1. Die Methode, eine generationelle Chronologie:
Die Einheit des Juristenstands, die territoriale wie die berufliche, ist al¬so problematisch. Die Geschichte eines solchen Juristenstandes zu schrei¬ben heißt also sich zu fragen, ob die Verallgemeinerung des Verhaltens der Juristen sinnvoll ist oder nicht. Man weiß natürlich, dass nicht alle Ju¬risten auf die gleiche Weise reagieren, zum Beispiel 1848/49 in der Pauls- kirche oder nach 1933 gegenüber dem Nazismus. Die Gewohnheit, von einer gemeinsamen Kultur aller Juristen zu sprechen, erklärt diese Verhal-tensunterschiede nicht. Wie Sebastian Haffner in seiner Geschichte eines Deutschen ) geschrieben hat, hätten die Juristen hinsichtlich des Nazis¬mus, einer Ideologie, die allen ihren Werten widersprach, heftig allergisch sein sollen. Es gab dennoch keine Kulturablehnung des Nazismus. Viel- mehr bilden die zwölf Jahre des nazistischen Regimes eine diachronische Einheit und niemand wird die Notwendigkeit bestreiten, die Haltungen der Juristen während der Gesamtheit dieser Periode zu studieren. Die Proble¬matik hängt von dem prägnanten
Charakter des politischen Angestellten, des neuen „Rechtswahrers", und nicht von der Einheit eines Juristenstan¬des ab.
Die Geschichte eines Juristenstands ist auch eine politische Geschichte der von den Juristen oft praktizierten Mobilisierung im politischen Bereich. Das Studium des Juristenverhaltens kann sich natürlich den politischen Zusammenhängen nicht entziehen. Daher muss man die Perioden der po-litischen Geschichte in Deutschland berücksichtigen. Politisch klar ausge-schnittene Zyklen wie das nazistische Regime, die Republik von Weimar oder die Revolution von 1848 setzen sich von selbst durch. Jedoch habe ich es vorgezogen, die Chronologie nach der Aufeinanderfolge der Generatio¬nen zu ordnen. Dieses Ordnen ist selbstverständlich gewissermaßen will¬kürlich, da jeder Mensch in mehreren Generationen, die sich überlappen, gelebt hat. Deshalb habe ich die chronologischen Grenzen dieser „genera¬tionellen Momente" gemäß der politischen Geschichte von Deutschland ge¬wählt. So entspricht die erste Generation, geboren ca. 1760-1780, der Peri¬ode der revolutionären und napoleonischen Kriege. Die zweite Generation lebte vor allem im Vormärz, dann folgt die Periode des Nachmärz nach der Revolution von 1848/49. Um 1860 liefern die Gründung des Deutschen Ju¬ristentags und die sog. Neue Ära in Preußen Ereignispunkte, die auch Sinn für den Juristenstand ergeben. Die dritte Generation fällt in die Zeit des Auftretens von Bismarck als preußischem Minister-Präsident und Reichs¬kanzler. Die Periode nach Bismarck von 1890 bis 1918 gehört der vierten Generation, die durch den Ausdruck „Fin de Siecle" bezeichnet wird. Man mag den Rekurs auf eine Kulturbewegung verwerfen, die mit einem Nieder¬gangsbegriff konnotiert ist. Aber die paradoxe Mischung von Gefühlen der Unsicherheit und von positivistischen Gewißheiten, die diese Periode cha¬rakterisiert, betrifft auch die Juristen. Die Inkraftsetzung des BGB seit 1888 ist begleitet von heftigem Streit von Seiten besonders der Rechtsanwälte und Hochschullehrer. Unser retrospektiver Blick auf die Katastrophe des ersten Weltkrieges gibt selbstverständlich dieser Periode eine pessimistische oder konfliktreiche Farbe. Aber es gibt auch objektive Elemente, um eine Situ-ation zu analysieren, in der die Interessen unterschiedlicher Gruppen von Juristen so stark differierten.
Ich schlage daher vor, ein anderes Kriterium für die Analyse der für jede Generation reinen Konfiguration zu verwenden. Ich lasse mich von Arbeiten
ZRG GA 134 (2017) von Magali Larson ) zur Rolle eines gemeinsamen Projektes
inspirieren, um einen Beruf zu vereinigen und ihm einen anziehenden sozialen Status zu geben. Die Anwesenheit eines solchen Projektes findet sich in mehreren Momenten der Geschichte der Juristen im Deutschland des 19. und 20. Jahr¬hunderts. Die Reformer der Universität, die durch die Schaffung der Berli¬ner Universität und durch das Programm von Savigny geprägt sind, hatten ein solches Projekt für die Rechtprofessoren in den Jahren 1810 bis ca. 1840 gehabt. Die Anhänger der freien Advokatur haben teilweise diese berufli¬che Unabhängigkeit 1878 gefordert und erhalten. Alle diejenigen, die die Vereinheitlichung des deutschen Rechts, besonders die Redaktion des BGB gestützt haben, haben wiederum ein gemeinsames Projekt geteilt. In eini¬gen Konfigurationen hat solch ein gemeinsames Projekt eine sehr große An¬zahl von Juristen vereinigen und eine große Homogenität in den Haltungen und den Mentalitäten schaffen können. So hat der Deutsche Juristentag nach 1860 Tausende Juristen für die Vereinheitlichung des deutschen Rechts mo¬bilisiert.
