5 Ungleichheit und Herrschaft unpersönlicher Zwänge als Inhalt bürgerlicher › Freiheit ‹ und › Gleichheit ‹
Eine grundlegende Funktion des Staats besteht also darin, den gesellschaftlichen Verkehr der Menschen als freier und gleicher Privateigentümer zu garantieren. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stehen Freiheit und Gleichheit an der Spitze der Grundrechte, gleich hinter der Menschenwürdegarantie in Artikel 1. Doch Freiheit und Gleichheit werden nicht materiell gewährleistet, sondern formell bestimmt: über die freie und gleiche Rechtspersönlichkeit der Individuen als Privateigentümer. In ihrem konkreten ökonomischen Verkehr dagegen haben die Menschen offensichtlich ungleiche Konkurrenzvoraussetzungen, und sind in ihren Entscheidungen dauernd irgendwelchen Zwängen unterworfen.
Kurz gesagt: Die Garantie des Privateigentums ermöglicht es den zu Konkurrenzsubjekten vereinzelten Menschen, über ihre jeweiligen Güter frei zu verfügen. Zugleich zwingt sie die staatliche Eigentumsgarantie zur Anerkennung der Güter anderer als fremden Besitz und als Waren. Eigentum ist zuerst der Ausschluss aller vom gesellschaftlich produzierten Reichtum – und von den Arbeitsmitteln, mit denen dieser gesellschaftliche Reichtum produziert wurde. Diesen Ausschluss gesellschaftlicher Verfügung über gesellschaftlich notwendige Ressourcen kann deren jeweiliger Eigentümer zu seinem materiellen Vorteil ausnutzen: durch Einräumung einer Benutzungserlaubnis (›zur Miete‹), oder durch Verkauf. Folge des Privateigentums ist, dass nur zahlungskräftige Bedürfnisse gedeckt werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft kann somit gleichzeitig Mangel und Überfl uss an allem herrschen. Unter Voraussetzung des Privateigentums räumt die staatlich garantierte allgemeine Vertrags- und Handlungsfreiheit allen Bürgern die Möglichkeit ein, mit ihren jeweiligen Mitteln ihren ökonomischen Erfolg zu suchen. Diese Möglichkeit ist gleichzeitig ein unumgänglicher Zwang. Die Menschen sind für ihren Erfolg selbst zuständig, und müssen ihn gegen einander erringen. Das ist die positive (im Sinne von gültige) Bestimmung bürgerlicher Freiheit. Diese Freiheit wird durch die erzwungene Anerkennung anderer, feindlich konkurrierender Privatinteressen begrenzt. Da alle Bürger gezwungen sind, mit ihren Mitteln um einen privaten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu konkurrieren, müssen sie für ihr Vorankommen stets auch gleichlautende Interessen anderer schädigen. ›Autonomie‹ bedeutet in der kapitalistischen Gesellschaft eben doch nicht, daß man tun kann, was man will oder was man vernünftigerweise tun sollte. Sie bedeutet im Wesentlichen, dass man jederzeit einen legalen Vertrag abschließen, d.h. eine Geschäftsbeziehung eingehen kann (und zum Überleben auch muss) – sofern sich nur jemand fi ndet, der selbst ein privates Interesse an diesem Geschäft hat.2
Formal ist die staatliche Garantie von Freiheit und Gleichheit, weil sie von allen materiellen Abhängigkeiten und Ungleichheiten absieht, insbesondere von der Stellung der Individuen im Produktionsprozess: Genau so, wie es einem Industriellen grundsätzlich untersagt ist, im beheizten U-Bahnhof zu übernachten, ist es einem Obdachlosen grundsätzlich erlaubt, ein multinationales Unternehmen zu kaufen. Und beiden ist prinzipiell gleichermaßen verboten, ein Monopol
2 Juristisch wird bereits der Kauf bzw. Verkauf einer Semmel als Vertragsverhältnis gefasst
zu bilden – es sei denn ein staatlicher Souverän erkennt darin ausnahmsweise ein ›nationales Interesse‹.3 Gegenüber besonderen privaten Wettbewerbsinteressen bleibt der Staat also neutral. Als Sachwalter eines allgemeinen Rechts garantiert er lediglich die für alle gleichen Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung auf seinem Territorium. Seine Neutralität soll die Entwicklung der kapitalistischen Nationalökonomie als ganzer sichern, von der er als Steuerstaat zugleich selbst abhängig ist. Deshalb hat er durchaus ein parteiisches Interesse an einer gedeihlichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, und damit an der Aufrechterhaltung kapitalistischer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse.
