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1. Die Ergebnisse:

Über die Ergebnisse dieser Forschung zu sprechen kann nur bedeuten, die Annahmen zu klären und die Perspektiven - durch diese soziologische und generationelle Betrachtungsweise befreit - zu umreißen, die für eine bessere Auffassung der Rechtsgeschichte nützlich sein können. Ich mache in diesem Sinne einige Vorschläge für jede der studierten Generationen.
Für die erste Phase (Generation Napoleon 1800-1830) erhellt meine Be-trachtungsweise die Bildung eines deutschen juristischen Felds ab den durch die französische Invasion ausgelösten Verhandlungen. Die Intervention von Napoleon in das juristische Leben in Deutschland bildete einen echten Bruch mit dem Ende des Heiligen römischen Reichs und des Reichskammergerichts (1806). Gab es vor 1806 ein deutsches juristisches Feld und einen Juristen-stand für ganz Deutschland? Selbst wenn man positiv auf diese Frage ant- wortet, waren diese Einheitsformen 1806 verschwunden. Es gab keine poli-tische, für alle deutschen Staaten verbindende, Struktur mehr, keine „deut-sche" Gerichtsbarkeit, keine „deutschen" Juristen, die in einer Institution für ganz Deutschland aktiviert waren - nicht einmal in den Universitäten.
Die Debatten zur französischen Kodifizierungswelle (ab 1807-1809) ha-ben dazu beigetragen, ein neues juristisches Feld zusammenzusetzen. Ei-nerseits schreiben mehrere Juristen über dieses Thema (und tauschen ihre Ideen aus) durch ein Netz rechtlicher und literarischer Zeitschriften ohne Äquivalent außerhalb Deutschlands. Andererseits hatten die Juristen meh-rerer Staaten die Gelegenheit, sich zu versammeln: etwa für die Konferenz von Gießen 1809-1810 ) oder für die Gründung der Universität von Berlin 1810-1811 ). Diese Konjunktur verursachte ein Netz von dreißig Juristen: von dem älteren Brauer bis zu dem jüngeren Brinkmann ). Diese Juristen waren rheinische, preußische, sächsische, aber nicht österreichische. Sie schrieben ihre Briefe deutsch, sogar wenn sie nicht dieselben Ideen teilten wie Savigny und Lassaulx. Mit der Ausübung der peregrinatio academica, die zum Beispiel Savigny nach Bayern geführt hat, spielten die Universi¬täten eine in der Bildung dieses Netzes bedeutende Rolle. Aber nicht alle Rechtprofessoren sind in diese Bewegung verwickelt gewesen, an der sich andererseits auch einige Richter und Rechtsanwälte beteiligten. Die Juris¬ten, die ihr Wort zu dieser Frage der Kodifikation in einer alle Deutschen erfassenden Perspektive ergriffen, schufen einen intellektuellen Raum für ein deutsches juristisches Feld.
Der Streit 1814/1816 zwischen Thibaut und Savigny kennzeichnet einer-seits den das Scheitern der Umwandlung dieses intellektuellen Feldes in ein realisierbares politisches Projekt. Der Misserfolg ist für Thibaut, der aus einem deutschen bürgerlichen Gesetzbuch eine Ausprägung der gesamten Zivilgesellschaft machen wollte, besonders deutlich. Der Standpunkt von Savigny, der auf die Benutzung des Ausdruckes Juristenstand gegründet ist, schützte die Bildung einer Rechtswissenschaft, das heißt eine Wissenschaft von Juristen für Juristen, die gleichzeitig verbindend und isolierend bezüg¬lich der Bevölkerung der „Nicht-Juristen" war. Genau das war auch das Thema des Gegensatzes zwischen Hegel und Savigny zum Monopol des Ju-ristenstands.
