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§5 Die Rechtspersönlichkeit und der Staats begriff im Bundesstaaten

Der status causae et controversiae, wie wir ihn aufge- magjit haben, mag noch nicht zu dem Schlüsse berechtigen, dass eine Uebertragung dör Lehren Calhoun’s auf das deutsche Reich und seine Verfassung schlechthin unmöglich sei. • Aber gewiss ist es auf der einen Seite, dass die Ueber- * 60


»• Seydel, Commentar pag. 136. 243. 60 Seydel, in der Zeitschrift pag. 236 ff. Commentar pag. 84 ff.
tragung nur um den Preis geschehen kann, den Wortlaut der Verfassung überall nur in einem uneigentlicben Sinne zu nehmen; den Bestimmungen derselben Unterscheidungen bei- zumessen, denen eine erkennbare juristische Wirkung nicht entspricht; den an die Wirksamkeit des Reiches unmittelbar geknüpften rechtlichen Folgen ein vertragsmässiges, auf die Suveränetät der Einzelstaaten gestutztes Mittelglied um der juristischen Konstruktion willen einzuschieben; den Be weiß überall anzutreten, dass die Reichsverfassung das, was sie ihrem Wortlaute nach beabsichtigte, juristisch nicht erreichen konnte; mit dem Allen die thatsächlichen Erscheinungen vom juristischen Standpunkt aus in leeren Schein aufzulösen.
Gewiss ist es auf xler andern Seite, dass wir berechtigt werden den Wortlaut der Reichsverfassung in seinem eigentlichen Sinne zu nehmen, Unterscheidungen ohne rechtlich nachweisbare Wirkungen abzuweisen, die unverkennbaren Absichten der Reichsverfassung und die äusserlichen, thatsächlichen Erscheinungen als ein auch juristisch Wirkliches zu betrachten, wenn wir uns entschliessen, das Reich in seiner Gesammtheit als Rechtspersönlichkeit zu fassen, ihm seine Kompetenzen und seine Organe unter dem nämlichen juristischen Verhältnisse zuzuschreiben, unter welchem wir dem Einheitsstaate die seinigen beimessen — kurz das Reich innerhalb seiner Rechtssphäre als staatsrechtliche Potenz anzuerkennen.
Es müssen zwingende Gründe der juristischen Technik sein, welche uns nöthigen diese einfache Konstruktion des Rechtsverhältnisses der andern künstlich verwickelten zu opfern. Und allerdings sind die Gründe, welche als durchschlagend betrachtet worden sind, Gründe, welche die Grundbegriffe alles öffentlichen Rechtes in die Frage verwickeln.
I. An der Spitze steht eine rechtliche Auffassung des Wesens derjuristischen Person, welche dieselbe als eine Fiktion betrachtet zu dem Zwecke, um eine einfache juristische Konstruktion gewisser Gemeinschaftsverhältnisse an der Stelle verwickelter juristischer Deduktionen, zu gewinnen, welche sie als ein Gedachtes qualifizirt, dem nur die Methode der juristischen Technik ein künstliches Leben einhaucht, welche sie mit dem Allen als etwas Willkürliches behandelt, dem das objektive Recht nach Gründen der Zweckmässigkeit und Bequemlichkeit seine Anerkennung zollt oder, versagt 6(l
Das ist ein schwer begreiflicher Irrthum in doppelter Rücksicht.
Es ist ein Irrthum, weil eine Verkennung der psychologischen und ethischen Natur des Menschen, als eines auf die Ergänzung in der Gemeinschaft angelegten Wesens.
Es ist ein Irrthum, weil eine Verkennung der Aufgabe des Rechtes, welches die für die äussere Welt wirksamen Willensbestimmungen in der Gemeinschaft ordnen soll — eine Ordnung die nicht bestehen kann in der Verleugnung und Unterdrückung solcher, thatsächlich wirksamer Willensbildungen, ohne welche der Mensch und die menschliche Gemeinschaft ihre höchsten und wesentlichsten, sittlichen Funktionen nicht erfüllen können.
Der Gemeinwille als ein Anderes denn der individuelle Wille und denn die zufällig übereinstimmende Sumnae einer Anzahl individueller Willen ist aber keine Fiktion, kein Gedachtes, kein Willkürliches, sondern eine machtvoll herrschende Thatsache.
