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Die Staatenverbindungen und die Methode des öffentlichen Rechts

1. In wenigen Partien des öffentlichen Rechts herrscht eine solche Unklarheit, wie in der Lehre von den Staatenverbindungen. Das Wesen des Staatenbundes und des Bundesstaates, die Natur der Realunion, der juristische Charakter des Protectorates und der Suzeränetät u. s. w. sind so weit von wissenschaftlicher Klärung entfernt, dass sich über manche dieser Begriffe nicht einmal eine herrschende Meinung herausgebildet hat und sogar die wissenschaftliche Berechtigung des ganzen Gebietes noch nicht äusser Frage steht. Bald wird versucht, die Staaten Verbindungen als juristisch undefinir- bäre Uebergangszustände der Staaten in einem Einigungsoder Enteinigungsprocesse darzustellen, bald von irregulären Bildungen gesprochen, dann wieder eine jede neue concrete Gestalt als ein Gebilde sui generis aufgefasst und für sie eine eigene Theorie zugeschnitten, und schliesslich die logische Möglichkeit der einen oder anderen Verbindungsform gänzlich geleugnet. Aber auch unter Jenen, welche weder leugnen noch zweifeln, ist von Einigkeit keine Rede und die mannigfaltigen Stimmen, welche sich in der publicistischen Literatur über diese Probleme vernehmen lassen, stellen sich dem Forschenden als ein höchst unharmonischer Chor dar. Dies ist um so befremdender, als die Fragen, um die es sich hier handelt, nicht etwa abstracte Schulfragen sind, sondern gegenwärtig zu den praktisch wichtigsten des Staatsund Völkerrechts zählen. Der Einheitsstaat, an dessen Betrachtung sich die antike und moderne Staatswissenschaft fast ausschliesslich grossgezogen hat, bildet heute nicht die Regel im Völkerleben. Das deutsche Reich, die schweizer Eidgenossenschaft, die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die nach dem Musterbilde der Union construirten Föderationen Mexiko’s und der Argentinischen Republik; die unter gemeinsamen Herrschern vereinigten Staatengebilde Oesterreich- Ungarn und Schweden-Norwegen; das ottomanische Reich und der gesammte Orient, „die classische Heimat, sowohl für zusammengesetzte, als auch für vasallitische Staatenbildungen“ *) bieten ein überreiches Material für das Studium von Staatenvereinigungen dar. Selbst unter den grossen europäischen isolirten Einheitsstaaten gibt es nur wenige, die nicht in anderen Welttheilen die Oberhoheit oder Protection über mehr oder minder civilisirte und staatlich geordnete Völkerschaften besässen,und das leicht geschlungene und ebenso leicht gelöste Band der Allianz vereinigt seit Jahrhunderten schon die europäischen Mächte in den verschiedensten Combinationen auf kürzere oder längere Dauer.
Der Grund, weshalb es der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, so wichtige vor Augen liegende Erscheinungen theoretisch befriedigend zu erfassen, kann nur in ihr selbst liegen, in falschen oder ungenügenden Theorien, welche sie der Untersuchung des realen Stoffes zu Grunde legt. Jede lebhafte Meinungsverschiedenheit über ein wissenschaftliches Object deutet stets auf Unsicherheit der Principien und der Methode hin. Nicht in den Einzelausführungen, sondern zumeist in der schlechten Fundirung ist die Ursache zu suchen, wenn jeder Schriftsteller sein eigenes System und seine eigenen Resultate hat.
Um daher bei unserer Untersuchung sicher zu gehen, erscheint es angezeigt, einen prüfenden Blick auf die Grundlagen und die Methode des Staats- und Völkerrechts zu werfen, denn jeder noch so unbedeutende Fehler in den Prämissen


‘) v. Mar ti tz, Zeitschrift f. d. gesammte Staatswissenschaft, Bd. XXXII, S. 563.
rächt sich unerbittlich in den Consequenzen, wie der unbedeutendste Irrthum beim Ansatz einer Rechnung das Resultat nothwendig zu einem falschen macht.