Savigny kann betrachtet werden als der Jurist, der die Figur des „Juris¬ten" erfunden hat. Selbstverständlich hat die Universität von Berlin nicht die erste juristische Fakultät geschaffen. Aber die Humboldtsche Reform hat ein
Erziehungsmodell für die Juristen festgelegt und bis dahin nicht zusam-menpassende Elemente verbunden: die Freiheit der Lehre, die Schwäche des Diploms, das intellektuelle Vorherrschen des Römischen Rechts (und nicht des Allgemeinen Landrechts), die Disziplinardefinition der wichtigsten Lehr-stühle (römisches Recht, Strafrecht, Staatsrecht, die vorher nicht gut identi-fiziert waren), die Verbindung des Jurastudiums mit der Beamten-Prüfung in Preußen (das meint auch das Juristenprivileg und den Verfall der kame-ralistischen Wissenschaften) ). Savigny hat Erfolge, aber auch Misserfolge erlebt, um seine Schüler in den deutschen Universitäten zu installieren. In Bayern, in Württemberg oder in Sachsen wurden die preußischen Reformen nicht angenommen. Die kleinen Universitäten Mitteldeutschlands haben ihre spezifischen Besonderheiten beibehalten. Bis zum Jahre 1870 ist das Modell des Einheitsjuristen kleiner als „kleindeutsch" geblieben. In dieser Hinsicht gab es noch keinen deutschen Juristenstand.
Der Ausdruck Juristenstand ist dennoch in dieser Epoche im Wortbestand der Juristen üblich geworden, seien sie liberal oder konservativ gewesen. Die Rechtprofessoren haben weiter die peregrinatio academica ausgeübt, was das Netz unter den Mitspielern in der deutschen Rechtswissenschaft gefestigt hat. Das Verfahren der Aktenversendung hat, zugunsten der Universitäten, einen Verkehr der gerichtlichen Streitsachen innerhalb Deutschlands ermöglicht. Die Anzahl der Studenten der juristischen Fakultät hat sich bis zu einem Gipfel von 4 500 Studenten in 1830 erhöht ), und viele waren angezogen von den preußischen Universitäten in der Hoffnung, das Staatsexamen abzulegen. Die akademische Basis des deutschen juristischen Felds hat sich so gefestigt, während die Berufe von Richtern und von Rechtsanwälten vergleichsweise isoliert und schwach in den Grenzen der besonderen Staaten blieben.
Die zweite Generation, diejenige von 1848, verursacht zwei durch die Pe-riode der Revolution getrennte Problematiken. Für die Periode des Vormärz handelt es sich darum zu wissen, welche soziologische Realität das politische Engagement von 203 Juristen, die Mitglieder der Frankfurter Nationalver-sammlung waren, dargestellt hat. Sicher waren nicht alle diese Abgeordne¬ten Liberale oder Anhänger eines schnell zu vereinigenden Deutschlands. Aber diese Juristen bekundeten, mit Blick auf ihre Wähler, den Willen, in einer
nationalen Versammlung zu sitzen und an einem deutschen politischen Feld teilzunehmen. Es ist nicht gleichgültig, dass diese Juristen, größtenteils Richter (108), Rechtsanwälte (73) und, im Gegensatz zur Sage, eine klei¬ne Gruppe von Rechtsprofessoren (18), zahlreich waren ). In einigen Fäl¬len hat ihre Bindung an Burschenschaften und Studentenbewegungen die Schaffung einer Kultur der freieren Diskussion erleichtert. Eine wirksame Minderheit hatte sogar einige Protestpraxis vom Hambacher Fest (1832) bis zur Episode der Göttinger Sieben (1837), dann der Begegnung von Hep¬penheim (1847). Das Zentrum dieser Praxis findet sich in Gremien, in Zeit¬Schriften von süddeutschen Juristen (wie der ,Deutschen Zeitung') und in kollektiven Veröffentlichungsprojekten (wie dem Staatslexikon von Rotteck und Welcker). Hat diese Solidarität unter den liberalen Juristen eine politi¬sche Übereinstimmung innerhalb des Juristenstands geschaffen? Ich glaube nicht. Der Misserfolg der Frankfurter Nationalversammlung lag auch an der Unfähigkeit dieser kleinen politischen Elite, Verbindungen mit einer brei¬teren Basis von Juristen zu schaffen. Das liberale und nationale Projekt hat den Juristenstand nicht vereinigt. Dagegen wurden sich die Richter und die Protestrechtsanwälte des Bedürfnisses beruflicher Strukturen bewusst, die eben schmerzlich fehlten.