Es ist Sache der Psychologie und Ethik, der Anthropologie im weitern Sinn, den Nachweis zu führen, dass die. menschliche Natur nicht nur die Fähigkeit, sondern dieNöthigung in sich trägt, sich zu sittlichen Ideen oder Lebenszwecken zu bestimmen, deren mögliche Verwirklichung über die Grenzen individueller Wirksamkeit hinaus liegt. Diese Ideen oder Lebenszwecke sind nicht dem individuellen Willen unter-


60 Eine kritische Beleuchtung der Literatur bei Z i t e 1 m a n n, Begriff und Wesen der s. g. juristischen Personen. Leipzig, 1873. Die eigene Lösung der Frage scheitert an der grossen Weite des zu Grunde gelegten Prinzipe8 der Einheit in der Vielheit, obwohl es ganz richtig vermieden wurde, die Stiftung und die Korporation als derselben rechtlichen Kategorie angehörig zu betrachten.
worfen, sondern sie üben umgekehrt eine Herrschaft über das individuelle Wollen und Handeln aus. Sie erzeugen noth- wendig einen Gemein willen, der sich von der Summe der variablen Einzelwillen als das konstante Wollen einer Gesammtheit abhebt. Denn eine Gesammtheit ist eine ihrem Wollen einheitlich bestimmte Menschenzahl. Jede Gesammt- heit aber drängt dahin, ihr ideelles, abstraktes Dasein zu einer Realität zu erheben. Indem einem einzelnen oder mehreren Individuen oder der Summe der Individuen in ihren mehr oder minder modifizirten Majoritätsbeschlüssen, die Fähigkeit anerkannt wird, den Gemein willen darzustellen, indem ihrem Willen unabhängig von der Uebereinstimmung der Einzelwillen die Gemeingtiltigkeit beigemessen wird, gewinnt die Gesammtheit Organe des Wollens und Handelns. Die Gesammtheit greift damit als ein Aeusserliches auch äusserlich in die Willensverhältnisse ihrer Mitglieder ein, sie konstituirt sich ihnen gegenüber thatsächlich als ein Herrschafts-, als einVer- hältniss der Ueber- und Unterordnung, sie behauptet sich als wollendes und handelndes Wesen auch Dritten gegenüber.
Diesen thatsächlichen Bildungen gegenüber kann sich das Recht nicht willkürlich verhalten. Der Staat, zur Rea- lisirung des Rechtes berufen, mag die in seiner Gesellschaft hervortretenden, verschiedenartigen Gemeinschaften auf ihre sittliche Berechtigung oder Zulässigkeit, auf ihre Dauerhaftigkeit und sachgemässe Struktur hin prüfen , sie danach regeln und, um höherer Zwecke willen, auch unterdrücken. Aber im Gedanken des Rechtes kann nicht ein Lebenszweck als berechtigt anerkannt und die aus seiner Erstrebung sich entwickelnde Gesammtheit als eine nur äusserlich verbundene Summe Einzelner fingirt und damit als eine selbständige Willenspotenz verleugnet werden. Das Recht kann den adäquaten Ausdruck für diese thatsächliche Erscheinung gar nicht anders finden‘, als indem es die zur Willens- und Handlungsfähigkeit organisirte Gesammtheit als selbständigen Träger von Rechten und Pflichten gelten lässt. Der Satz, dass das Recht sich diesen Bildungen gegenüber in willkürlichen Konstruktionen verhalten könne, ist eine Zerstörung des. Lebensprinzipes des Rechtes und des Grundes auch der individuellen Rechtspersönlichkeit. Denn jenes selbst ist ein Gemeinwille, der sich in den das Recht wollenden und hand- . habenden Organen einer Gesammtheit realisirt und diese auch ist Rechtspersönlichkeit nur um ihrer thatsächlichen Willenspotenz halber. Nicht ein abstrakt Gedachtes, nicht das x äusserliche Aggregat einer Anzahl Menschen, sondern der in Organen des Wollens und Handelns zur Leibhaftigkeit orga- nisirte Gemeinwille ist das natürliche Substrat, welchem das Recht nur Anerkennung zollt und um seiner Idee willen zollen muss, welches dasselbe in seine Ordnung einreiht und um seiner Idee willen einreihen muss.
