnahmen zur Vermeidung des extre- men Notfalls, die sich gegen Terroristen, also gegen die Urheber des Not- falls, richten, erst recht kein Tabu auferlegen, zumindest nicht innerhalb des Rahmens des Erforderlichen; – das ist die systemsprengende Kraft der Vorschrift.

Praktisch wird das dazu führen, dass Terroristen, die zumindest der Pla- nung (§ 129a StGB) überführt sind, auch jenseits der durch § 136a StPO gezogenen Grenzen zur Offenbarung von großen Gefahren gezwungen werden, mehr noch, sie müssen gezwungen werden, weil der Staat wegen seiner Schutzpflicht22 auf kein Mittel verzichten darf, dessen Anwendung sowohl erlaubt als auch klug ist, wobei Strafverfolgung und Gefahren- abwehr durchaus verschwimmen. Die Erlaubnis ist nichts als das Gegen- stück der Ingerenzpflicht des Terroristen oder seiner Pflicht zur Verbre- chensanzeige (§ 138 StGB). Zwar wird die Erfüllung solcher Pflichten im Strafverfahren üblicherweise nicht erzwungen23, aber das besagt für den Ausnahmefall nichts. Dass der Staat in diesem Ausnahmefall den Terroristen in voller „Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung" (§ 136a StPO) über die Erfüllung seiner Pflichten zu entscheiden lassen hätte, während er, der Staat, zur Verhütung eines Maximalschadens notfalls nicht Verantwortliche zu töten hätte, wäre ein allzu ungereimtes Ergebnis24. Es verhält sich ja auch nicht so, als fange jenseits der Grenzen des § 136a StPO unvermittelt der Bereich schlechthin indiskutabler Foltermethoden an.

Wenn monatelange oder noch längere Untersuchungshaft wegen Verdunke- lungsgefahr der „Freiheit" einer Aussage nicht entgegensteht, kann § 136a StPO nicht für alle Fälle das letzte Wort sein. Eine wiederum ganz andere Frage ist es, ob es nicht die Klugheit verbietet, alles Mögliche auch einzu- setzen. Die Gefahr eines Missbrauchs mag zu groß sein – darauf gehe ich hier nicht weiter ein.​