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15 Nationalismus als zentrale Ideologie und › objektive Gedankenform ‹ staatsbürgerlicher Kollektive

Die Konjunkturen des Weltmarkts treffen die Menschen jederzeit als Bürger eines Staats. Von der Konkurrenzfähigkeit der nationalen Verwertungszone hängen Bildungschancen, Arbeitsplätze, ökonomisches Wachstum, öffentliche Dienste und staatliche Transferleistungen ab. Diese objektive Abhängigkeit des Individuums vom Schicksal ›seines‹ Staates in der Weltmarktkonkurrenz vermittelt sich dem Alltagsbewusstsein als selbstverständliche und unhintergehbare Voraussetzung individueller Existenz. Dieser gesellschaftlich produzierte Schein einer ›naturwüchsigen‹ Zusammengehörigkeit von Individuum und Staat stiftet eine gefühlte Gewissheit nationaler Identität. In tausend ideologische Refl exe gebrochen, tönt sie noch die persönlichste Wahrnehmung nationalfarben: Kunst und Kultur, Sporterfolge, Wachstumsraten, Entführungsopfer und Bildungsmiseren – sie alle werden zu Aspekten einer national schematisierten Aufteilung der Welt in ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹.
In Europa gleichen sich historisch unterschiedene Begründungsmuster des Nationalen immer mehr an. Weder gilt in Frankreich ein lupenrein ›republikanischer ‹ Nationalismus, der alleine nach Geburtsort und politischem Bekenntnis diskriminiert, noch herrscht in Deutschland derzeit ein ausgeprägt völkisch-rassistisches, an der Ideologie biologischer Abstammungsgemeinschaft orientiertes Ausschlusskriterium. Die ökonomische Integration Europas als barrierefreie Wachstumszone des Kapitals hat einen länderübergreifenden, pragmatischen Wohlstandschauvinismus entstehen lassen, der vor allem die geographischen und ideologischen Außengrenzen argwöhnisch überwacht. Doch die Identifi kation mit der Nation bleibt ein automatisches Bedürfnis der kapitalistisch vereinzelten Individuen. Denn der Nationalstaat – die Nationalökonomie, deren abhängige Elemente sie sind – ist nach wie vor ihr wesentlicher Vergesellschaftungszusammenhang. 10
Wie die Ideologien von ›Rasse‹, Geschlecht, Kultur und Religion ist auch nationale Identität keine strategisch gewählte oder eingefl üsterte Weltanschauung. Nationale Identifi kation entsteht längst nicht mehr als ideologische Vision freiheitlicher Selbstermächtigung zur politischen Souveränität. Sondern als unwillkürliche Reaktion auf die grundlegenden Bedrohungslagen bürgerlicher Individualität unterm ständigen Verwertungsdruck. Das Bedürfnis nach einer versichernden Identität antwortet auf die überall greifbare Ohnmacht des Individuums angesichts übermächtiger Konjunkturen der global intensivierten Konkurrenz. Als Projektionsfl äche ursprünglicher und daher ›echter‹, krisenfreier Identität gewährt die Identifi kation mit der Nation eine trügerische Entlastung von den ständig latenten Krisen und Kränkungen kapitalistischer Vergesellschaftung. Daher das allgegenwärtige Interesse für nationale ›Ursprünge‹ in den Tiefen der Geschichte. Nationalgeschichtsschreibung antwortet auf ein spezifi sch bürgerlich-kapitalistisches Identitätsbegehren. Der im Kapitalismus jederzeit latent bedrohte und von widersprüchlichen Zwängen gequälte Bürger sucht hier Anhaltspunkte einer von alters her versicherten, unzweifelhaften und widerspruchsfreien Zusammengehörigkeit. Befriedigung fi ndet er nicht nur an Imaginationen historischer Größe ›seiner‹ Nation, sondern ebensogut und sogar noch besser an deren historischen Niederlagen. Jede Nationalgeschichtsschreibung beinhaltet Erzählungen vorgeblich ›gemeinsam‹ ertragenen Leids. Denn Leidensgenossenschaft ist die beste Garantie der so sehr vermissten wie ersehnten Eintracht. Und es ist diese Sehnsucht, die die historische Imagination des Nationalismus leitet. Selbst wo nationale Identität nur als diffuses ›Gefühl‹ oder pseudoironisch gebrochen gepfl egt wird, ist ihr ideologischer Ertrag unvermindert: der Anspruch und die Gewissheit unverbrüchlicher Zusammengehörigkeit.
