6. Auslegungsgrundsätze als „Einfallstor“ menschenrechtlicher Standards
Die Einflussnahme von menschenrechtlichen Verteidigungsstandards auf das nationale Verfahren erfolgt über klassische völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze. Die Konventionen sind und bleiben trotz ihrer Transformation in innerstaatliches Recht völkerrechtliche Verträge.
Sie unterliegen den Grundsätzen der völkerrechtlichen Vertragsauslegung und den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention. Ihre Auslegung hat im Einklang mit den anderen Grundsätzen des Völkerrechts zu geschehen. Die gemeinsame Zielsetzung der Staaten ist und bleibt das Richtmaß für die Auslegung der Einzelbestimmungen.
Das hat nicht zuletzt in der Rechtsprechung des EGMR dazu geführt, dass zentrale strafprozessuale Begriffe der EMRK zweckbezogen und autonom ausgelegt werden müssen, und zwar so, dass sie nicht immer unbedingt dem jeweiligen nationalen System entsprechen, geschweige denn mit diesem harmonieren, aus dem der konkret zu entscheidende Fall stammt, sondern eine Form der Auslegung annehmen, die für alle 47 Mitgliedstaaten des Europarates und der EMRK verbindlich sind.
Treffend formuliert der EGMR: „The object and purpose of the Convention requires that its provisions be interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective".[1]
Das wiederum hat erhebliche Auswirkungen etwa auf den Begriff der strafrechtlichen Anklage in Art. 6 I EMRK. So wird der Begriff des Strafrechtlichen im Kontext der EMRK längst nicht so eng wie im nationalen deutschen Recht verstanden.
[HR=3][/HR]
[1] EGMR, Rantsev/Zypern u. Russland, Urt. v. 7.1.2010, Nr. 25965/04, § 275.
Bereits seit 1984 ist geklärt, dass auch Ordnungswidrigkeiten Verfahrensstrafrecht im Sinne des Art. 6 EMKR darstellen. Auch im Bereich der Sicherungsverwahrung hat der deutsche Gesetzgeber lernen müssen, dass der Begriff des Strafrechts vom EGMR weniger formell, sondern eher materiell, an der Situation des Betroffenen orientiert, interpretiert wird.[1]
Weitere mutmaßlich „strafrechtliche" Baustellen deuten sich für die Zukunft an, etwa im Bereich der Disziplinarverfahren, bei Fragen der Auslieferung, aber auch im Rahmen der Vollstreckung von Strafurteilen. Hier ist das deutsche Recht immer noch sehr formell an über Jahrzehnten „eingeübten" Verhaltens- und Normenmustern orientiert. Auch hier wird es zu Veränderungen durch eine extensive Judikatur des EGMR kommen, ja am Ende kommen müssen.
Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem die Menschenrechte den Strafprozess und damit auch die Situation des Verteidigers sehr nachdrücklich verändert haben, ist der Begriff des Belastungszeugen, den der Beschuldigte im Laufe des Verfahrens wenigstens einmal effektiv konfrontieren können muss (Art. 6 III lit. d EMRK). Dass hierunter auch Sachverständige (jedenfalls wenn sie nicht mehr die gebotene Neutralität aufweisen) und auch Mitbeschuldigte fallen, mussten die deutschen Strafgerichte erst mühsam lernen. Dass das Gebot einer effektiven Verteidigung auch die Vertretung des abwesenden Angeklagten umfassen und deren Zulassung gebieten kann, war ebenfalls ein eher schwieriger Lernprozess für die deutsche Strafjustiz (§ 329 StPO).
Möglichkeit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, § 359 Nr. 6 StPO
Eine wichtige Beratungsperspektive im Hinblick auf ein vor dem EGMR anzustrengendes Verfahren ist die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach § 359 Nr. 6 StPO aus Anlass einer Verurteilung der BR Deutschland durch den EGMR - ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der übrigens erst seit 1998 zur Verfügung steht. Vormals mühte man sich mehr oder weniger krampfhaft, eine Analogie zur Bindungswirkung von Urteilen des BVerfG herzuleiten, was aus heutiger Sicht eher peinlich anmutet.