Die juristische Person zieht sich als eine einheitliche rechtliche Kategorie durch alle unterschiedenen Theile der Rechtsordnung hindurch. Sie bestimmt die ihr entsprechenden Lehenserscheinungen sowohl im Gebiete des Privatrechtes als auch im Gebiete des öffentlichen Rechtes61. Keinerlei Grund insbesondere besteht, die Anwendbarkeit dieser rechtlichen Kategorie vom Gebiete des Völkerrechtes, im Verhaltniss von Staat zu Staat auszuschliessen. Denn der Staat ist in den Grenzen seiner Lebensbedingungen die nämliche Wik lenspotenz, wie der einzelne Mensch. Er vermag sich zu einem höhern Lebenszwecke, welcher in seiner Durchführung die Kraft des Individuum übersteigt, so gut zu bestimmen, wie dieser. Er ist der Nöthigung zur Ergänzung der individuellen


61 Die Kategorie der juristischen Person sagt absolut nichts Anderes aus, als dass die darunter fallende Gemeinschaft ein von ihren Mitgliedern verschiedener, willens- und handlungsfähiger Träger von Rechten und Pflichten ist. Sie sagt absolut Nichts aus über die Natur dieser Rechte und Pflichten. In dieser Rücksicht waltet eine totale Verschiedenheit zwischen den gewillkürten juristischen Personen des Privatrechtes, den dem Staate nachgeordneten öffentlichen Korporationen, dem Staate selbst und den juristischen Personen des Völkerrechtes, die sich nicht zum Staat erheben, ob. Die Einheitlichkeit der Kategorie hat mit Recht Bähr in seinem Rechtsstaat behauptet, die Warnung vor dieser Verwechselung mit Recht Gerber in Beinen Grundzügen des deutschen Staatsrechtes — Sb Note 2 — erhoben.
Unzulänglichkeit in einer höhere Gemeinschaft so gut unterworfen, wie dieser.
Kein der Natur des Rechtes und seiner Technik entspringendes Hinderniss besteht, um dem Bundesstaate oderStaaten- bunde juristische Persönlichkeit beizulegen, wie dem einzelnen Staate. Es ist eine thatsächliche Frage, ob ein solcher Bund die Merkmale einer Gesammtheit an sich trägt, ob er mit Organen, welche ihn zu einem von dem der Einzelstaaten unterschiedenen Wollen und Handeln befähigen, ausgerüstet ist, ob die für ihn und seine Mitglieder rechtsverbindlichen Normen die Absicht bekunden, ihn als selbständiges Subjekt von Rechten und Pflichten hinzustellen.
Dass dies aber der Fall sei bei dem deutschen Reiche und seiner Verfassung — soviel hat der von uns aufgemachte status causae et controversiae erwiesen. Und damit besteht von dieser Seite der Betrachtung aus nicht nur kein Hinderniss , sondern die Nöthigung das Reich als Rechtspersönlichkeit in dem nämlichen Sinne aufzufassen, wie den einzelnen Staat.
Wir sind auf keinen Fall berechtigt, das deutsche Reich und seine Verfassung in ihrer Totalität als die Vertragsbestimmung für ein vertragsmässiges Verbältniss der einzelnen Staaten unter einander aufzufassen. Die Frage nach den vertragsmässigen Elementen der deutschen Reichsverfassung kann, wenn überhaupt, nur in der von uns festgestellten Beschränkung aufgeworfen werden.
II. Auch zugegeben, dass wir berechtigt und genöthigt sind, das Reich als ein politisches Gemeinwesen mit selbständiger Rechtspersönlichkeit aufzufassen, so ist damit noch nicht entschieden, ob und in welchem Sinne wir demselben die Natur des Staates beimessen können.
Sagen wir, im nahen Anschlüsse an Aristoteles 62, der Staat ist die zum Selbstbewusstsein und damit zur Willens- und Handlungsfähigkeit erhobene vollkommene und selbstgenug- same Lebensgemeinschaft eines Volkes. Vollkommen in dem


62 Pol. I, 2. III, 9. VII, 8. (Bekker).
Sinne, dass sie von ihrer Aufgabe keinen sittlich geforderten oder doch erlaubten Lebenszweck ausschliesst, welcher nur in und mittels der Gemeinschaft erreicht werden kann. Selbst- genugsam in dem Sinne, dass die Gemeinschaft die Bedingungen ihrer Existenz und Wirksamkeit in sich selber findet, dass ihrem Willen keine andern Schranken gesetzt sind, als die materiellen, welche ihre Idee, und die formellen oder äussern Schranken, welche die Fähigkeit und die in aller Gemeinschaft hervortretende Nothwendigkeit, ihren Willen rechtlich zu bestimmen, erzeugt. Alle Merkmale in dem Sinne, dass der Staat ein organisches Ganzes und zwar ein e t h i s c h – organische^ d. h. ein in Willenspotenzen sich gliederndes Ganzes ist.