Die Euphorie der nationalen Gemeinschaft bildet ein ideologisch versöhnendes Gegengewicht zum notwendigen Argwohn, mit dem sich bürgerliche Individuen in ihrer alltäglichen Konkurrenz begegnen müssen. Dass sich diese Gemeinschaftssehnsucht immer noch und immer wieder an Symbolen der Nation entzündet, refl ektiert nur die ungebrochene Abhängigkeit des Individuums vom Weltmarktschicksal ›seines‹ staatlichen Verwertungszusammenhangs. In rituellen Akten nationaler Kommunion überspringen bürgerliche Individuen ihre gesellschaftliche Konkurrenz, und genießen sich als die Schicksalsgemeinschaft, die sie in der übergeordneten Weltmarktkonkurrenz der Nationalökonomien auch tatsächlich sind. Im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen privaten Vereinzelung und Ohnmacht erleben sie sich als kollektiv handlungsfähig.
Als ideologische Refl exionsform des überdauernden und unausweichlichen Konkurrenzzwangs, unter dem bürgerliche Staaten und Individuen ihr Dasein fristen, ist auch das Gefühl nationaler Identität eine überdauernde und zwanghafte Haltung. Und analog zur ständigen Mobilisierung in der gesellschaftlichen Konkurrenz ist auch nationale Identifi zierung als umfassendes und ständig erneuerungsbedürftiges System organisiert. Beständig werden symbolträchtige Indizien nationaler Leistungsfähigkeit und sittlicher Überlegenheit ausgewertet, von den Wirtschaftsdaten über Sportresultate bis zum Ansehen der Landsleute in der Welt. Im Zentrum dieses symbolischen Universums steht der Staat. Denn erst die Identifi kation mit der souveränen Macht des Gewaltmonopolisten verspricht, die dauernde Erfahrung individueller Ohnmacht zu überwinden, von der im Kapitalismus nicht einmal Privilegierte und Glückspilze zuverlässig verschont bleiben. Sie verspricht Teilhabe an dessen Machtvollkommenheit jenseits der ausweglosen Zwänge täglicher Verwertung. (Das ist auch schon die ganze Erklärung der klassenübergreifenden Begeisterung für Nationalmannschaften und für Staatsfl aggen, die sich staatsbürgerliche Idioten umhängen oder ins Gesicht malen – eine moderne Form magischer Identifi kation, die der Kapitalismus selbst provoziert.)
Angesichts der strukturellen Vergesellschaftungskonfl ikte des Kapitalismus äussert sich in der Ideologie nationaler Identität ein Anspruch auf Anerkennung und Teilhabe. Der Staat soll konkret gewährleisten, was er als politisches Subjekt der kapitalistischen Reproduktionsordnung nur formell garantieren kann, aber jederzeit machtvoll und unausweichlich gegen das Individuum durchsetzt: Er soll reale Gleichheit garantieren, wo er seiner Funktion gemäß nur formelle Rechtsgleichheit durchsetzen kann. Er soll die tatsächliche, materielle Anerkennung der Person garantieren, und nicht nur die formelle Anerkennung der Rechtspersönlichkeit, die in der Konkurrenz immer wieder durchgestrichen wird. Er soll wirklichen Schutz garantieren vor den Fährnissen der unerbittlichen ökonomischen Konkurrenz, die er als ›ideeller Gesamtkapitalist‹ doch selbst aufrecht erhält. – Der Staat wird als Gewährleistungsinstanz nationaler Ansprüche angerufen, weil seine Macht tatsächlich souverän erscheint. Die nationalistische Forderung exklusiver Fürsorge setzt damit auf eine hoheitliche, d.h. außerökono
mische Garantie privilegierter Ansprüche. In den Konjunkturen der Konkurrenz erscheint sie als einzig verlässlicher Schutz.