Die Möglichkeit, mit Hilfe des EGMR eine Wiederaufnahme des bereits abgeschlossenen nationalen Strafverfahrens zu erreichen, ist auf jeden Fall eine interessante mittelfristige Verteidigungsperspektive - wenngleich natürlich die vom Gesetzgeber nicht ohne Grund aufgenommene Klausel, dass die Verurteilung auf dem vom EGMR festgestellten Fehler beruhen muss, dazu führt, dass viele Verstöße, die der EGMR in Straßburg für relevant hält, nicht automatisch dazu führen, dass das Verfahren wiederaufgenommen wird. Während eine solche Restriktion etwa bei einer zu langen Untersuchungshaft (Art. 5 III 1 EMRK) durchaus sinnvoll ist, wird die „Beruhens-Klausel" im Bereich der Beschuldigtenrechte zu zurückhaltend ausgelegt.
[HR=3][/HR]
[1] Vgl. EGMR, M./Deutschland, Urt. v. 17.12.2009, Nr. 19359/04; EGMR, Bergmann/Deutschland, Urt. v. 7.1.2016, Nr. 23279/14; EGMR, Petschulies/Deutschland, Urt. v. 2.6.2016, Nr. 6281/13.
Aktuelle Straßburger Judikatur in der Strafverteidigerpraxis
Verbot der Tatprovokation
Zu den wichtigsten prozessualen Fragen mit EMRK-Bezug, die derzeit die Strafverteidigung beschäftigen, gehört sicherlich die Thematik der Tatprovokation. Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den letzten Jahren bereits mehrfach judiziert, auch in Fällen gegen Deutschland (Furcht[1]/Scholer[2]). Dabei hat der Gerichtshof klargestellt, dass er aus menschenrechtlicher Perspektive unter dem rechtsstaatlich zulässigen verdeckten Einsatz von Polizeibeamten (undercover agents) lediglich die rein passive Untersuchung einer bereits existierenden kriminellen Aktivität versteht (mere passive investigation of existing criminal activity).
Den Einsatz von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern stuft der EGMR damit nicht generell als konventionswidrig ein. Wie er schon in den Urteilen Lüdi[3] und Teixeira[4] hervorgehoben hat, gibt es Kriminalitätsfelder, die den Einsatz verdeckter Ermittlungen (legitimate undercover techniques/infiltration) als notwendig und damit auch als legitim erscheinen lassen.
Dogmatisch überzeugend trennt der Gerichtshof dabei zwischen einer zulässigen verdeckten Ermittlungsarbeit (undercover work) und einer Tatprovokation (incitement/ entrapment), die menschenrechtlich nicht mehr akzeptabel ist. Als wichtiges Kriterium hat sich dabei eben herauskristallisiert, ob das Verhalten einer Person lediglich passiv untersucht („investigate criminal activity in an essentially passive manner")[5] bzw. ob eine bereits bestehende Straftat lediglich „begleitet" wird („merely join an on-going offence")[6] oder ob eine Person aktiv zur Begehung einer Straftat beeinflusst wird („exert influence ... as to incite"[7]; „investigate the offence").
Vertretung des abwesenden Angeklagten als Form effektiver Verteidigung
In der jüngeren Vergangenheit stark beschäftigt hat die deutschen Strafgerichte neben der Tatprovokation auch die Frage, ob der Angeklagte - in der Berufungsinstanz - ein Recht auf Vertretung in der Hauptverhandlung hat. Die Frage kreiste um eine Vorschrift in der deutschen StPO, wonach das Rechtsmittel der Berufung zwingend zu verwerfen war, wenn der Angeklagte unentschuldigt nicht zur Verhandlung über sein Rechtsmittel der Berufung erschienen war (§ 329 I StPO a.F.).
Basierend auf zahlreichen Urteilen des EGMR u. a. gegen Frankreich und die Niederlande
[HR=3][/HR]
[1] EGMR, Furcht/Deutschland, Urt. v. 23.10.2014, Nr. 54648/09, NJW 2015, 3631 = NStZ 2015, 412 = StV 2015, 405.