2. Unsere publicistische Wissenschaft entstammt zwei verschiedenen Quellen. Die obersten Begriffe, welche aber im Systeme die untersten, d. h. die das ganze Gebäude tragenden sind, verdanken wir der Rechtsphilosophie. Von den Tagen des Naturrechts bis auf die Gegenwart ist es die Speculation gewesen, von welcher der Begriff des Staates und die Definitionen seiner Eigenschaften und Functionen ihren Ursprung herleiten. Der Staat der Rechtsphilosophie ist nun nicht etwa der concret vorhandene Staat, sondern ein Abstrac- tum, das erst verwirklicht werden soll. Allerdings trägt dieser Normalstaat gar viele Züge des wirklichen, wie denn der Mensch seine Ideale nie ganz unabhängig von seiner Umgebung sich ausmalen kann, ja es ist im Grunde nur der wirkliche Staat, dessen Bild zum Typus hinaufgeläutert worden ist. Aber im Grossen und Ganzen hat dieser Gedankenstaat kein irdisches Dasein, sondern ist eine ideale Norm zur Beurtheilung und oft genug Verurtheilung des Staates in seiner factischen Gestaltung. Das ist sowohl der Fall mit dem mechanischen Vertragsstaate des Hobbes und Rousseau als dem organischen Staate der modernen Rechtsphilosophie. Die Wissenschaft von der Natur und den rechtlichen Eigenschaften dieses Normalstaates ist das allgemeine Staatsrecht. Die Detailausführungen des öffentlichen Rechts hingegen schliessen sich eng dem positiven Materiale der Verfassungeri, Gesetze, Verträge u. s. w. an. Während bei Feststellung der allgemeinen Begriffe von dem Concreten nur allzu oft abgesehen wurde, verfiel man hier nicht selten in den entgegengesetzten Fehler, indem man kritiklos an dem Gegebenen haftete und sich mit einem trägen Constatiren des Bestehenden begnügte, ohne auch nur daran zu denken, aus dem Positiven höhere Begriffe zu gewinnen. Man glaubte das positive Recht zu begreifen, wenn man statistisch seine einzelnen Theile kennen lernte, und überliess es der rechtsphilosophischen Speculation, den Zusammenhang in das Gewirre des Details zu bringen. Wenn auch versucht wurde, dasselbe Wissenschaftlieh zu vertiefen, so trugen diese Versuche doch weniger einen juristischen, als einen historischen Charakter, die Forschung war nicht sowohl dem gedanklichen Inhalt, als dem geschichtlichen Entwickelungsprocesse des Geltenden zugewendet.
Die Consequenz dieses zwiefachen Ursprungs des öffentlichen Rechts ist nun die, dass die abstracten Begriffe und die concreten Erscheinungen des Staatslebens häufig unvermittelt neben einander gestellt werden, ohne dass man die Nöthigung empfindet, sie logisch mit einander in Einklang zu bringen. Das Ideale ist eben nur die niemals ganz zu verwirklichende Norm, die sich mit dem Realen nicht zu decken braucht, das Positive kann und darf ab weichen von der Regel, die für den Musterstaat gilt.
Das schlagendste Beispiel hiefür bieten die Ausführungen hervorragender Publicisten über den Punkt, der entscheidend für die ganze Lehre von den Staatenverbindungen ist Die neuere Staatswissenschaft hat im Gegensätze zu Montesquieu den bereits von Puffendorf2 *) aufgestellten Satz acceptirt, dass bei aller Verschiedenheit und innerlichen Abgrenzung der staatlichen Functionen die Souveränetät eine in sich einheitliche und daher untheilbare ist. So erklärt Bluntschli: „Einheit der Souveränetät ist insofern ein Merkmal derselben , als die Einheit des Staats als einer Ge- sammtper8on auch einer einheitlichen obersten Leitung bedarf. Zwei Souveräne mit verschiedenem Willen, ohne auf Einigung angewiesen zu sein, würden die Einheit der Staatsherrschaft ebenso aufheben, wie zwei Eigenthümer an derselben Sache die Einheit des Privateigenthums.“ 8) Wenige Zeilen später steht jedoch der Satz: „Es kommt sogar eine Doppelsou- veränetät vor in zusammengesetzten Staaten.“ Ferner lehrt R. v. Mohl von der Staatsgewalt: „Sie ist ausschliessend und also untheilbar. Mehrere oberste Gewalten, welchen die Staatsgenossen gleichen Gehorsam schuldig wären, wurden


2) De Jure Naturae et Gentium, VII c. IV. § 9: „Proximum est, ut ostenda- mus, partes Was summi imperii naturaliter ita esse unit as, et invicem velut im- plexas, ut, si fingamus, earum quasdam independenter penes unum, quasdam penes alios esse, regularis forma civitatis plane destruatur.“ cf. ib. § 11. ®) Staats Wörterbuch von Bluntschli und Brater s. v. Souveränetät. Bd. 9, S. 555.