Die Gründung der juristischen Gesellschaft zu Berlin ) und der berühmte Vortrag von Hermann von Kirchmann Ende 1847 ) sind Vorzeichen einer zukünftigen assoziativen Bewegung. Aber die Reaktion setzte diesem Ver-einigungstyp ein Ende und verpflichtete die Juristen, sich politisch vorsich¬tig zu zeigen. Die Begriffe von Quietismus und von Isolierung, die in der Geschichte der Rechtswissenschaft für die Jahre nach 1850 benutzt werden, spiegeln diese Vereinzelung der Juristen wider. Nicht wenige verloren ih¬re Professur. Professoren wie Jhering, Gerber, Beseler oder Windscheid ) suchten ein Asyl in kleinen Universitäten und vermieden während dieser Zeit
politische Engagements. Dieser Rückzug entsprach einem deutlichen Rückgang der Studentenzahlen in den juristischen Fakultäten: von 4.300 in 1850 bis 2.500 in 1860.
Dennoch ging dieser scheinbare Rückzug der Professoren aus dem Pro-fessionsfeld mit den großen Schritten in die Richtung der Vereinheitlichung einher: durch die Schaffung neuer Zeitschriften, die Arbeiten zur Einheit des Handelsrechtes bis 1861 und des Strafrechtes (1869 und 1871), durch die Ausarbeitung einer Doktrin des Staatsrechts (Gerber 1865, Laband 1876ff. ).
Die Verbindungskonstruktion unter Rechtsfachleuten war nun vor allem das Werk der Rechtsanwälte und Richter. Die Gründungen in den Jahren 1850 bis 1860 von Anwaltskammern (von Hannover bis Baden), dann von den freien Vereinen unter Rechtsanwälten (in Hannover, Baden, Bayern ) und Preußen), statteten den Beruf mit repräsentativen Institutionen aus.
Paradoxerweise hat die Befestigung des Status der Rechtsanwälte und der Richter innerhalb der Ländergrenzen die Kontakte unter den Juristen nicht gehindert. Die Juristische Gesellschaft verbindet in Berlin, ab 1859, einige Richter, Rechtsanwälte und Rechtprofessoren wie Holtzendorff, Heydemann oder Gneist. Im Deutschen Nationalverein, der mehrere Tausende Anhänger der deutschen Vereinigung ab 1859 gewinnt, befinden sich ebenfalls libera¬le Juristen, auch unter den Gründern (z. B. August Ludwig Reyscher). Die Bildung des Deutschen Juristentags ) ist eine Initiative eher liberaler Recht-professoren, die ihre zahlreichsten Unterstützer unter den Richtern und den Rechtsanwälten fanden. Die Mehrheit unter den 710 ersten Mitgliedern war preußisch, aber mit einer Gruppe aus den anderen deutschen Staaten und einem Platz für die österreichischen Juristen. Es wäre übertrieben, darin ein Abbild des kleinen Deutschlands zu sehen, aber dieser nationale Verein illustrierte die Neustrukturierung des Juristenstands in ganz Deutschland.
Die Generation Bismarck (1862-1890) erinnert daran, schon mit ihrem Na¬men, dass die Politik des Kanzlers von oben die entscheidenden Fortschritte für die Vereinheitlichung des Juristenstands brachte. Die preußischen Juris¬ten, auch diejenigen, die erst nach 1866 preußisch geworden sind, haben auch in diesem nationalen Bau eine bedeutende Rolle gespielt. Zahlreiche Juristen, so die Mitglieder des Kreisrichterparlaments von 1862, haben sich Bismarck und seinem Budget-Gewaltstreich zuerst entgegengestellt. Aber die Wieder¬vereinigung unter der Bismarck-Politik war nach dem Sieg von Sadowa/Kö-
niggrätz 1866 spektakulär. Man kann ihn mit der massiven Unterstützung der französischen Juristen für Bonaparte nach 1800 vergleichen. Bismarck zögerte nicht, sich mit den nationalliberalen Abgeordneten des Reichstags des Norddeutschen Bundes zu verbinden und sich der Juristen des annek¬tierten Hannover - wie Adolf W. Leonhardt - zu bedienen. Diese stille Al¬lianz der preußischen Macht und der Elite reformerischer Juristen erreichte beachtliche Ergebnisse in der Vereinheitlichung des deutschen juristischen Feldes: das Strafgesetzbuch von 1869 ), die Schaffung des Bundes-Oberhan-delsgerichts, die Gewerbeordnung und, nach dem Sieg gegen Frankreich, die Laskersche Verfassungsänderung für die Kodifikation des Zivilrechts, das Gesetz über Verfassung und Einrichtung der Gerichte, die Rechtsanwaltsord-nung und die Zivilprozessordnung.