[2] EGMR, Scholer/Deutschland, Urt. v. 4.3.2010, Nr. 14212/10, EuGRZ 2015, 454.
[3] EGMR, Lüdi/Schweiz, Urt. v. 15.6.1992, Nr. 12433/86 = NJW 1992, 3088 = StV 1992, 499.
[5] EGMR, Furcht/Deutschland, Urt. v. 23.10.2014, Nr. 54648/09, § 48.
[6] EGMR, Bannikova/Russland, Urt. v. 4.11.2010, Nr. 18757/06, § 37.
[7] EGMR, Furcht/Deutschland, Urt. v. 23.10.2014, Nr. 54648/09, § 48.
aus den 1980er und 1990er Jahren hatten auch hier erst ein Urteil des EGMR gegen Deutschland (Neziraj) im Jahr 2012[1] und eine daraufhin erfolgte Änderung der StPO die Wende zur Konventionskonformität der deutschen Rechtspraxis herbeigeführt.
Die frühere Fassung des § 329 I StPO („in den Fällen, in denen dies zulässig ist") hätte zwar durchaus die Möglichkeit einer konventionskonformen Auslegung dahingehend ermöglicht, eine Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger in der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht auch dann zuzulassen, wenn ein Verteidiger mit Vertretungsbereitschaft und entsprechender Legitimation anzeigt, für den nicht anwesenden Angeklagten auftreten zu wollen und entsprechend vom Angeklagten autorisiert zu sein.
Diesem menschenrechtsfreundlichen Ansatz hatten sich allerdings zahlreiche Oberlandesgerichte mit erheblichen rechtlichen Bedenken widersetzt. Einige sahen für eine entsprechende Auslegung schon die Wortlautschranke des § 329 I StPO überschritten.[2] Andere beriefen sich dagegen auf die innere Systematik der deutschen Strafprozessord-
45) nung.
Zugang zur Verfahrensakte zur Vorbereitung der Verteidigung
Die Verfahrensakte spielt im deutschen Strafprozess eine sehr zentrale Rolle. Hier werden sämtliche Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft chronologisch gesammelt und dann im Verbund mit der Anklageschrift dem zuständigen Gericht zugeleitet. Insofern ist es für den Verteidiger und auch für den Beschuldigten selbst eine essentielle Frage, wann sie zur Vorbereitung einer effektiven Verteidigung (Art. 5 IV EMRK / Art. 6 III lit. b und lit. c EMR) Zugang zu dieser Verfahrensakte erhalten und wenn ja, ob dieser Zugang inhaltlich und zeitlich effektiv ausgestaltet ist oder eben nur einzelne relevante Verfahrensaktenteile betrifft und im Gebäude des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft zu bestimmten Zeiten ermöglicht wird.
Das Grundmodell des § 147 StPO sieht vor, dass bis zum Abschluss der Ermittlungen der Zugang zur Verfahrensakte verweigert werden kann. Eine Ausnahme bestand schon seit den 1990er Jahren durch eine Judikatur des BVerfG, die immerhin in Fällen einer vollzogenen Untersuchungshaft einen Teilaktenzugang zur Vorbereitung auf die Haftprüfung proklamierte.[3] [4] Diese Rechtsprechung war aber zunächst nur im Ansatz in die gesetzliche Fassung des § 147 StPO aufgenommen worden - bis zum Jahr 2010.
Nachdem die BR Deutschland im Jahr 2001 in drei Fällen wegen eines rechtswidrigen und damit konventionswidrigen Vorenthaltens des Zugangs zur Verfahrensakte vom EGMR verurteilt
[HR=3][/HR]
[1] EGMR, Neziraj/Deutschland, Urt. v. 8.11.2012, Nr. 30804/07, StraFo 2012, 15 m. Anm. Püschel = NStZ 2013, 350 = StV 2013, 289; zur Thematik: Esser, StV 2013, 331.