schon dem Begriffe eines Organismus, d. h. der Einheit in der Vielheit widersprechen, ausserdem müsste die unvermeidliche Verschiedenheit der Befehle zur Verwirrung und Auflösung führen.“ 4 5) Nichtsdestoweniger erklärt er gegen Max Seydel, der durch seine Abhandlung über den Bundesstaatsbegriff0) auf den Widersinn der Lehre von der getheilten Souveränetät im Bundesstaate hingewiesen und damit den Anstoss zu einer wissenschaftlich vertieften Fassung des Begriffes gegeben hat, dessen Ausführungen aber v. Mo hl nicht einmal einer ernstlichen Widerlegung werth hält: 6) „Die menschlichen Zustände liegen nun einmal thatsächlich und zwar nicht ganz selten so, dass sich eine Anzahl von Staaten eine zweite höchste Gewalt neben und theilweise über sich gefallen lassen müssen, ohne dass sie deshalb freiwillig oder gezwungen ihr eigenes Dasein ganz aufgeben“ 7), nachdem er bereits früher constatirt hat, dass im deutschen Reiche „unzweifelhaft“ eine getheilte Souveränetät vorliege.
Solche handgreifliche Widersprüche bei Männern, denen die Staatswissenschaft Vieles zu verdanken hat, lassen sich nicht etwa auf einen Mangel scharfen logischen Denkens zurückführen. Sie sind nur die nothwendige Folge des Umstandes , dass ein einheitliches Gebäude des öffentlichen Rechtes mangelt, dass Deduction aus den Begriffen und Induction aus den Erscheinungen verschiedene Wege einschlagen, so dass ein Zusammentreffen beider unmöglich wird.
3. Das zweite Uebel, welches der publicistischen Wissenschaft fast unausgesetzt droht, ist die fortwährende Vermischung des Politischen mit dem Juristischen, welche für die klare Erkenntniss sowohl des Einen als des Anderen gleich verderblich wird. Denn der Staat als Subject und Object der historischen That verhält sich zum Staate der Jurisprudenz wie der Mensch in seinem natürlichen und socialen Leben zum Menschen als Rechtspersönlichkeit. Wie man vom Privatrechte


4) Encyclopädie der Staatswissenschaften 2. Aufl., S. 118. 5) Zeitschrift f. d. g. Staatsw. Bd. XXVIII, S. 155 ff. 6) „Es ist schade um Mähe und Scharfsinn ; einer ernstlichen Widerlegung bedarf es nicht.“ Das deutsche Reichsstaatsrecht. 1873, S. 38, Anm. 7) 1. c.
eine unklare, alle Rechtssicherheit zerstörende Anschauung erhielte, wenn man die Schärfe der Rechtsbegriffe zu Gunsten der Vorgänge und Ansichten des wirthschaftlichen Lebens abstumpfen wollte, so wird auch alles Rechtliche in der Natur des Staates und in den Beziehungen der Staaten untereinander zerstört, wenn man juristische Erkenntniss durch politische Erwägungen zu ersetzen sucht.