Die Vorbereitung des bürgerlichen Gesetzbuches war offenbar ein moti-vierendes Projekt für die Gesamtheit der Juristen. Diese Vereinheitlichung des deutschen Zivilrechtes war schon vom Deutschen Juristentag ge¬wünscht worden, und sie wurde, mit wenigen Ausnahmen, von den Fach¬leuten gestützt. Trotz seiner langen Dauer (mehr als 20 Jahre) und seiner Schwierigkeiten (als die Kritiken zum Projekt von 1888 kamen) hatte der Redaktionsprozess zu einer breiten Debatte geführt und Mitglieder der Zi-vilgesellschaft vereinigt ). Die Schaffung von Zeitschriften wie die Deut¬sche Juristen-Zeitung (1896) oder Das Recht, Rundschau für den Juristen¬stand (1897) war das äußere Symbol dieser neuen Einheit der Juristen. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts sieht auch ein neues Wachstum der Studentenzahlen in den juristischen Fakultäten (mehr als 6.000 in 1889, mehr als 7.000 in 1895, mehr als 10.000 in 1901). Mit dem von den deut-schen Rechtprofessoren errungenen hohen Prestige ist das womöglich der Triumph des Juristenstands und seines Rechts, von dem Savigny geträumt hatte?
Dennoch hatte die Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches zugleich die aufsteigende Macht der Richter, den abnehmenden Einfluss der Profes-soren und die Unbeliebtheit der Juristen in einem Teil der Gesellschaft ge¬zeigt. „Keine Wissenschaft ist so wenig populär wie die unsere", schreibt E.I. Bekker 1885 ). In den Jahren nach 1880 hat sich die soziale und wirt-schaftliche Politik von Bismarck von den Wünschen der liberalen und natio-nalen Juristen
entfernt. Der Aufstieg des Gewerkschaftswesens entgeht der Kontrolle der Juristen. Während nur einige Juristen innerhalb des Vereins für Sozialpolitik (1874) und der Freisinnigen Vereinigung tätig sind, entwickeln sich die linken politischen Bewegungen weit außerhalb des Juristenstandes, der die avantgardistische Rolle aus dem Vormärz verloren hat. Die Sympto¬me dieser „Fin de siecle"-Krise sind zahlreich: so die Konfrontationen unter Rechtsanwälten bezüglich der gleichzeitigen Zulassung ), die Angriffe ge¬gen die in der Repression der Sozialisten und in den Sittenskandalen (z. B. der Eulenburg-Affäre) tätigen Richter, die professoralen Debatten zur Freirechts-bewegung. Die juristischen Berufe sind mehr getrennt, sie sind in eigenen Vereinen (dem DAV, dem Deutschen Richterbund seit 1909) organisiert und im Inneren gespalten. In dieser Hinsicht ist das sozialpolitische Studium der Freirechtsbewegung erhellend. Auf den ersten Blick kann man an einen Streit einer jungen Generation denken, darunter viele jüdische und sozial-demokratische Juristen. War der Aufruf von Gnaeus Flavius, d. h. H.U. Kan-torowicz, von 1906 ) ein Zeichen eines Aufstandes der plebejischen Juristen gegen die Rechtshonoratioren? Gegenüber dieser einer Minderheit angehö-renden und heterogenen Bewegung ) muss man auf eine simplifizierende Erklärung aus einem sozialen Determinismus verzichten. Dagegen kann man in diesen Brüchen innerhalb der juristischen Berufe eine komplexe Konfi-guration erkennen, die von der Idee der Einheit des Juristenstandes vor dem Ersten Weltkrieg ein gutes Stück entfernt war.