[2] OLG München, Beschl. v. 17.1.2013, 4 StRR (A) 18/12 - StraFo 2013, 252 = StV 2013, 301 m. Anm.
Esser, StraFo 2013, 253; OLG Celle, Beschl. v. 19.3.2013 - 32 Ss 29/13, NStZ 2013, 615.
[3] OLG Bremen, Beschl. v. 10.6.2013 - 2 Ss 11/13 m. Anm. Burhoff, StRR 2013, 388; OLG Hamburg, Beschl. v. 3.12.2013 - 1 - 25/13 (REV), 1 - 25/13 (REV) - 1 Ss 68/13.
[4] BVerfG, Beschl. v. 11.7.1994, 2 BvR 777/94 = NStZ 1994, 551.
worden war,[1] sah sich der deutsche Gesetzgeber auch in dieser Frage gezwungen, eine Neu-Regelung in der StPO herbeizuführen.
Erst neun Jahre später, im Zuge einer grundlegenden Reform des deutschen Untersuchungshaftvollzugsrechts im Jahr 2010, kam es zu weitreichenden Änderungen und Klarstellungen in den Regelungen des § 147 StPO. Heute finden wir dort in Absatz 2 eine Formulierung, die dem Verteidiger in Fällen einer vollzogenen Untersuchungshaft, d.h. zur Vorbereitung einer Haftprüfung, einen sehr weitgehenden Anspruch auf Zugang zur Verfahrensakte garantiert. Die jetzt im Gesetz genannten Abwägungskriterien sind freilich immer noch recht vage, aber immerhin menschenrechtlich determiniert.
Unschuldsvermutung, Art. 6 II EMRK
Im Schnittfeld von Strafverfahrensrecht und Sanktionsrecht liegt die von Art. 6 II EMRK geforderte Beachtung der Unschuldsvermutung beim Widerruf einer Strafaus- setzung zur Bewährung aus Anlass einer neuen Tat. Es geht dabei konkret um die Frage, ob ein Gericht eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe bereits dann widerrufen kann, wenn im Hinblick auf eine (neue) Tat - lediglich - hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sind, nicht aber bereits ein (rechtskräftiges) Urteil oder ein (vor einem Richter abgelegtes) Geständnis.
Nachdem der EGMR bereits im Urteil Böhmer im Jahr 2002 klargestellt hatte, dass das „Widerrufsgericht" sich keine in die Zuständigkeit des Instanzgerichts für die „neue" Tat fallende Kompetenz zur Feststellung einer Tatschuld anmaßen dürfe,[2] überrascht es, dass der EGMR im Dezember 2015 die BR Deutschland erneut wegen einer Verletzung der Unschuldsvermutung verurteilen musste (El Kaada).[3] Dies zeigt, dass den deutschen Gerichten ganz offensichtlich mit den gesetzlichen Vorgaben im deutschen Recht (§ 56f StGB einerseits und § 26 JGG andererseits) kein praktikables Werkzeug an die Hand gegeben wird, die internationalen Rahmenbedingungen der EMRK zur Anwendung zu bringen. Der deutsche Gesetzgeber wird auch hier letztlich nicht um eine gesetzliche Neuregelung umhinkommen.
[HR=3][/HR]
[1] EGMR, Garcia Alva/Deutschland, Nr. 23541/94; Lietzow/Deutschland, Nr. 24479/94; Schöps/Deutsch- land, Nr. 25116/94; Urt. v. 13.2.2001, StV 2001, 201 ff. (Akteneinsichtsrecht bei U-Haft) m. Anm. Kempf, NJW 2001, 206 f. u. Kühne/Esser, StV 2002, 383, 390 ff.
[2] EGMR, Böhmer/Deutschland, Urt. v. 3.10.2002, Nr. 37568/97, NJW 2004, 43 = StV 2003, 82 = NStZ 2004, 159 (§ 56f StGB).
[3] EGMR, El Kaada/Deutschland, Urt. v. 12.11.2015, Nr. 2130/10, NJW 2016, 3645 = StV 2016, 703; hierzu: Esser, NStZ 2016, 697.
No Comments