Wessen Grundstück überschuldet ist, der kann wirth- schaftlich gewiss nicht mehr als Eigenthümer desselben angesehen werden; welche Verwirrung jedoch, welchen Umsturz alles Rechtslebens würde es hervorrufen, wollte man jener ökonomischen Anschauung irgend welchen Einfluss auf die Beurtheilung der rechtlichen Verhältnisse einräumen! Die Ansicht, dass das öffentliche Recht einer engen Verbindung mit der Politik nicht entrathen und sich nicht von ihr trennen könnte, wie etwa das Privatrecht sich zu einer selbständigen Gestaltung gegenüber Ethik und Oekonomik herausgebildet hat, hat zur Voraussetzung die geringe Achtung des Rechtes von Seiten der Staaten, und war daher einigermassen berechtigt zu einer Zeit, wo Verfassungen und Verträge schonungslos mit Füssen getreten wurden. So lange ein Staat nur Politik treibt und sich um das Recht überhaupt nicht kümmert, mag es eine undankbare Arbeit sein, dieses ewig missachtete Recht feststellen und begreifen zu wollen. Aber gerade unser Jahrhundert hat einen gewaltigen Fortschritt im Bewusstsein der Geltung des öffentlichen Rechts hervorgerufen. Der Verfassungsbruch wird im modernen Staate immer mehr zur seltenen, von schweren Erschütterungen begleiteten Ausnahme. Gewaltige Umwälzungen im Innern der Staaten vollziehen sich auf legalem Wege. Das Staatsrecht ist nicht mehr todte Form, sondern entwickelt sich zur geltenden Macht. Die gewaltige Entwickelung des internationalen Lebens hat auch das Völkerrecht von einer idealen Forderung zu einer sichtbar wirkenden Kraft erhoben. Internationale Institute wie die Genfer Convention, die internationalen Flusscommissionen, der Weltpostvertrag u. s. w. zeugen von der Realität eines Rechts, dessen Leugnung stets nur die doctrinäre Consequenz einer Schuldefinition des Rechtes ist, in deren Schablone für die Rechtsverhältnisse des Völker lebens sich kein Platz findet. Allerdings wird es stets Fälle geben, in denen die Staaten wider das von ihnen selbst als verbindlich anerkannte Recht handeln werden. Alles Recht hat ja zunächst nur ideale Existenz, stellt ein Sollen dar, dem die Erscheinungen widersprechen können, es will die menschlichen Handlungen regeln, und deshalb ist die Möglichkeit seiner üebertretung schon mit seinem Begriffe als Norm gefasst. Incongruenzen der factischen Vorgänge mit den durch die Rechtsordnung geforderten sind im Staatsleben ebenso unvermeidlich wie im Privatleben. Aber das Unrecht, wenn es nur nicht die Regel bildet, zerstört das Recht nicht, sondern offenbart vielmehr dessen Werth und Bedeutung.
4. Bei dem heutigen Zustande des öffentlichen Rechtsbewusstseins ist daher die Forderung wohl begründet, dass Staats- und Völkerrecht als rein juristische Wissenschaften auftreten. Der Vorwurf des Scholasticismus, der gegen eine solche Richtung erhoben werden mag 8), trifft sie nicht, weil das Leben selbst den Anspruch erhebt, uns zu lehren, was im Staate und zwischen den Staaten Rechtens sei. Ein solcher Vorwurf wäre nur dann begründet, wenn man vorgeben wollte, dass die juristische Betrachtungsweise im Stande sei, das Wesen des Staates allseitig zu erfassen; das wäre ebenso falsch, als wenn man von dem Privatrecht behaupten wollte, dass es die Erklärung des Menschen in der Totalität seines Seins zu liefern vermöge. Das Recht ist nur eine Seite des Staates, den in seinem ganzen Umfang und Inhalt zu erforschen , fast alle Wissenschaften mitwirken müssen, weil das complicirteste sociale Gebilde zu seiner vollständigen Durchdringung die Kenntniss aller physischen und psychischen Elemente voraussetzt, die es hervorbringen, bedingen und erhalten. Aber innerhalb der Lehre vom Staate, innerhalb der Staats Wissenschaft ist dem Rechte eine Position anzuweisen, die so scharf abgegrenzt als möglich ist. Die Grenze kann allerdings bei dem inneren Zusammenhänge aller Seiten des Staates keine mechanische Trennung bedeuten. So wenig es eine voraussetzungslose Wissenschaft überhaupt gibt, so


b) Vgl. Gierke, die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien. Zeitschrift f. d. g. Staatsw. Bd. XXX, S. 157.