Dem gegenüber zerreisst die herkömmliche Auffassung des Bundesstaates die in und mittels der Gemeinschaft zu erreichenden Lebensaufgaben in zwei Theile; sie weist die Verwirklichung derselben auf der einen Seite dem Gesammtstaate, auf der andern Seite der Summe der Einzelstaaten zu; sie grenzt den Wirkungskreis beider scharf gegeneinander ab und behauptet, dass jeder von beiden innerhalb seines Wir- ‚ kungskreises mit voller Selbständigkeit als Staat bestehe. Es ist Augenscheinlich, dass diese Auffassung in einen grellen Widerspruch tritt mit den begrifflichen Merkmalen des Staates, wie sie in allem Wesentlichen trotz der Verschiedenheit ihrer Begründung und ihrer systematischen Ordnung feststehn, mag man sie Vollkommenheit, Selbständigkeit, Selbstgenügsamkeit, Suveränetat, Einheit, das Sein als höchste Gemeinschaft, die Ausstattung mit oberster, höchster, ausschliesslicher Gewalt u. s. w, benennen.
An dem Widerspruche setzt die Lehre Calhoun’s ein. Sie behauptet: Es ist logisch unmöglich innerhalb desselben Volkes die Organisation und Aufgaben des Staates an zwei Arten politischer Gemeinwesen mit selbständiger Wirkungskraft zu vertheilen und in diesen Theilen den vollen Begriff des Staates mit dem ihm wesentlichen Merkmal der Suveränetät wiederzufinden. Es ist eine logische Nöthigung den Begriff desStaates entweder im Gesammtstaate oder in jedem Einzelstaate wiederzufinden. Der Bundesstaat ist entweder ein falscher Ausdruck für den Einheitsstaat, dann sind die Einzelstaaten nicht Staaten. Oder wenn er dies nicht sein soll und sein kann, dann ist der Gesammtstaat kein Staat, sondern nur die Einzelstaaten sind Staaten und der Bundesstaat ist, wieder Staatenbund, nur eine durch die Vertragsfreiheit eigenthüm- lieh modifizirte, vertragsmässige Einigung mehrerer suve- räner Staaten.
Allein die scheinbar scharfe und unabweisliche Alternative erschöpft die Fragstellung nicht. Es bleibt für eine Auffassung Raum, welche den Begriff des Staates mit seinen noth- wendigen Attributen weder in dem einen noch in dem andern Gemeinwesen noch gleichzeitig in beiden, in ihrer Sonder* Stellung betrachtet, sucht und findet, sondern nur in dem organischen Miteinander und in dem planmässigen Zusammenwirken beider. Nicht der Einzelstaat, nicht der Gesammtstaat sind Staaten schlechthin, siö sind nur nach der Weise von Staaten organisirte und handelnde politische Gemeinwesen. Staat schlechthin ist nur der Bundesstaat als die Totalität beider.
In der That — das Problem des Bundesstaates liegt nicht in der Entscheidung der aufgestellten Alternative. Es liegt für die praktische Politik gleichmässig wie für die wissenschaftliche Konstruktion in der Frage, ob jene Einheit in der Vielheit, welche, weil die über die mögliche Auffassung des Staates als organischen Ganzen entscheidende Voraussetzung, die oberste Voraussetzung für jedes fernere wesentliche Begriffsmerkmal desselben ist, für das Verhältniss des Gesammt- staates zu den Einzelstaaten aufgewiesen werden kann; ob damit im Bundesstaate die geforderte organische Totalität zur Erscheinung kommt.
