II. Zweck des Rechtsstaats
Zweck des Rechtsstaats ist nicht höchstmögliche Gütersicherheit, sondern wirkliche Rechtsgeltung, und zwar in der Moderne wirkliche Geltung eines Rechts, das Freiheit ermöglicht. Die wirkliche Geltung steht dabei als Gegensatz zu einer nur postulierten, aber nicht durchgesetzten, und das heißt, nicht orientierungsleitenden Geltung. Diese Orientierungsleitung kann auch im Fall eines Normbruchs erhalten bleiben: Wenn der Norm- bruch eben als Normbruch behandelt wird, dient die Norm als Orientie- rungsmuster und gilt wirklich.
Die Trennung von Rechtsgeltung und Gütersicherheit ist freilich nur die halbe Wahrheit; in der anderen Hälfte geht es um deren Verbindung. Eine kontrafaktische Erwartung lässt sich nur durchhalten, wenn nicht der Ver- lust nennenswerter Teile der Glückseligkeit ernsthaft droht; denn ansonsten leistet die Behandlung des Unrechts als Unrecht für den Erwartenden nur noch etwas bei heldischer oder märtyrerhafter Haltung; aber Helden und Märtyrer sind dünn gesät. Je mehr ein Gut wiegt, um so sicherer muss es auch sein, wenn die Orientierungsleistung der zugehörigen Norm nicht zerbrechen soll, wobei sich ein solches Zerbrechen am Übergang der Orien- tierung von der normativen Erwartung zu einer (nur noch) kognitiven Erwartung zeigt: Man greift zum Selbstschutz, indem man etwa aus Angst vor Überfällen nicht mehr in bestimmten Gegenden spazierengeht oder aus Angst vor Diebstählen sein Fahrrad dreifach verschließt. Zudem wäre ein Rechtsstaat auch nicht in der Lage, ausufernde Massen von Normbrüchen jeweils als Unrecht zu behandeln; denn dafür ist der Zwang, der zur Ermitt- lung der Taten und zur Durchsetzung der Bestrafungen notwendig wäre, eine viel zu knappe Ressource.
Zur wirklichen, orientierungsleitenden Rechtsgeltung gehört also eine kognitive Untermauerung der Norm. Diese unabdingbare kognitive Unter- mauerung ist in der Hauptsache freilich keine Leistung des Staates, sondern der Bürger selbst, und wird erbracht, indem sie sich alltäglich am Recht orientieren. Dieses haltungsgemäße Legalverhalten untermauert die ihnen entgegengebrachten normativen Erwartungen selbst dann noch, wenn ein Bürger ein Verbrechen begeht: In der Regel muss das nicht als generelle Auf- kündigung rechtstreuen Verhaltens verstanden werden5. Wenn die Strafe verdeutlicht hat, dass sein Verhalten nicht anschlussfähig ist, kann nach ihrem Vollzug zumeist wieder Rechtstreue vermutet werden; Führungsauf- sicht (§ 68 StGB) oder gar Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) sind systema- tisch wie praktisch Ausnahmen.
Aber auch die Erwartung korrekten Verhaltens lässt sich nicht beliebig kontrafaktisch aufrechterhalten, mehr noch, sie darf nicht beliebig aufrecht- erhalten werden, weil der Staat für wirkliche Rechtsgeltung zu sorgen und deshalb gegen sich abzeichnende Rechtsbrüche vorzugehen hat. Eine nor- mative Erwartung, die sich an eine bestimmte Person richtet, verliert ihre Orientierungskraft, wenn ihr die kognitive Untermauerung durch diese Person fehlt. An ihre Stelle tritt dann wiederum die kognitive Orientierung, was heißt, die Person – die Adressatin normativer Erwartungen – mutiere zum Gefahrenherd, zum kognitiv anzugehenden Sicherheitsproblem. Dabei wird die Pflicht zu legalem Verhalten nicht etwa aufgelöst – eine Pflicht ent- fällt selbstverständlich nicht deshalb, weil ihr beharrlich zuwidergehandelt werden wird – vielmehr wird die Pflichterfüllung, die ordnungsgemäße Selbstverwaltung der Person, nicht mehr erwartet, so dass das Kernelement orientierungsleitender Personalität, eben die Vermutung der Rechtstreue und damit die „Geschäftsgrundlage" freier Selbstverwaltung, nunmehr fehlt6. Das ist trivial; beispielhaft, niemand betraut einen Defraudanten weiterhin mit der Kassenaufsicht, und was dieser simple, alltäglich anzutref- fende Befund mit dem Umgang mit Terroristen zu tun hat, wird sofort deutlich, wenn er abstrakter benannt wird: Aus dem Kreis der Personen, denen bei einer Kassenverwaltung wirklich, also orientierungsleitend, nor- mative Erwartungen gelten, ist der Defraudant exkludiert; er gilt insoweit, wenn auch nur insoweit, als Gefahrenherd. Der Volksmund formuliert, „dem ist nicht zu trauen", und das heißt, „weg von der normativen Erwar- tung, hin zur kognitiven".