wenig ein Staats- oder Völkerrecht, das nicht bestimmte Voraussetzungen über das Wesen des Staates, ja sogar einer concreten staatlichen Formation mit auf die Welt bringt. Auch ein absolutes Ignoriren der historischen Bewegung, welche sich so oft im Wider Spruche gegen die Formen des Rechts vollzieht, ein gänzliches Nichtbeachten der Politik ist mit der geforderten Trennung des öffentlichen Rechts von anderen Betrachtungsweisen des Staates nicht gemeint, damit wäre ja die Möglichkeit historischer Individualisirung, r welche eine nach rein äusserlichen Merkmalen verfahrende Classificirung verhütet, preisgegeben und damit den Disciplinen des .öffentlichen Rechts eines der mächtigsten Hilfsmittel zur Erreichung ihrer Zwecke geraubt. Durch den Hinblick auf ihre politische Bedeutung wird den abstracten Sätzen des öffentlichen Rechtes in vielen Fällen erst ihr tieferes Verständniss zu Theil werden können, wie auch die ökonomische und ethische Bedeutung der Privatrechtsnormen erst ihren ganzen Werth zu enthüllen vermag.
Nicht eine gänzliche Isolirung des öffentlichen Rechtes und damit eine Verkümmerung seines theoretischen und praktischen Gehaltes ist anzustreben, nur vor der Verwechslung der verschiedenen Gebiete, vor der Vermischung und Identi- ficirung des bewegten Lebens des Staates mit der ruhenden Ordnung desselben muss man sich hüten.
Consequenz der bisherigen Behandlungsart der Wissenschaft sind, wird es vor allem nöthig sein, eine andere, sicherere Methode zur Erforschung der Grundbegriffe einzuschlagen. Schon der alte Pütter hatte erkannt, dass „ein Lehrgebäude des Staatsrechtes, sobald man es als eine Wissenschaft behandelt, wenn es nur irgend den Namen verdienen und brauchbar sein soll, ohne richtig bestimmte allgemeine Grundsätze ganz unmöglich ist“.9)
Dietfe Methode lässt sich nun kurz dahin bestimmen: Trennung des Politischen vom Juristischen, nicht in dem Sinne, dass die Berechtigung nichtjuristischer Betrachtungs-


*‘) Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte S. 10.
weisen negirt oder das völlige Ignoriren derselben vom Juristen gefordert werde, sondern dass das Bewusstsein der Grenze der rechtlichen gegen andere Auffassungen stets gewahrt bleibe; innerhalb des so geschiedenen Stoffes klare juristische Durchdringung der Rechtsbegriffe. Die juristische Durchbildung eines Begriffes kann nur erfolgen, wenn alle unter denselben fallenden Erscheinungen sorgfältig geprüft und ihre gemeinsamen Merkmale verglichen und zusammengefasst werden. Die Induction gilt in demselben Masse für die Feststellung der Rechtsbegriffe, wie für alle anderen aus der Erfahrung abstrahirten Begriffe. Auch der Staat und seine Rechtsverhältnisse sind keine jenseits der Erfahrung liegenden Entitäten, zu deren Erkenntniss andere geistige Qualitäten noth- wendig sind, als die, mit welchen wir sonst die Dinge zu erfassen uns bestreben. Gewiss haftet dem Wesen des Staates Unerklärtes und Unerklärbares an, gewiss ist ein rein inductives Verfahren im Staats- und Völkerrechte so wenig möglich, wie in irgend einer Wissenschaft, gewiss müssen alle Zweige der Staatswissenschaft von nicht weiter reducirbaren Hypothesen über die Natur des Staates ausgehen, allein das Unerforsch- liche zeigt sich bei jedem Objecte, wenn wir es auf seine letzten Elemente hin prüfen. Nur die Complicirtheit der staatlichen Verhältnisse, der Umstand, dass der Mensch selbst mit all den Räthseln seiner Natur das Molekül des staatlichen Organismus bildet, verleiten zu dem Glauben, dass der Staat nur erspeculirt aber nicht erforscht werden könne.