Der Weltkonflikt verursachte, in Deutschland wie in Frankreich, eine Mo-bilisierung der Juristen für die Verteidigung des Vaterlandes. Zu Kriegs¬beginn hat sich der vorhandene Nationalismus durch die Proteste der Ver¬bündeten gegen die Plünderung Leuvens verschärft. Die Erklärung von Hochschullehrern des Deutschen Reiches vom 16. Oktober 1914 wurde von 200 Rechtprofessoren unterschrieben, unter ihnen Radbruch, Kantorowicz, R. Thoma oder Koschaker. Aber je mehr man in den Krieg vorrückte, desto mehr differierten die Haltungen der Juristen: vom Ultranationalismus der Vaterlandspartei bis zum Pazifismus gewisser linker Juristen.
Wenn ich für die Periode der Zwischenkriegszeit von einer ^verlorenen Generation' gesprochen habe, geschah das nicht, um zu sagen, die Juristen seien einfach weitergezogen durch die Konvulsionen der Republik von Wei-mar bis zum Nazismus, ohne zu reagieren ). Im Gegenteil unterstütze ich die Idee, dass Gruppen von Juristen immer mehr gemeinsame Haltungen in den politischen Fragen gehabt haben. Das juristische Feld wurde in der Tat während dieser Periode merklich politisiert. Zunächst war eine nicht un-erhebliche Anzahl von Juristen in die Nationalversammlung von 1919 mit 69 Abgeordneten gewählt worden. Während der ganzen Republikzeit waren zahlreiche Minister (Cuno, Marx, Schiffer, Radbruch) und Parlamentarier (von der extremen Linken bis zur extremen Rechten) Juristen. Der Richter-bund, der Verein der Mitglieder des Reichsgerichts ) und der Republikani-sche Richterbund waren Vereine mit politischem Charakter innerhalb der Justiz ). Die Verhandlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrecht-lehrer oder des Deutschen Anwaltvereins nahmen in den 1920er Jahren oft einen politischen Weg. Am Anfang der 1930er Jahre hatte die Mehrheit der Juristen wahrscheinlich eine politische Mitgliedschaft. Die Koalition von Weimar sammelte zwar keine breite Unterstützung mehr, aber bis 1933 stellten die nazistischen Juristen eine ganz kleine Minderheit dar. Die Ju¬risten waren auch nicht darauf vorbereitet, Hitler zu unterstützen: Sie waren in ihrer Wahl ab Januar 1933 frei. Und ihre erste Wahl bestand darin, oh¬ne Proteste die ,Reinigung' von fast 20 % des Berufes anzunehmen (5.000 Fachleute aus einer Gesamtzahl von weniger als 30.000) ). Der Antisemi¬tismus, durch die gewichtige Anwesenheit von Juden unter den Studenten der juristischen Fakultäten, den Rechtsanwälten und den Professoren auf¬gefrischt, ließ den Juristenstand zersplittern. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Stand bedeutete wenig angesichts der antisemitischen Feindseligkeit, die mit Karrierismus vermischt war, wie er sich bei den arischen Juristen durchsetzte. Sicher waren die Juristen mehr oder weniger gezwungen, dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bzw. dann dem Rechts- wahrerbund beizutreten, aber sie hatten die Wahl, an der Akademie für Deutsches Recht teilzunehmen, mitzumachen oder nicht, in die NS-Partei einzutreten oder nicht, und vor allem
waren sie frei, die nazistischen Dok¬trinen durch eigene Texte zu stützen oder nicht ). Das Meinungsspektrum der deutschen Juristen ist ausgedehnt während der nationalsozialistischen Periode, aber dieses Spektrum ist nicht sehr breit, wenn man die Unterstüt¬zung der großen Mehrheit der Juristen für das Hitler-Regime betrachtet. Wie es schon während des ersten Weltkrieges 1914-1918 geschehen war, er¬schütterte der Krieg diese äußere Einheit. Als kleine Gruppen von Juristen an der SS, an den Sondergerichten und am Holocaust teilnahmen ), taten die Meisten an der Front oder dahinter nur ihre Pflicht. Eine solche Konfi¬guration, die man sich außerhalb Deutschlands nicht hat vorstellen können, zeigt, wie weit sich gemeinsame Haltungen an doch sehr unterschiedlichen Ideologien orientieren können, indem alle an die Idee eines Juristenstandes appellieren.
