6. Menschenrechte als Korrektur „von außen“ und Selbstverpflichtung „im Inneren“
Welche Rolle Menschenrechte im nationalen Strafverfahren spielen, hängt letztlich immer von der Bereitschaft der nationalen Strafgerichte zu ihrer Rezeption (oder Obstruktion) ab. Auch das Verhältnis eines nationalen Verfassungsgerichts (so denn ein solches im nationalen
[1] EGMR, Garcia Alva/Deutschland, Nr. 23541/94; Lietzow/Deutschland, Nr. 24479/94; Schöps/Deutsch- land, Nr. 25116/94; Urt. v. 13.2.2001, StV 2001, 201 ff. (Akteneinsichtsrecht bei U-Haft) m. Anm. Kempf, NJW 2001, 206 f. u. Kühne/Esser, StV 2002, 383, 390 ff.
[1] EGMR, Böhmer/Deutschland, Urt. v. 3.10.2002, Nr. 37568/97, NJW 2004, 43 = StV 2003, 82 = NStZ 2004, 159 (§ 56f StGB).
[1] EGMR, El Kaada/Deutschland, Urt. v. 12.11.2015, Nr. 2130/10, NJW 2016, 3645 = StV 2016, 703; hierzu: Esser, NStZ 2016, 697.
Gerichtssystem vorhanden ist) zum EGMR spielt in diesem Kontext eine große Rolle.
Ein solches Verfassungsgericht kann einerseits eine gehörige Filterfunktion übernehmen und Standards, die der EGMR über die Menschenrechte herleitet, bereits in die Auslegung der nationalen Grundrechte einfließen lassen.
Auf der anderen Seite birgt eine solche Bi-Polarität zwischen Verfassungsgericht und Menschenrechtsgerichtshof nicht selten auch die Gefahr eines gewissen Interessenkonfliktes, der mitunter sogar in eine Art wechselseitigen „Selbsterhaltungstrieb" einmünden kann.
Auffallend ist, dass Staaten wie etwa die Niederlande, die nicht über ein Verfassungsgericht „ oberhalb " ihrer Fachgerichtsbarkeiten verfügen, die Standards der EMRK traditionell ergiebiger und bereitwilliger rezipieren als dies etwa in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland lange Zeit der Fall war.
Für Deutschland ist zu konstatieren, dass die Menschenrechte auch in zentralen Fragen des Sanktionenrechts und Strafverfahrensrechts eine Korrektur „von außen" bewirkt haben, die in den über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen und Systemen „von innen" kaum zu bewerkstelligen gewesen wäre.
Dazu gehören etwa die weitreichenden Reformen der Sicherungsverwahrung, aber auch die Diskussion um den Brechmitteleinsatz, die in Deutschland bereits „abgeschlossen" schien, bevor dann der EGMR[1] endlich die Beteiligten wachrüttelte.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Menschenrechte in den letzten Jahren zu Veränderungen, im Sinne einer positiven Stärkung der Standards der Strafverteidigung in Deutschland geführt haben - frei nach dem deutschen Sprichwort „steter Tropfen höhlt den Stein".
Zum anderen bewirken die Menschenrechte auch eine gewisse Festigung auf nationaler Ebene bereits errungener Standards. Wir sehen dies etwa bei den Eingriffsbefugnissen für Freiheitsentziehungen, zum Beispiel bei der Abschiebungshaft, deren Ausweitung derzeit in Deutschland lebhaft diskutiert wird.
Auch vollzieht sich die Implementierung völkerrechtlicher Standards meist über einen längeren Zeitraum -und sie verlangt dabei nach einer gewissen Hartnäckigkeit auf Seiten der Strafverteidigung.
Menschenrechte sind in Politik und Gesellschaft immer willkommen, wenn man sie anderen Staaten als rechtsstaatliche Orientierung vorhalten, um nicht zu sagen vorschreiben kann, etwa um Mängel im „ fremden " System zu lokalisieren und dann nicht selten medienwirksam zu rügen.
Wer den Schutz der Menschenrechte allerdings wirklich ernst meint, muss auch bereit sein, seine eigenen wohl geliebten und auf nationaler Ebene gepflegten „ Standards " regelmäßig einer kritischen Überprüfung und gegebenenfalls auch Korrektur zu unterziehen.
Dies sollte möglichst ohne eine konkrete Rüge „von oben" durch den EGMR geschehen.
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[1] EGMR, Jalloh/Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Nr. 54810/00, NJW 2006, 3117 = StV 2006, 617 (Brechmitteleinsatz).
Dass die Umsetzung dieser Erkenntnis im praktischen Leben schwierig ist, dafür stehen die Namen „Neziraj", „Jalloh"[1], „Mooren"[2], „Gäfgen "[3] und „M."[4]- Beschwerdeführer in Verfahren, in denen die BR Deutschland durch den EGMR wegen „struktureller" Verfahrensmängel verurteilt worden ist. Es bleibt sehr zu hoffen, dass diese Liste strafrechtlich „Prominenter" in den nächsten Jahren keine allzu große Erweiterung finden wird.
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[1] EGMR, Jalloh/Deutschland (Fn. 50).
[2] EGMR, Mooren/Deutschland, Urt. (Kammer) v. 13.12.2007 (Zugang zur Verfahrensakte; Beschleunigungsgrundsatz bei Haftprüfung); Urt. (GK) v. 9.7.2009, StV 2010, 490 = EuGRZ 2009, 566.
[3] EGMR, Gäfgen/Deutschland, Urt. v. 30.6.2008 (Folter - Beweisverwertungsverbot - Fernwirkung - Art. 6 EMRK); Urt. (GK) v. 1.6.2010, NJW 2010, 3145. Hierzu: Grabenwarter, NJW 2010, 3128.
[4] EGMR, M./Deutschland, Urt. v. 17.12.2009 (Sicherungsverwahrung; § 67d III StGB a.F.), NJW 2010, 2495 = NStZ 2010, 263.
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