Indessen hat es mit den speculativen Begriffen vom Staate dieselbe Bewandtniss wie mit aller Speculation. Wenn sie mehr ist als die Ausgeburt eines müssigen Hirns, so ist sie eine intuitive Induction oder vielmehr eine Induction-, die als solche nicht zum Bewusstsein kommt. Ganz richtig hat Gneist als das Wesen der Staatsphilosophie erkannt, dass man die aus dem eigenen Leben abstrahirten Vorstellungen und, fügen wir hinzu, Wünsche, als etwas für alle Völker und Zeiten Gemeingiltiges ansieht.10) Bodin und Hobbes zeichnen ihren absoluten Herrscher nach dem Vorbilde des


10) Der Rechtsstaat 2. Auf., S. 26.
vor ihren Augen sich entwickelnden und vollendenden unumschränkten Königthums. Locke und Montesquieu erheben die Verfassung Englands zur absolut besten,* Hegel idea- lisirt den preussischen Staat Friedrich Wilhelm’s III., und die Rottecks und Weickers finden den französischen Con- stitutionalismus durch die Idee des Staates gefordert. Und nun wird es auch klar, warum zwischen allgemeinem Staatsrecht und philosophischem Völkerrecht auf der einen und den betreffenden positiven Disciplinen auf der anderen Seite ein Widerspruch nothwendig vorhanden sein muss. Jene intuitive Induction ist nämlich auch eine unvollkommene Induction, die weit davon entfernt ist, den Reichthum der staatlichen Bildungen durchforscht zu haben. Wenn daher eine concrete Erscheinung sich den a priori aufgestellten Definitionen nicht fügen will, so ist sie besten Falles ein Gebilde sui generis, meistens aber eine Irregularität, deren Existenz man zugeben darf, ohne die Geltung des allgemeinen Begriffes zu alteriren. Denn nur das Typische besitzt wahren Werth; was die Züge des Typus nicht an sich trägt, lohnt eine ernste wissenschaftliche Betrachtung nicht. Dass nicht nur die correcten Gebilde, sondern auch die Missbildungen einer wissenschaftlichen Erfassung fähig sind und diese für die Kenntniss des gesunden Staatslebens dieselbe Bedeutung hat, wie die Pathologie für die Physiologie, dieser Gedanke taucht nicht einmal vorübergehend auf. Mit der Auffassung einer staatlichen Bildung als einer irregulären ist zugleich der Politik die Aufgabe gesetzt, die Unregelmässigkeit hinwegzuräumen, damit die Wirklichkeit zuletzt dem Schulbegriffe entsprechend gestaltet werde — der Rationalismus der Theorie zieht unerbittlich den Rationalismus der That nach sich, das unhistorische Denken das geschichtswidrige Handeln.
Nirgends zeigen eich die Folgen der Beurtheilung des Concreten nach idealen Typen schärfer, als in der Lehre von den Staatenverbindungen. Die allgemeinen Begriffe vom Staate sind dem Typus des Einheitsstaates entnommen.11) Natürlich lassen sich mit diesen Begriffen die abweichenden Verhältnisse
u) G. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen über die deutsche Reichs- verf. 1872, S. 5. Lab and, das Staatsrecbt des deutschen Reiches I, S. 62.