Zur Beantwortung der Frage nach einem Juristenstand ab 1945 ist es nicht gleichgültig, sich erneut an die Benutzung des Wortbestandes zu halten. 1946 kam Gustav Radbruch zu folgendem bekannten Urteil über die Haltung des Juristenstands im NS- Regime: „Der Positivismus hat in Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz' den deutschen Juristen- stand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts" ). Wörtlich genommen, hat dieser Satz etwas Absurdes. Hätten die jüdischen und sozialdemokratischen Juristen ohne Positivismus mehr Mittel gehabt, sich zu schützen? Radbruch lässt uns lieber glauben, die Ju¬risten seien gleichgültige Opfer einer Verbindung von Faktoren gewesen, unter denen der Positivismus eine besondere Verantwortung gehabt habe. 1947 schrieb der Herausgeber der Deutschen Rechts-Zeitschrift und badi¬sche Generalstaatsanwalt Karl Siegfried Bader über den Prozess gegen na-tionalsozialistische Ärzte: „Im Bestreben,
,Menschenverachtung' überall, wo sie sich zeigt, von Grund auf auszuschließen, müssen Ärzteschaft und Juristenstand Zusammenarbeiten" ). Beide Juristen - Radbruch wie Bader - waren Gegner des Nazismus. Bei der Verwendung des Ausdrucks „Juris¬tenstand" denken sie offenbar an gemeinsame Haltungen der Gesamtheit der Juristen. Radbruch erinnert lieber an die Konstruktion eines Juristenstands so, wie er früher existierte. Bader denkt eher an eine neue Gründung für den Juristenstand ). In Westdeutschland, das 1949 die Republik von Bonn werden wird, sind die beiden Phänomene in der Nachkriegsgeneration ver-bunden. Nach einer Übergangsperiode unter der Kontrolle der Besatzungs-behörden wurden die Juristenberufe fast ebenso wie vor 1933 etabliert: Die juristischen Fakultäten und die Rechtsprofessoren bewahrten denselben Status; die Rechtsanwälte waren kaum innovativer mit der Bundesrechts-anwaltsordnung 1949. Die Richter erhielten das Deutsche Richtergesetz von 1961, das auch traditionell gestaltet war. Die große Justizreform kam nicht zustande. Kontinuität besteht auch bezüglich der Ausbildung (mit dem Wei-terbestehen des Referendariats), der Abgrenzung der Berufe und sogar ihrer Bestände: 18.000 Studenten, um 10.000 Richter, etwas weniger als 20.000 Rechtsanwälte. Für das viel kleinere Territorium entsprechen die Zahlen an-fangs der 1960er Jahre denjenigen der frühen 1930er Jahre. Dieselbe Kon-tinuität zeigt sich unter den Fachleuten. Wegen des relativen Misserfolgs der Entnazifizierung hat eine große Mehrheit der noch unter Hitler tätigen Richter und Rechtsanwälte ihre Funktionen nach 1945 in Westdeutschland fortsetzen können.