Da jeder Bürger seine Abhängigkeit vom staatlichen Kollektiv an den nationalökonomischen Konjunkturdaten und den Kennziffern des Staatshaushalts ablesen kann, hat er allen Grund, die Zumutungen des nationalen Wettbewerbserfolgs und der staatlichen Mobilisierung des nationalen Humankapitals als patriotische Pfl ichten anzuerkennen. Staat und verstaatlichtes Individuum teilen hier ein Wettbewerbsinteresse, und ziehen deshalb bevölkerungspolitisch in der Regel am gleichen Strang. Zudem lehrt die gesellschaftliche Wirklichkeit des Privateigentums, dass Anerkennung, Daseinssicherheit und die Garantie eines guten Lebens, auf die jeder demokratische Nationalist einen verallgemeinerten Anspruch erhebt, nur als stets gefährdete Privilegien zu haben sind. Die nationalistische Forderung nach garantierter Teilhabe läuft also darauf hinaus, den Kreis der Anspruchsberechtigten zu beschränken, und die Pfl ichten der Zugehörigkeit zu erhöhen. Der staatsbürgerliche Nationalismus verhält sich damit ausschließend wie das Privateigentum, nur jenseits der Willkür des Marktes.
Das Aggressive der nationalen Anspruchshaltung refl ektiert auch die im Kapitalismus jederzeit mögliche Erfahrung, dass ›ehrliche Arbeit‹ in der Konkurrenz buchstäblich ›nichts gilt‹ –, dass sie sich im Wettbewerb nicht bewährt, und damit im Sinne des Kapitals schlicht wertlos ist. In dieser wiederkehrenden, strukturellen Bedrohungslage kapitalistischer Vergesellschaftung scheint der Staat als Hüter von Recht und Gesetz berufen, für ›Gerechtigkeit‹ zu sorgen. Mit seinen überlegenen Machtmitteln soll er die kränkende und quälende Wahrnehmung überwinden, in der kapitalistischen Konkurrenz trotz voller Leistungsbereitschaft um den ›gerechten Verdienst‹ gebracht, also ständig betrogen und übervorteilt zu werden. Im nationalistischen Umkehrschluss erscheint jedes Einkommen, das nicht mühevoll erarbeitet wurde, als Schmarotzerei. Radikale Staatsbürger leiten daraus das Recht und sogar die Pfl icht ab, solche ›Schmarotzer‹ auszugrenzen und anzugreifen. Liberale Demokraten nehmen dafür den Staat in die Pfl icht.
Die wiederkehrenden rassistischen Exzesse der Mobs von Rostock-Lichtenhagen bis Johannesburg sind also ein wiederkehrendes Moment der Ideologie nationaler Identität. Im Pogrom defi niert der nationalistische Mob nicht primär sein Außen, sondern sich selbst als anspruchsberechtigt. Er sprengt die Aufl agen des bürgerlichen Rechts, und überführt den endlosen Konkurrenzzwang des Kapitalismus in eine handfeste Entscheidungsschlacht. Auch der tolerante Alltagsnationalismus des Bürgers gewinnt seine Energie und Befriedigung aus dem Versprechen, die ausweglosen Zumutungen kapitalistischer Konkurrenz innerhalb eines nationalen (oder wenigstens ethnischen) Kollektivs der Gleichen und Gleichberechtigten einzufrieden, in dem Überleben und Anerkennung nicht jeden Tag aufs Neue erkämpft werden müssen. Nationale Identität ist also eine allgemeine, objektive Gedankenform kapitalistischer Vergesellschaftung, ein einheitliches, aus struktureller Bedrohung geborenes Bedürfnis. Sie reproduziert die Konfl ikte, denen sie sich verdankt.