Die Einheit des Staates ist am Fassbarsten und zugleich am Rohesten dargestellt in der absoluten Monarchie, wenn ein individueller Wille Verfassung und Gesetz, Verordnung und Verfügung erzeugt, wenn die Verwaltung des Staates über den Dienern und Bevollmächtigten des Monarchen zu den organischen Erscheinungen des Amtes und der Selbstverwaltung noch nicht durchgedrungen ist. Die Einheit des Staates ist um so ideeller oder, sagen wir, abstrakter und das Produkt eines um so verwickelteren Prozesses, je mehr wir uns dem modernen Rechtsstaat nähern. Der Wille des Staates festigt sich in seinen obersten, allgemeinen und grundsätzlichen Bestimmungen zu Verfassung und Gesetz, welche den Suverän selbst binden; an der Bildung dieses Willens werden die Angehörigen des Staates in mänigfachen Gliederungen und in verschiedenen Formen betheiligt; die Verwaltung tritt auseinander in eine durch- und übereinander geschichtete Menge von Beamten- und Selbstverwaltungskörpern, denen das Gesetz feste Kompetenzen anweist und die damit in mehr oder minder umfassender Weise zu einem selbständigen Wollen und Handeln berechtigt werden. Aber allerdings alle diese Instanzen des staatlichen Wollens und Handelns werden am letzten Ende auf einen einheitlichen Mittelpunkt bezogen, indem Alles was im Namen des Staates geschieht, geschieht unter der Sanktion, unter dem Befehle oder unter der Ermächtigung des Suveränes, mag dieser der Monarch oder das Volk selbst in solcher Ordnung sein, welche dasselbe zur Erzeugung eines einheitlichen Willens befähigt.
Der Bundesstaat steht hiervon noch weit ab. Er vermeidet nicht nur nicht das komplizirte Räderwerk, er verdoppelt und vervielfältigt es in dem Nebeneinander des ■Gesammtstaates und der Einzelstaaten. Er will die Selbständigkeit der Einzelstaaten bis zu dem Grade bewahren, dass sie für die ihnen obliegenden staatlichen Aufgaben nicht nur die Selbständigkeit der Verwaltung, sondern auch die der Gesetzgebung, der letzten Sanktion und Ermächtigung beibehalten. Hier muss die geforderte Einheit, wenn sie überhaupt gefunden werden kann, in äusserster Steigerung ein ideelles oder abstraktes Gepräge an sich tragen. Die zu- sammenfassende, einigende Kraft wird, um den Ausdruck zu gebrauchen, eine latente sein, di^sich zur Aktualität nur umsetzt, wenn es gilt, eine Störung des organischen Zusammen wirkens der verschiedenartigen, an der Gesammtaufgabe des Staates arbeitenden Willensmächte zu beseitigen oder ihr vorzubeugen.
Man wird diese Einheit im Bundesstaate zu suchen hab$n in seiner Organisation, welche Überall, wenn auch in verschiedenen Formen, diejenigen, welche die Träger der obersten Gewalt in den Einzelstaaten sind, eine Verbindung eingehn lässt, als deren Glieder sie zugleich die Träger der obersten Gewalt im Gesammtstaate oder doch Theilnehmer daran sind. Man wird sie zu suchen haben in den Verfassungsgesetzen des Bundesstaates, insofern sie diejenigen Aufgaben des Staates, welche nur durch eine die Einzelstaaten ergänzende Gemeinschaft gelöst werden können, und diejenigen, welche der individualisirenden Behandlung zugänglich und bedürftig sind, scharf sondern und sachgemäss vertheilen, insofern dieselben aber gleichzeitig auch in soweit in die Regierung der Einzelstaaten eingreifen, als noth wendig ist, um diejenige wesentliche Ueberein8timmung in der Auffassung der Staatsaufgaben durch den Gesammtstaat und jeden Einzelstaat, ja in den Formen ihrer Realisirung zu verbärgen, ohne welche die geplante, gegenseitige Ergänzung für die Erreichung des Staatszweckes schlechthin undenkbar ist.
Aber am letzten Ende wird es, wenn die geforderte Einheit nicht vergeblich gesucht werden soll, ein Recht und eine Macht geben müssen, welche diese Anlage der Organisation und der Kompetenzen auf ein Ganzes hin nicht nur wahrt sondern auch gejnäss den mit den tbatsäcblichen Voraussetzungen wechselnden Anforderungen an den Staat und gemäss den wechselnden Auffassungen über die Aufgaben des Staates und über deren Verwirklichungsmittel fortbildet Dieses Recht und diese Macht kann der Natur der Sache nach nur bei dem Gesammtstaate liegen.