Meine Forschung hat versucht, als objektive Kriterien die Situationen zu identifizieren, in denen eine Mobilisierung des Juristenstands (oder eines Teiles) durch ein gemeinsames Projekt existierte, und ebenso diejenigen Si-tuationen, in denen die beruflichen Interessen in Abwesenheit eines solchen Projektes mehr heterogen waren. Die Idee besteht darin, die Momente zu unterscheiden, in denen der Begriff von einem Juristenstand wirksam gewe-sen ist, um eine generationelle Bewegung und die Momente zu ermitteln, in denen der Begriff nur eine Heterogenität der Haltungen der Juristen verdeckt hat. Gemäß diesem Ziel habe ich für jede Generation ein prosopographisches Lexikon von deutschen Juristen gebildet.
Die Bildung jeder Gruppe ist, ich anerkenne das gern, anfechtbar, weil sie von subjektiven Eindrücken abhängt, die ich der verfügbaren Dokumenta-tion entsprechend zusammentragen konnte. Für die erste Generation habe ich eine Gruppe von ca. 20 Juristen gewählt, die an den Verhandlungen über Kodifikation während der napoleonischen Periode teilgenommen haben. Die Idee ist, dass diese ganz kleine Minderheit als Wortführer eine Gemeinschaft von Juristen verbunden hat, die sich für Mitglieder eines deutschen Juristen-stands hielten. Trotz der Eingeschränktheit dieses Samples haben wir keine anderen Mittel, die Meinungen der Juristen dieser Epoche zu dieser alle deut-schen Fachleute des Rechts interessierenden Frage zu erkennen.
Für die Folgeperiode haben wir eine Liste von 105 Rechtprofessoren in ihrer Tätigkeit von 1810 bis 1848 benutzt, um zu versuchen, den juristischen Effekt der Humboldtschen Reform zu messen. Diese Liste ist nach den Un-tersuchungen von Ernst Landsberg und aus den Angaben der Allgemeine
Deutsche Biographie ausgearbeitet ). Sie lässt zahlreiche Lücken zu den Rechtprofessoren, die keine Spuren mit ihren Schriften oder ihren Handlun-gen zurückgelassen haben. Man muss also mit den soziologischen Schluss-folgerungen dazu vorsichtig sein (zum Beispiel zum sozialen Ursprung der Professoren). Aber in entgegengesetzter Richtung muss man eine Konfigu-ration berücksichtigen, in der die deutschen Rechtprofessoren, im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen dieser Periode, viel veröffentlicht haben. Die durch ihre Veröffentlichungen anerkannten Rechtprofessoren, die einen Platz für den Juristenstand in der Universität fordern, sind also eine mehrheitliche und repräsentative Gruppe.
Dieselbe Argumentation hat mich dazu geführt, das biographische Hand-buch von Heinrich Best und Wilhelm Weege ) zu benutzen, um eine Liste von 208 Juristen zu erstellen, die der Frankfurter Nationalversammlung an-gehört haben. Eine solche Auswahl überschätzt zwar den Anteil der libera¬len Juristen am gesamten Juristenstand, aber sie gibt auch ein Bild der in der Politik engagierten Juristen einschließlich derer, die konservative Ideen schützten.
Für die Reaktionsperiode der Jahre 1850-1860 habe ich dieselbe Gruppe von Juristen verfolgt, und ich habe einige Zahlen in der Liste der ersten Mit-glieder des Deutschen Juristentags ausgeführt.
Für die Generation Bismarck habe ich die Listen der Juristen benutzt, die Mitglieder des ersten Reichstags des Norddeutschen Bundes (1869) oder 1879 Mitglieder des Reichsgerichts und seines Anwaltsstandes waren, sowie von 100 Rechtsprofessoren, die zwischen 1885 und 1895 lehrten.
Für die Generation „Fin de Siecle" sind mehrere Listen kombiniert wor¬den: die tätigen Juristen in der Redaktion des BGB, die in der Debatte um das sog. Freirecht Engagierten und die Juristen, die nationalistische Bittschriften während des Ersten Weltkrieges signiert haben.
Für die drei Generationen des 20. Jahrhunderts habe ich auf Grund der großen Anzahl von Fachleuten darauf verzichtet, genaue Listen von Juristen zu bilden. In Analogie zu den vorigen Perioden habe ich die Liste von 69 Mitgliedern der Nationalversammlung von 1919, die Juristen waren, berück-sichtigt sowie die bekanntesten Rechtprofessoren in der Zwischenkriegszeit und die nazistisch belasteten Juristen der NS-Zeit. Für die Republik von Bonn und für die Periode, die 1990 der Wiedervereinigung folgt, hat mich das
Kriterium der „Notabilität", die politisch, sozial oder intellektuell sein kann, bei der Auswahl der studierten Juristen geleitet. Um einige soziolo¬gische Studien über die Richter zu versuchen, braucht man systematische Arbeiten zu den Rechtsanwälten und Rechtsprofessoren, um über eine bloß subjektive Auswahl hinaus zu kommen.
Mein Ziel hat überall darin bestanden, mich nicht auf die „großen Juristen" zu beschränken, sondern auch diejenigen zu berücksichtigen, die das Wort im juristischen Feld ergriffen haben. Das juristische Feld wird von denjeni¬gen gebildet, die auf die juristischen Verhältnisse durch ihre Reden und/oder Handlungen einwirken wollen. Das Studium dieser generationellen Gruppen von Wortführern erlaubt, die Unterschiede zwischen den Handlungen und den Vorstellungen zu messen. In welchem Maß ist die Handlung der Juris¬ten von ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse oder zu einem Beruf unabhängig gewesen - wie Engels in einem späten Text von 1886 über den Philosophen Feuerbach vorgefühlt hat )? Hat sich unter der vom Juristen¬stand beanspruchten Einheit die Herrschaft gewisser beruflicher Gruppen versteckt? Ich denke, dass sich die Antworten auf diese Fragen von einer Generation zur nächsten ändern, den politischen und ideologischen Zusam¬menhängen entsprechend.
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