Die Grundlagen der Vermutung zukünftigen Legalverhaltens zu pflegen, ist eine elementare Bringschuld7 aller Bürger; denn nur beim begründeten Bestand dieser Vermutung, und die Begründung können nur die Bürger selbst leisten, ist ein ebenso freier wie furchtloser Umgang der Bürger mit- einander möglich. Wirkliche, orientierungsleitende Personalität kommt also nicht allein dadurch zustande, dass sie postuliert wird, vielmehr müssen be- stimmte Bedingungen hinzutreten. Deshalb ist der Satz, „rechtlich hat jeder Mensch den Anspruch, als Person behandelt zu werden", unvollständig; es muss zudem festgelegt werden, wer welche Bedingungen der Verwirk- lichung dieser Personalität herbeizuführen hat, und hierbei dürfte es selbst- verständlich sein, dass die Sorge für eine hinreichende kognitive Untermaue- rung jedenfalls insoweit im Lastenheft der Person selbst steht, als es sich um die einigermaßen verlässliche Leistung von Rechtstreue handelt. Der Satz muss also richtig lauten, „jeder, der zumindest einigermaßen verläßlich Rechtstreue leistet, hat den Anspruch, als Person behandelt zu werden"8, und wer diese Leistung nicht erbringt, wird eben fremdverwaltet, was heißt, nicht als Person behandelt9.
Dementsprechend ist auch das Ziel des Freiheitsentzugs beim offenbar gefährlichen Verbrecher, also etwa beim Terroristen, ein anderes als bei einem Verbrecher, dessen weitere Gefährlichkeit nicht ähnlich evident ist.
Im Normalfall des Verbrechens ist die Strafe eine Art Schadensersatz, der bei der Person des Verbrechers zwangsweise beigetrieben wird: Die Strafe ist Widerspruch – das versteht sich von selbst – und Zufügung von Schmerz, und dieser Schmerz ist so zu bemessen, dass nicht wegen der geschehenen Tat die kognitive Untermauerung der gebrochenen Norm leidet10. Wider- spruch wie Schmerz werden strafrechtsdogmatisch im Schuldbegriff präfor- miert11. Für die schuldangemessene Strafe reicht es hin, wenn die Tat wegen der Strafe allgemein als missglücktes Unternehmen verstanden wird; insbe- sondere geht es nicht um Abschreckung anderer Tatgeneigter: Deren Tat- neigung hat der Täter in aller Regel nicht zu verantworten.
Mit der Umsetzung dieses Modells, das ja schon als Modell des Normal- falls nicht nur der harten Realität, sondern nicht minder einer erdachten Idylle nahestehen dürfte, ist es im Fall haltungsgemäß prinzipieller wie auch aktiver Gegner, also unter anderem im Fall von Terroristen, nicht getan; denn ganz unabhängig von der Antwort auf die bisher kaum je aufgeworfene Frage, wie es um die Schuld zumindest desjenigen Terroristen bestellt ist, der in einer der hiesigen Kultur feindlichen Kultur sozialisiert wurde, gilt es im Fall eines jeden Terroristen – wie bei jedem Feind – auch ein bereits vorhan- denes Defizit an kognitiver Sicherheit auszugleichen12. Wie das auch immer geschehen mag, so geschieht es gewiss nicht in einem freien Diskurs, son- dern indem der Terrorist selbst oder eher noch seine Lebensumstände in zweckdienlicher Weise durch Zwang verändert werden, und die Anwen- dung von Zwang zur Änderung des Lebens eines anderen ist mit dessen Anerkennung als Person insoweit, als Zwang angewendet wird, definitions-gemäß unverträglich. Praktisch wird die Sicherung vor dem Täter im Vor- dergrund stehen, entweder durch eine als solche ausgewiesene Sicherungs- verwahrung oder durch eine Sicherung garantierende, also entsprechend lange Freiheitsstrafe. Letzteres ist – neben der schieren Abschreckung – einer der Gründe für die hohen Strafen, die gegen die Bildung einer terroris- tischen Vereinigung angedroht werden; diese Strafen lassen sich nicht durch dasjenige erklären, was bereits geschehen ist – es wurde die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt, aber bislang zu keiner Verletzung angesetzt –, sondern nur durch die bestehende Gefahr.
Ich fasse die insoweit nicht gerade neue Entwicklung zusammen: Das spezifisch gegen Terroristen gerichtete Strafrecht13 hat eher die Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten, als Rechtsgeltung zu erhalten, ablesbar am Strafzweck und an den einschlägigen Tatbeständen. Das Bürgerstrafrecht, Garantie der Rechtsgeltung, wandelt sich in ein – jetzt folgt der perhor- reszierte Begriff – Feindstrafrecht14, in Gefahrenabwehr15. Damit ist auch die eingangs gestellte Frage beantwortet: Die „Bekämpfung" des Terrors ist nicht nur ein Wort, sondern ein Begriff; es geht um ein Unternehmen gegen Feinde.
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