Gesellschaftliche Ungleichheit entsteht nicht etwa durch ungleiche Anwendung von Recht und Gesetz, durch systematischen Betrug oder Bestechlichkeit (Ausnahmen bestätigen die Regel). Soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit folgen im Kapitalismus gerade aus der Gleichbehandlung der Menschen als Bürger bzw. Rechtssubjekte vor dem Gesetz. Durch die Garantie des Privateigentums sind die materiell Ungleichen darauf festgelegt, für ihr Vorankommen mit ihren ungleichen Mitteln selbst zu sorgen. Durch die Gleichbehandlung von Habenden und Habenichtsen wird gesellschaftliche Ungleichheit fortgeschrieben. Lohnabhängige tragen mit ihrer Arbeitskraft und ihrer Lebenszeit dazu bei, den privaten Reichtum all derer zu mehren, die es sich leisten können, andere für sich arbeiten zu lassen. Indem der Staat die ärgsten Folgen der gesellschaftlich produzierten Ungleichheit durch Transferleistungen mildert, hält er ihr soziales Prinzip aus der Kritik.
Deshalb blamiert sich jede Forderung nach ›Gleichberechtigung‹, die von deren gesellschaftlichem Inhalt abstrahiert: der Produktion materieller Ungleichheit. Den Kritikern dieses Resultats formeller Freiheit und Gleichheit kommt häufi g nichts Besseres in den Sinn als die Forderung nach ›Chancengleichheit‹. Anstatt das Prinzip der Herstellung von Ungleichheit zu kritisieren, wird im Namen des Geschlechts, der Abstammung oder irgendeiner Kategorie ethnischer Zuordnung Anspruch auf proportionalen Zugang zu den oberen Posten und Pöstchen von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft erhoben. Dieser Anspruch ist zwar in den meisten bürgerlichen Staaten auf irgendeine Weise rechtlich anerkannt, fi ndet sich aber in der Wirklichkeit nicht berücksichtigt. Die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerb läuft auf eine Verschiebung seiner Opfergruppen hinaus. Wen an der Sor-
3 Frei nach Anatole Frances Diktum von 1894: »Die großartige ›Gleichheit vor dem Gesetz‹ verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen.« (Aus Le lys rouge)
tierung in Unten und Oben nur die ungleiche Repräsentation im Oben stört, der muss sich eben ›als Frau‹, ›als Migrant‹ oder ›als Proletarierkind‹ nach oben buckeln und treten. Das Karussell läuft bereits auf vollen Touren, und es werden nur wenige Plätze frei.4
Unterm rastlosen Druck kapitalistischer Konkurrenz macht das Individuum selbst im Falle seines ökonomischen Aufstiegs die frustrierende Erfahrung, dass der gesellschaftliche Gehalt bürgerlicher Freiheit und Gleichheit wenig mit dem klangvollen Emanzipationsversprechen dieser Worte zu tun hat. Denn ihr wirklicher Inhalt ist nicht die solidarische Emanzipation der Menschheit von Naturzwang und gesellschaftlicher Herrschaft, sondern die Unterwerfung aller unter den unpersönlichen, systemischen Zwang kapitalistischer Verwertung. Also den prinzipiell uferlosen Zwang, Profi te stets aufs Neue als Kapital zu investieren, und dabei andere Kapitale auszustechen, die dem gleichen Zwang unterworfen sind. In der Konkurrenz der Lohnabhängigen, der Unternehmen und der Staaten als Standorte erfasst dieser Verwertungszwang jeden Winkel der Erde. Seine Konjunkturen bleiben trotz aller Steuerungsversuche unvorhersehbar wie das Wetter, weshalb man an der Börse auch in meteorologischen Metaphern spricht. Wer aus dem weltweiten kapitalistischen Produktivitätswettlauf als Sieger hervorgeht, und wessen Investition verpufft, entscheidet sich immer erst nachträglich, als Resultat vorab unverbundener Versuche, den jeweiligen Konkurrenten zu verdrängen. In diesem System gesellschaftlicher Reproduktion ist jeder materielle Vorteil nur vorläufi g, auf Widerruf in künftigen Konkurrenzschlachten. Und Konkurrenzzwang wie Krisendynamik der kapitalistischen Reproduktionsordnung stellen auch die ohnehin höchst exklusiven Freiheitsgewinne bürgerlicher Individualität immer wieder in Frage. So produziert die politische Ökonomie der bürgerlichen Freiheit systematisch individuelle und gesellschaftliche Ohnmacht. Das ist ihr Selbstwiderspruch – den der bürgerliche Staat kraft seines Gewaltmonopols aufrecht erhält.
4 Es geht hier lediglich um den Zynismus der Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerb. Zur Kritik rassistischer oder geschlechtsspezifi scher Diskriminierung siehe Kapitel 15.
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