Es gibt, dennoch, Umstände, die tiefgreifende Änderungen bewirkt haben. Die Trennung zwischen der BDR und DDR hat das Zugehörigkeitsgefühl im westdeutschen Juristenstand verstärkt, während im Osten ein Prozess der Entprofessionalisierung durchgesetzt wurde ). In dem Juristenstand der 1950er Jahre gab es sicherlich viele, die die NS-Zeit vergessen und vor al¬lem wieder arbeiten wollten. Aber es gab auch kleine Gruppen engagierter Reform-Juristen, z. B. die Minister der neuen Länder, die an der Redaktion des Grundgesetzes mitwirkten, und die ersten Mitglieder des neuen Bun-desverfassungsgerichts. Eine klare Westbindung, gute Kontakte mit den
amerikanischen und zurückgekehrten Juristen und das Engagement für die Grundrechte im Grundgesetz charakterisieren diese Gruppen. Sie haben mit dem traditionellen Konservatismus der Juristen gebrochen. Eine neue Ge-neration, die keine Funktionen unter dem Nazismus ausgeübt hatte, wurde erzogen und war von diesen reformerischen Gruppen beeindruckt. Diese Juristen akzeptierten leichter, dass die Prozesse und die Erforschung gegen die kriminellen Nazis begannen. Aber die soziologisch und politisch größte Zahl der Juristen blieb konservativ. Sie missbilligten die Protestbewegungen von 1968 und stützten nicht alle ab 1969 die Regierung von Willy Brandt. In sieben Ländern betrieben die wenig beliebten Reformprofessoren die sog. einstufige Reformausbildung (1971-1984)60). Die Rechtsanwälte, die in den Wahlen zu 50 % für die CDU und zu 25 % für die FDP stimmten, waren über-raschenderweise bei der Konstitution einer Gruppe linker Verteidiger (die Mitglieder des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins) ver- treten ). Einige Richter nahmen sogar an Antiatom-Veranstaltungen teil und bildeten die Neue Richtervereinigung. Für die nach 1945 unter der Republik von Bonn zur Welt gekommene Generation hat sich der Juristenstand nicht in antagonistische Gruppen geteilt. Er hat sich im Maß des Wachstums seiner Bestände lieber differenziert: 85.000 Studenten, 54.000 Rechtsanwälte, mehr als 10.000 Richter. Diese Zahlen für das Ende der 1980er Jahre bedeuten eine erheblich größere Vielfalt der beruflichen Haltungen und des sozialpoliti¬schen Verhaltens. Deshalb habe ich als die Wende-Generation diejenige be¬zeichnet, die die Veränderungen seit Ende der 1980er Jahre bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts erlebt hat.
Die Wiedervereinigung hat eine sehr selektive Integration der wenigen Juristen der ehemaligen DDR (um 3 000) verursacht. Sehr klar war das west- deutsche Modell eines an die Grundrechte und die soziale Marktwirtschaft gebundenen Juristenstands den ehemaligen Juristen der DDR vorgegeben. Aber dieses Modell selbst hat tiefe Umwandlungen unmittelbar nach der Wiedervereinigung erlebt: die Neuordnung von 1994 über die Rechtsanwäl- te ), die Abschaffung der Lokalisierung der Anwälte 2007 und die Reform der Rechtsstudien 2002 mit der säkularen Einführung eines Universitäts¬teils von ca. 30 % Relevanz im ersten Examen. In mehreren Punkten handelt es sich um einen Bruch mit den traditionellen, vom preußischen Staatsprü-fungsmodell des 19. Jahrhunderts ererbten Regeln. Wenn sich in der Zukunft die Anzahl der
Studierenden der juristischen Fakultäten, die kein Staatsexa¬men ablegen, weiter erhöht, wird der Juristenstand sich nicht mehr aus dem Referendariat bestimmen können ). Man wird dann vielleicht den Ausdruck „Stand" aufgeben müssen, um klar zu sagen, dass der Zustand von Juristen, in Deutschland wie in anderen Ländern, auf relationale und nicht auf be-rufsbezogene Weise bestimmt ist. Innerhalb des juristischen Feldes werden die Fachleute als Juristen betrachtet, die andere als Juristen ansehen. Diese gegenseitige Anerkennung verträgt sich ohne Weiteres mit einer starken Ri-valität unter den Juristen.
Die gegenwärtige Gestalt des deutschen juristischen Feldes scheint mir charakterisiert zu sein durch eine numerische Vorherrschaft der 163.000 Rechtsanwälte, eine starke rechtschöpferische Macht der 25.000 Richter (und Staatsanwälte) und einen abnehmenden Einfluss der circa 1.000 Rechtpro- fessoren ). Ist das ein Abschied von Savigny? Wahrscheinlich ist es das für die Herrschaft der Rechtwissenschaft und die Homogenität der juristischen Berufsgruppen, aber nicht für die spezifische Besonderheit der Bildung der deutschen Juristen.

Der Juristenstand als Gegenstand.odt

Der Juristenstand als Gegenstand.pdf