zusammengesetzter Staaten nicht in Einklang setzen. Die Doctrin erklärt die Souveränetät für untheilbar; in den Beziehungen des Vasallenstaates zum oberherrlichen, des Gliedstaates im Bundesstaate zur Centralgewalt scheint offenbar ! eine Theilung der höchsten staatlichen Macht vorzuliegen. • Da ist nur eine zwiefache Möglichkeit vorhanden. Entweder wendet man sich von doctrinären Consequenzen ab und erklärt, um nicht einer unpraktischen Scholastik geziehen za werden, die Natur der Souveränetät in zusammengesetzten Staaten als I eine Ausnahme von dem allgemeinen Begriffe derselben, oder [ man wird, wenn man ein Verehrer der Logik ist, gezwungen, entweder die Existenz dessen zu leugnen, was man vor Augen sieht, oder die betreffenden staatlichen Bildungen als irreguläre, ephemere, transitorische, juristisch unfassbare Erscheinungen i zu betrachten.12) Aber dieser Ausweg, so bequem er erscheinen mag, verhüllt doch nur äusserst nothdürftig die I Unfähigkeit der Erkenntniss des Wirklichen aus den allgemeinen Begriffen heraus. Denn die Aufgabe der Jurisprudenz | ist es, nicht nur stabile, sondern auch vorübergehende Rechts- ‘ Verhältnisse zu erklären. Wie viele Rechtsverhältnisse des ; Privatrechts entstehen und vergehen in verschwindend kurzer Zeit! Nichtsdestoweniger ist ein solches Rechtsverhältniss trotz seiner kurzen Dauer einer klaren juristischen Erkenntniss j fähig. Und es ist überdies eine doctrinäre oder politische I Voreingenommenheit, wenn man Bildungen, wie die hundert- ‚ jährige nordamerikanisqhe Union und die vielhundertjährige ! schweizer Eidgenossenschaft, deren staatliche Gestaltung von constanten socialen Verhältnissen getragen wird, als Ueber- ; gangsstationen im Leben der betreffenden Völker hinstellt.


12) v. Kaltenborn, Einleitung in das constitution eile Verfassungs- i recht S. 159; v. Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen , Staaten Deutschlands I, S. 392 ff.; Grundzüge des allg. Staatsrechts S. 447 ff.; ; die Verfassung des deutschen Reichs S. 29. Auch Zorn zählt zum Theil ’ hi eher. Vgl. das Staatsrecht des deutschen Reiches I. 1880 S. 47: „wo die Souveränetät fehlt, ist ein Staat nicht vorhanden. Noch nicht so bei dem halbsouveränen Fürstenthum Bulgarien———–nicht mehr: so Karthago nach [ dem zweiten punischen Kriege, Polen nach den polnisch-russischen Verträgen ! von 1793.“
6. Dieses Unvermögen der Theorie, die Wirklichkeit zu erklären, kann nur beseitigt werden, wenn für das öffentliche Recht der Satz des römischen Juristen zur Richtschnur erhoben wird, dem das Privatrecht seine wissenschaftliche Stärke verdankt: non ex regula jus sumatur, seel ex jure, quod est, regula fiat. Zwar wird jeder Forscher von principiellen Voraussetzungen über Natur und Zweck des Staates, welche ihm ‚durch den Umfang und den Inhalt seiner Bildung gegeben sind, ausgehen, wie auch der Jurist nicht aus dem Privatrechte den Begriff der Persönlichkeit empfängt. Aber die a priori an den Stoff gebrachten Anschauungen müssen durch den concreten Stoff geläutert, aus der Vergleichung der historisch gegebenen Staatsformen und Staatsbildungen müssen die höheren Begriffe berichtigt und dabei der Fehler vermieden werden, irgend eine concrete Gestaltung mit all ihren Zufälligkeiten als das Paradigma, zu betrachten, nach dem sich alle künftigen derselben Gattung zu richten haben.13) Aus dem Fehler, für die Staaten Verbindungen Schablonen aufzustellen, ist es zu erklären, warum die Theorie jeder neuen Bildung anfangs rathlos gegenüber steht, wie es mit Oesterreich- Ungarn und dem deutschen Reiche der Fall war. Besonders die Dogmengeschichte der staatlichen Natur des letzteren ist höchst lehrreich für die Methode des öffentlichen Rechtes. Vor der Gründung des Reiches war die durch Tocqueville begründete, durch W a i t z wissenschaftlich ausgeführte Lehre vom Bundesstaate, die hauptsächlich aus «lern nordamerikanischen Bundesstaatsrechte sublimirt war, die herrschende. Die Verfassung des norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches wich wesentlich ab von dem Bundesstaat, wie ihn W a i t z gedacht hatte. Da wurde denn das neue Gemeinwesen von der einen Seite für eine ganz selbständige Bildung erklärt, die sich keiner der vorhandenen Kategorien ganz unter ordn en lässt, von Anderen dasselbe als ein Staatenbund definirt, von Dritten der Typus des Bundesstaates in ihm erkannt, aber durch viele Irregularitäten und principienwidrige Einrichtungen entstellt14), bis endlich die Theorie vom Bundesstaate selbst


13) Vgl. G. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen S.’l. 14) Vgl. Brie, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, 1874. I., §. 12.