Damit ist es gesagt, dass die einzelnen Staaten auch in ■den Sphären, welche ihnen zu selbständiger Gesetzgebung und Verwaltung überlassen sind, nicht schlechthin als selbständig, als losgelöst von jeder Beziehung zum Ganzen betrachtet werden können 63. Der Gesammtstaat und die Einzelstaaten stehn, jeder in seiner SphäTe, nicht schlechthin im Verhältniss der Nebenordnung. Der Gesammtstaat stellt sich im Verhältniss zu den Einzelstaaten als eine Übergreifende Potenz dar, insofern er nicht nur berufen ist, die ihm zur unmittelbaren Verwirklichung überwiesenen Aufgaben als ein Glied des Ganzen zu lösen, sondern zugleich berufen ist, das Ganze selbst zu wahren und als solches fortzubilden.
Das Unterscheidungsmerkmal des Bundesstaates vom Einheitsstaate kann nicht in der Annahme einer nur dem Umfange nach beschränkten Suveränetät der Einzelstaaten neben dem beschränkten Umfange der Suveränetät des Ge- sammtstaates gefunden werden, sondern nur in einer so losen Gliederung des Ganzen, dass die Einzelstaaten, den Begriff der Selbstverwaltung durchbrechend, nach der Weise eines Staates d. h. zu eigenem Rechte und nach eigenen Gesetzen staatliche Aufgaben vollziehn. Aber auch so vollziehn sie diese Aufgaben nur in den verfassungsmässigen Grenzen und unter den verfassungsmässigen Bedingungen, welche die Einordnung in ein Ganzes erheischen.
Man hat im Bundesstaate den Gesammtstaat einerseits, die Einzelstaaten andererseits und als ein Drittes den Bundesstaat selbst, als die Nebenordnung der beiden ersten in voller Selbständigkeit und darum Aeusserlichkeit unterschieden» Allein hat der Gesammtstaat zugleich die Funktion, die Einzelstaaten einem Ganzen als Glieder einzureihn und diese Gliederung dauernd und fortbildend zu erhalten, so ist um dieser seiner Funktion willen, die ihm neben der unmittelbaren Erfüllung der ihm zugewiesenen Staatsaufgaben obliegt, der Gesammtstaat nicht etwas von dem Bundesstaat Verschiedenes, sondern der Bundesstaat selbst.


83 Waitz, Politik pag. 213: „Ueberall ist derGesammtstaat selbst nur ein Staat wie die Einzelstaaten, freilich nicht räumlich, aber dem Begriff und Recht nach diesen nebengeordnet“. Es ist das der prägnante Ausdruck für die herrschende Lehre.
Unter dieser Auffassung, aber allerdings auch nur unter dieser, finden wir den Begriff des Staates voll und ohne Beraubung seiner wesentlichen Merkmale im Bundesstaate, aber allerdings auch nur in diesem wieder.
Es ist gewiss, dass diese Auffassung nicht nur mit der vertragsmässigen Auffassung der Reichsverfassung und des dadurch erzeugten Gesammt-Rechtsverhältnisses nach den Lehren Calhoun’s unvereinbar ist, sondern dass sie schon dann als unrichtig zurückgewiesen werden müsste, wenn wir vertragsmässige Elemente auch nur in dem Umfange nachweisen müssten, in welchem wir die Frage um der Untersuchung willen gestellt haben.
Müssten wir zur vollen Bejahung der Frage gelangen, dann werden wir im deutschen Reiche noch immer nicht ein rein vertragsmässiges Rechtsverhältpiss der Einzelstaaten erkennen, aber wir werden eine schwere Wahl haben. Wir könnten vielleicht im deutschen Reiche eine eigentümlich gewandte völkerrechtliche Korporation erblicken und dasselbe damit dem Staatenbunde annähem.
Oder wir müssten uns entschliessen, dem Begriffe des Staates, wie herkömmlich, in Anwendung auf den Bundesstaat eine Erweiterung zu geben, die ihn wesentlicher Merkmale beraubt und darum wissenschaftlich werthlos macht. Oder wir könnten uns an dem Versuche betheiligen64, den Begriff des Staates als den Musterbegriff aller politischen Wissenschaften, als der er bisher galt, aufzugeben und ihn mit irgend einem andern um der erforderlichen Konstruktion willen zu vertauschen. Der Verlauf der Untersuchung mag entscheiden.


M Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen pag 2 ff.