sich modificirte, und durch die Erkenntniss, dass die bisherige Lehre das Unwesentliche und Particuläre mit dem Generischen verwechselt hatte, die Begriffe jene Weite bekamen, welche auch die neue Gestaltung umfassen konnte.
Die Begriffe, nach welchen wir suchen, müssen aber scharf, bestimmt, fest und gegeneinander streng abgegrenzt sein. Bis auf den heutigen Tag hört man immer wieder, dass die Grenzen zwischen Staatenbund und Bundesstaat fliessend sind15), dass es mannigfaltige Uebergange in den Staatenverbindungen von der einfachen Allianz bis zum Einheitsstaate gibt. Auch diese Behauptung ist die Folge einer Verwechslung politischer mit juristischen Gesichtspunkten. Rechtsbegriffe sind allemal kantig, das Verschwimmen des einen in den anderen wäre der Tod der Wissenschaft, der Tod des Rechtslebens. Für den Civilis ten und den Criminalisten ist das keine neue Wahrheit. Welche namenlose Gefahr für Leben, Familie und Eigenthum, wenn man behaupten dürfte, die Grenzen zwischen den einzelnen Rechtsgeschäften und Delicten wären fliessend, z. B. zwischen Kauf und Miethe, zwischen Ehe und Concubinat, zwischen Mord und Tödtung! Das ist ja eben das Wesen des Rechtes, dass es die fliessenden Verhältnisse des Lebens durch feste Begriffe gegeneinander abgrenzt. Wo die Begriffe einmal anfangen, in den herakli- tischen Fluss der Dinge zu gerathen, da hat die Jurisprudenz ihr Feld verloren. Behaupten, dass sich im Staats- und Völkerrechte die Grenzen zwischen den Begriffen nicht mit derselben Schärfe ziehen lassen, wie im Privat-, im Process-, im Strafrechte, heisst daher nichts anderes, als jenen beiden Disci- plinen der Rechtswissenschaft den wissenschaftlichen Charakter grundsätzlich absprechen.
grundsätzlich absprechen. Indem man aber von den Disciplinen des öffentlichen Rechts feste Begriffe fordert, muss man sich hüten, dieselben einfach durch Analogien aus dem Privatrecht zu gewinnen. Als ein in seiner Eigenthümlichkeit einziges Gebilde kann der Staat nicht anders woher Mass und Art seiner Beur-


15) v. Mo hl, Reichsstaatsrecht S. 32, Dubs, Das öffentliche Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft II. Theil. 1878. S. 5. Geffcken in der von ihm heransgegebenen 7. Aufl. von Heffter’s Völkerrecht. §. 20 n. 5.
theilung empfangen. Die Neigung zur üebertragung privat – rechtlicher Anschauungen auf den Staat ist gerade für den nach juristischer Klarheit Ringenden eine drohende und daher sorgfältig zu vermeidende Gefahr.
Die vorangegangenen Ausführungen haben wohl zur Genüge dargetban, dass, ehe wir zu unserem Thema schreiten, es nöthig sein wird, von den soeben entwickelten Grundsätzen aus, eine Revision derjenigen Grundlehren über den Staat vorzunehmen, welche bei den uns hier beschäftigenden Fragen in erster Reihe in Betracht kommen. Vor allem ist es der Souveränetäsbegriff, der eine eingehende Erörterung erheischt, sodann die Lehre, dass die Souveränetät ein wesentliches Merkmal des Staatsbegriffes sei. Erst dann wird der Gang unserer Untersuchung und die Eintheilung des Stoffes zu bestimmen sein.